Vierundzwanzig Industrielle waren es, die am 20. Februar
1933 von Hitler zur Kasse gebeten wurden, um die letzte Phase des
Wahlkampfs der Nationalsozialisten zu finanzieren. Keiner muckte auf,
alle entrichteten ihren Obolus, war ihnen doch die Befreiung vom Übel
des Kommunismus versprochen worden, die Abschaffung der Gewerkschaften
und das uneingeschränkte Führertum im eigenen Unternehmen. Die besten
Prämissen für gesicherten Gewinn, und das über Jahrzehnte.
Mit Österreich verfuhr Hitler anders als mit dem Klerus
der Großindustrie, er setzte Bundekanzler Schuschnigg massiv unter
Druck. Aber letztendlich reagierte dieser ähnlich: Er beugte sich dem
Bluff. Der Triumph des rätselhaften Respekts vor der Lüge, das ist es,
was Vuillard hier seziert, der Triumph der Machenschaften über die
Tatsachen. Mit diesem literarischen Meisterwerk gewann der Autor in
Frankreich die höchste literarische Auszeichnung, den Prix Goncourt.
Neben der ihm entgegengebrachten Wertschätzung ist ihm auch
Überheblichkeit vorgeworfen worden. Nun, Satire arbeitet mit gespitztem
Bleistift. Und natürlich ist es leichter, aus der Distanz von
Jahrzehnten darüber zu urteilen, wie dilettantisch Hitlers erste
Schritte in der Politik de facto waren, wie leicht die Industrie und die
anderen Großmächte seinen politischen Parolen auf den Leim gingen. Aber
spätestens jetzt müssten im Publikum die Alarmglocken läuten. Warum?
„Man stürzt nicht zweimal in denselben Abgrund. Aber man stürzt immer
auf dieselbe Weise, in einer Mischung aus Lächerlichkeit und Entsetzen.“
Wenn Geschichte so erzählt wird, wie Vuillard zu erzählen
vermag, begreift man das ganze Ausmaß ihrer Ungeheuerlichkeit. Und das
gilt für gestern wie auch für heute. „Die größten Katastrophen kommen
oft auf leisen Sohlen.“ Das sollte uns zu denken geben.
„Als ich klein war, beobachtete ich, wie meine Mutter vor
jeder Begegnung mit ihrer Familie Haltung annahm, sich vorbereitete –
ich sah den strengen Blick, mit dem sie sich im Spiegel musterte, und
den Lippenstift, den sie wie eine Rüstung auftrug.“
Nadja Spiegelman macht sich auf den Weg in die
Vergangenheit. Will verstehen, wer oder was die Beziehung ihrer Mutter
zu deren Mutter belastet hat. Will wissen, was damals geschehen ist, und
ist damit auch auf der Suche nach Antworten für ihre eigene Kindheit.
Dafür verlässt sie ihr geliebtes New York, begibt sich
auf die Reise zu ihrer französischen Großmutter nach Paris. Von der noch
rüstigen älteren Dame wird sie mit offenen Armen aufgenommen. Nadja
trifft auf eine ungewöhnlich willensstarke Frau. Josée, ihre
„Grand-mére“, wie sie allerdings nicht genannt werden will, lebt seit
ihrer Scheidung alleine auf einem Hausboot und genießt dort ein von
Männern befreites, selbstbestimmtes Leben. Behutsam baut sich eine
intensive Beziehung der beiden auf. Mit klugen, einfühlsamen Fragen
dringt Nadja mehr und mehr in längst vergessene Erinnerungsschichten
ihrer Großmutter vor. Schaut und hört genau hin. Das bleibt
selbstverständlich nicht ohne Wirkung auf ihr eigenes Empfinden und
Selbstbildnis. Hilft es, das Verhalten ihrer eigenen Mutter besser zu
verstehen?
Eine gemeinsame Reise der drei Frauen wird geplant und
realisiert. Viele schöne und weniger schöne Erinnerungen kommen dabei an
die Oberfläche. Nicht alle stimmen auch überein, es gibt eben nicht nur
die eine Wahrheit. Dennoch, es ist ein Weg, das Verhalten, die
Persönlichkeit der anderen zu verstehen. Schmerz, Verletzungen,
Übergriffe haben sich tief in die Seelen eingegraben. Auch wenn einiges
weiterhin im Dunkeln bleibt oder bleiben soll, verändern die Gespräche
das Leben und Miteinander dieser drei Frauen. Erzählend, zuhörend,
verstehend finden sie mehr als nur eine versöhnliche Annäherung
zueinander.
„Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts
verstanden, aber es kann nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“
Sören Kierkegaard
Drei Frauen, drei Generationen, drei Leben. Nadja
Spiegelman hat daraus ein fantastisch authentisches Buch gemacht. Soviel
Lebensweisheit würde man bei einer Autorin, die gerade mal 30 Jahre alt
ist, niemals vermuten. Eine unglaublich talentierte Erzählerin hat hier
ihren Debütroman vorgelegt. Eines der besten Bücher zum Thema
Großmutter-Mutter-Tochter-Beziehung.
Prismen – Institut für Sozialforschung bei Marx & Co
Peter Wagners Essay Fortschritt greift ein in eine Situation des Zukunftspessimismus und der gesellschaftlichen Orientierungslosigkeit. Er erinnert an die Erwartung der beginnenden Moderne, mit der Freisetzung der Vernunft aus Bevormundung und Willkür seien die Bedingungen geschaffen für kontinuierliche Fortschritte in allen Bereichen des menschlichen Lebens. Diese Idee eines allgemeinen historischen Fortschritts der Menschheit ist uns gründlich abhandengekommen. Während die einen der Meinung sind, mit der Herausbildung der liberalen Demokratie habe sich das Versprechen des menschheitlichen Fortschritts im Grunde erfüllt, blicken andere auf drohende ökologische Katastrophen sowie das Fortbestehen von Krieg und Gewalt, Armut und Ungleichheit, Ausbeutung und Unterdrückung. Wenn es überhaupt noch so etwas wie Fortschritt geben könne, dann liege er in der Vermeidung von Rückschritten. Peter Wagner plädiert nicht für eine Rückkehr zur geschichtsphilosophisch aufgeladenen Fortschrittsidee des 18. und 19. Jahrhunderts. Nicht nur realhistorische Erfahrungen haben sie unwiderruflich diskreditiert, sondern auch die ihr inhärente raumzeitliche Hierarchie zwischen denen, die als fortschrittlich gelten, und jenen, die als überholt oder rückständig und modernisierungsbedürftig dastehen. Vielmehr greift Wagner die postkolonialen, rassismuskritischen und feministischen Einwände gegen das Fortschrittsnarrativ auf und fragt, ob und wie sich aus der Analyse vergangener und gegenwärtiger sozialer Kämpfe Elemente eines ermutigenden Begriffs von Fortschritt rekonstruieren lassen, der unser Handeln erneut motivieren und aus der Sackgasse vermeintlicher Alternativlosigkeit herausführen könnte.
Peter Wagner ist ICREA Forschungsprofessor am Institut für Soziologie an der Universität von Barcelona; am Institut für Sozialforschung ist er Mitglied des Internationalen Wissenschaftlichen Beirats. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen: Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin (Frankfurt a. M. und New York: Campus 1995); Moderne als Erfahrung und Interpretation. Eine neue Soziologie zur Moderne (Konstanz: UVK 2009); (zusammen mit Bo Stråth) European Modernity. A Global Approach (London: Bloomsbury Academic 2017).
Axel Honneth ist Direktor des Instituts für Sozialforschung und Jack C. Weinstein Professor of the Humanities an der Columbia University, New York. Er ist Autor von Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992); Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit (Berlin: Suhrkamp 2011); Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung (Berlin: Suhrkamp 2015).
Peter Wagners Buch Fortschritt. Zur Erneuerung einer Idee ist 2018 in der Schriftenreihe des IfS »Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie« beim Campus Verlag erschienen.
Vintage, Retro, „shabby chic“, aus den Nähten platzende Flohmärkte und prächtig florierende Second Hand Läden.
Geschichten fügen den profanen Dingen des Alltags etwas
hinzu, verleihen ihnen einen ganz besonderen Wert. Das war schon immer
so und ist auch heute überall zu besichtigen: Der Schuhschrank aus den
50ern, das Grammophon aus den 20ern, die Schelllackplatte. Das alles
wird von einer wildromantischen Aura umweht, das alles sind neckische
Zitate einer Vergangenheit, die jetzt die eigene Individualität krönen
sollen. Geschichte, zur Story verknappt, als Verkaufsargument: Alt ist
sexy, „Vintage“ füllt die Kassen.
Sânziana Stipiuc, 35, von Beruf Buchhalterin, bekommt
eines Tages von ihrem Chef einen ganz besonderen Auftrag: Sie ist die
einzige, die englisch spricht und darum als einzige qualifiziert, die
amerikanischen Juden zu empfangen, die aus geschäftlichen Gründen in die
Stadt kommen. Sânziana fügt sich der Anweisung ihres Vorgesetzten und
lernt so Mutter und Sohn Bernstein kennen, die ein Vermögen mit dem
Handel von Secondhand-Klamotten gemacht haben. Nach ein paar Tagen ist
klar: Sânziana war die längste Zeit Buchhalterin, wird fürderhin in
Amerika an der Seite von Ben Bernstein und unter dem
schwiegermütterlichen Regiment Dora Bernsteins leben und vor allem nicht
länger Sânziana Stipiuc, sondern Suzy Bernstein heißen.
In Amerika angekommen, entwickelt sich Suzy schnell zu
einer taffen Geschäftsfrau, die das Geschäft mit den Klamotten mit
„Story“ aus dem Effeff beherrscht. Sie vergisst auch ihre eigene arme
rumänische Familie nicht, bedenkt sie mit lukrativen Posten in der
frisch eröffneten Dependance in Rumänien – sie kümmert sich nach
Kräften, singt zähneknirschend das Hohelied des Kapitalismus.
Trotz des Erfolges steht für Suzy allerdings nichts zum
Besten: Das Land jenseits des Ozeans, die neue jüdische Identität und
die neue Tätigkeit stellen die Perspektive auf die Dinge auf den Kopf:
Suzy taucht in die Geschichte der Familie Bernstein ein, beginnt, sich
gewissermaßen rückwärts durch die Zeit zu bewegen, um schließlich beim
29. Juni 1941 anzulangen, jenem Schreckenstag, an dem der lange
angestaute und staatlich forcierte Antisemitismus in Rumänien zum
Massaker von Iasi führte. Jenes Datum, das das finstere
Gravitationszentrum des Buches bildet, der Ort, an dem sich
Vergangenheit und Zukunft treffen.
Cātālin Mihuleac lässt den Leser Suzy Bernstein über die
Schulter schauen. In schnoddrig-schöner Sprache, die mit
rasiermesserscharfen Bildern daherkommt und sich meisterhaft darauf
versteht, Lacher zu provozieren, die schon im nächsten Augenblick jäh in
der Kehle stecken bleiben, erkundet er, Suzy als zornige Erzählerin
vorgeschaltet, die Geschichte des rumänischen Antisemitismus, die auch
die Geschichte der rumänischen Juden ist.
Dabei lässt er Suzy einerseits von ihrer Recherche-Reise
durch die Zeit erzählen. Andererseits lässt er sie die fiktive
Familiengeschichte der wohlhabenden jüdischen Familie Oxenberg aus Iasi
dokumentieren, die unter den antisemitischen Repressionen und
Übergriffen des pro-faschistischen Regimes leidet und schließlich an
eben jenem verhängnisvollen Tag im Juni 1941 zerrissen wird.
Alles hat eine Geschichte. Geschichte ist aber etwas
anderes als eine „Story“. Geschichte ist nicht immer dazu angetan, einen
Gegenstand wertsteigernd zu veredeln. Vielmehr enthüllt sie mitunter
dunkle Flecken, die wiederum eine nette Story verderben können.
„Die Historiografie zerschlägt in der nationalen Vitrine
wertvolle Kristallgefäße. Der Patriotismus, entworfen, um ewig zu
strahlen, wird zu Blech.“
Mihuleacs Buch Oxenberg & Bernstein, das
bereits 2014 in Rumänien erschienen ist, ist eine zornige Zeitkritik,
eine enthüllende Halbfiktion, die mit Bedacht und Akkuratesse die
historischen Fakten des rumänischen, des europäischen Antisemitismus zu
einer grandiosen, aber beißend-ungemütlichen Erzählung arrangiert, die
tief unter die Haut geht.
Johannes Fischer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt
Der Titel des Nachworts der Herausgeberin und Illustratorin dieser Anthologie, Julia Kissina, klingt vermessen: „Goodbye Dostojewski“. Nein, diese Anthologie macht den Meister sicher nicht obsolet. Gemeint ist aber etwas anderes: Die Anthologie Revolution Noir. Autoren der russischen „Neuen Welle“ fügt den bestehenden Bildern über Russland neue hinzu, indem hier Erzählungen erstmals in deutscher Sprache erscheinen oder überhaupt zum ersten Mal publiziert werden.
Wenn man einige der Erzählungen, die als manieriert und geschwätzig kaum in Erinnerung bleiben, auch beiseitelassen kann, heißt das nur mehr Aufmerksamkeit für die wenigen großartigen Beispiele, die Erstere wieder aufwiegen. Besonders schön ist „Die Reise des Lukas“ (1992) von Wassili Kondratjew, in der ein Mann an einem verlassenen Bahnhof aus dem Zug steigt und sich in der Wildnis verliert. Fantastisch grotesk und dabei fast naturalistisch in der Schilderung beengter Wohnverhältnisse in einer Kommunalwohnung ist die Erzählung „Der Sprung in den Sarg“ von Juri Mamlejew über eine alte Dame, die zwar todkrank ist, aber nicht sterben kann. Ihre Verwandten beklagen, die Pflege bringe sie noch ins Grab, und überreden die Kranke deshalb dazu, ihrerseits freiwillig ins Grab zu steigen.
In Erinnerung bleibt die Geschichte vom „Menschenfresser-Flugzeug“ von Pavel Pepperstein, der den Zweikampf zwischen einem Giftmischer und dem Menschenfresser-Flugzeug irgendwo in der Luft zwischen London und Reykjavík erzählt. Sorokin kommt, wie kann es auch anders sein, in seiner Erzählung „Asche“ wieder laut und gewaltig mit spritzenden Eiterbeulen und menschenfressenden Gourmands daher, und mit einem klaren Sieg über den Nationalismus im heutigen Russland. In „Zweckmäßigkeit“ von Alexej Parschtschikow wird die Arbeit eines Absamers geschildert und dabei in zarte Transzendenz gehüllt, die so gar nicht zu dem scheinbar derben Beruf passen will. Blut, Eiter, Stiersperma –alles ist so explizit und extrem geschildert, wie es sich für eine Avantgarde gehört. Aber die wohl extremste Erzählung des Bandes ist die, in der Kafka als sorgenfreies Familienoberhaupt Mitte fünfzig portraitiert wird. Zufrieden mit seinem geleisteten schriftstellerischen Tagwerk genießt er die deftigen Speisen seiner Gattin und schaukelt seine kleine Enkelin auf den Knien.
Beinahe ebenso spannend wie die Erzählungen sind die Kurzinformationen über die Autoren und Autorinnen am Ende des Bandes. Ihre Biografien spiegeln die ereignisreichen Jahre nach dem Ende des sowjetischen 20. Jahrhunderts wider und die Versuche, mit Emigration und subversiver künstlerischer Tätigkeit die Zensur und Verfolgung zu umgehen.
In ihrem Nachwort erklärt Kissina auch den Titel der Anthologie. Drei Avantgarden habe es in Russland gegeben, und alle hätten auf ihre Weise auf revolutionäre gesellschaftliche Umschwünge reagiert: die erste Avantgarde, auch klassische Avantgarde, genannt, suchte in den 1920er Jahren ihre Stellung zwischen revolutionärem Kampf und individuellem künstlerischem Ausdruck. Die zweite Avantgarde, dann sei mit der Tauwetter-Periode ab 1956 verbunden. In der vorliegenden Anthologie finden sich nun Vertreter der sogenannten dritten Avantgarde zusammen, die allesamt die Jahre der Perestroika künstlerisch mit verfolgten und – soweit es ihnen möglich war – künstlerisch mitgestalteten. „Noir“ ist eine besondere Ausformung des künstlerischen Ausdrucks in den 1980er Jahren – eine fröhlich-groteske, morbide Antwort auf den schon seit langem schal gewordenen sozialistischen Optimismus. Brandneu ist diese „neue Welle“ also nicht mehr. Umso besser, dass ihre Vertreter endlich in deutscher Sprache vorliegen.
Moritz und Raffael haben eine gemeinsame Geschichte voll
dunkler Geheimnisse. Ihre Freundschaft beginnt 1986 in Hallein am
Dürnberg, sie endet 2017 mit Raffaels Besuch bei Moritz; 16 Jahre haben
sie sich da nicht gesehen. Johanna, die im letzten Schuljahr zu den
beiden stieß und von dem Moment an nicht mehr von der Seite der Freunde
wich, wird das Dreieck nach 16 Jahren mit allen Wunden und Gefahren der
Vergangenheit wiederbeleben. In ihrem Romandebüt zeichnet Mareike
Fallwickl in wirkungsvollen Kontrasten Menschen, die über Jahre
Gefangene ihrer selbst und überkommener gesellschaftlicher Muster sind,
bis der Knoten endlich doch zerschlagen wird.
Er steht eines Abends vor Moritz‘ Tür, in der Hand einen
Koffer: Raffael, alter Freund aus Kindertagen, Frauenschwarm immer
schon, auch bei Moritz hochschwangerer Freundin Kristin zaubert er aus
dem Nichts ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Doch Kristin durchschaut Raffael schon nach wenigen Tagen
und bittet, fordert, fleht Moritz an, sich und sie und ihr gemeinsames
Kind zu retten: Vor der Vergangenheit, die mit Raffaels Besuch wieder
hochkocht, und vor der Wendung, die Moritz‘ Leben in der Hand von
Raffael nehmen könnte.
Moritz, der Zaghafte, Weiche, künstlerisch Begabte, der
die Aura der Menschen sehen kann – er verliert sich selbst immer noch in
Raffaels Gegenwart. Dessen Abgebrühtheit war schon in Kindergartentagen
maßlos, Raffael quälte jeden und jede, körperlich, seelisch, übertrat
seine Grenzen, meist zum Schaden der anderen. Für Johanna, die ihre
Eltern mit 17 durch einen Autounfall verloren hatte, war und ist der
unnahbare Raffael die Herausforderung ihres Lebens.
Erzählt wird die Geschichte der drei Jugendlichen von
Moritz, seiner Mutter Marie und von Johanna, und auch diese
Konstellation der Erzählenden birgt mehr als nur ein Geheimnis. Am Ende
wird sich für alle etwas ändern, werden sich die Farben neu mischen und
jeder wird die Chance bekommen, etwas längst Vergessenes
wiederzuentdecken.
Friederike Boll, Franziska Dübgen und Frank Wilde im Gespräch mit Felix Trautmann
Montag, 23. April 2018, 20 Uhr
Prismen – Institut für Sozialforschung bei Marx & Co
Das Gefängnis gilt als negatives Spiegelbild der Gesellschaft. Wer dort einsitzt, hat eine Tat begangen, die gesellschaftlich inakzeptabel ist und entsprechend sanktioniert wird. Bei genauerer Betrachtung der Gefängnispopulation zeigt sich jedoch auch, dass die gesellschaftliche Strafpraxis bestimmte Bevölkerungsschichten in besonderer Weise kriminalisiert und dem Gefängnis aussetzt. Einen entscheidenden Faktor stellt dabei die soziale Lage dar. Armut treibt die Menschen zwar nicht notwendig in die Kriminalität, doch kann durchaus behauptet werden, dass das Gefängnis bestehende soziale Ungleichheiten reproduziert und verstärkt. Um die verhängnisvollen Wechselbeziehungen von Armut und Gefängnis zu begreifen, müssen die strafrechtspolitischen, sozialen und ökonomischen Dynamiken in einem größeren Zusammenhang und über die Mauern des Gefängnisses hinaus betrachtet werden. In der Zusammenschau von Sozialstruktur und Strafpraxis, wie sie von Otto Kirchheimer und Georg Rusche bereits in den 1920er Jahren vorgeschlagen wurde, erweisen sich die Forderungen nach schärferen Strafen zur besseren Verbrechensbekämpfung als genauso verfehlt wie die aktuelle Diskussion über das »hohe Niveau« der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland. Die Frage, wie Gesellschaften mit Kriminalität umgehen sollten, kann ohne den Verweis auf die armutsverschärfende Wirkung der gegenwärtigen Strafpraxis nicht mehr angemessen diskutiert werden.
Hintergrund des Gesprächs bildet der Themenschwerpunkt »Armut und Gefängnis« (hg. von Il-Tschung Lim, Daniel Loick, Nadine Marquardt und Felix Trautmann) in WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2/2017.
Friederike Boll hat Rechtswissenschaften in Frankfurt und Wien studiert und arbeitet derzeit in Frankfurt als Anwältin im Arbeitsrecht, Antidiskriminierungsrecht und LGBTIQ-Personenstandsrecht. Sie ist darüber hinaus aktives Mitglied in der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ), dem bundesweiten Netzwerk kritischer Juristen (kritjur) und in verschiedenen queeren Kontexten.
Franziska Dübgen lehrt am Institut für Kulturwissenschaft der Universität Koblenz-Landau und ist dort Ko-Leiterin des Forschungsprojekts »Diversität, Macht und Gerechtigkeit«. Promoviert hat sie mit einer Arbeit über zeitgenössische Gerechtigkeitstheorien der Kritischen Theorie im Spiegel postkolonialer Ansätze. Von 2015 bis 2017 war sie Leiterin der Nachwuchsforschungsgruppe »Jenseits einer Politik des Strafens« an der Universität Kassel. Für den Junius-Verlag verfasste sie eine Einführung zu Theorien der Strafe.
Felix Trautmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung. Aktuell arbeitet er in einem Forschungsprojekt mit dem Titel »Paradoxien der Gleichheit. Die Demokratie und ihre Kulturindustrie«. Darüber hinaus ist er Mitglied von KNAS[ ], der Initiative für den Rückbau von Gefängnissen.
Frank Wilde arbeitet als Sozialpädagoge in verschiedenen Arbeitsbereichen der freien Straffälligen- und Wohnungslosenhilfe in Berlin. Aktuell ist er Projektleiter beim Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg in einem Beratungsangebot für ältere Strafgefangene. 2016 ist seine Dissertation Armut und Strafe. Zur strafverschärfenden Wirkung von Armut im deutschen Strafrecht (Springer VS-Verlag) erschienen.
Kairo 2011:
Endlich dämmerte da am verfinsterten Firmament die große Freiheit
herauf. Endlich erhoben sich die Jungen, Progressiven, Utopisten, die
Betrogenen und die Geschundenen, um für ihre Rechte zu kämpfen.
Das Internet half, das marode System Mubaraks zu stürzen.
Facebook, Twitter, YouTube: Supranationale Verteiler, Katalysatoren der
großen Revolution, die die Stimmen von Millionen Menschen zu einem
wütenden Chor zusammenfassten, der das autoritäre System in den Orkus
twitterte.
Für wenige Momente in der Geschichte des Landes schien
sich all das zu einem drehbuchreifen Narrativ zu fügen. Ein Happy-End
deutete sich an. Und ein weiter Raum öffnete sich, in dem alles möglich
schien: „Ja, Kairo ist Jazz. Kein Lounge-Jazz, der die Geschichte weißen
will, sondern die Hitze von New Orleans und die Schlachthofabfälle von
Chicago. Der Jazz, der Schönheit in der Zerstörung der Vergangenheit
hervorbringt, der Jazz einer unbekannten Zukunft, der Jazz, der Freiheit
von der schlimmen, alten Zeit verspricht.“
Omar Robert Hamilton erzählt die Geschichte dreier junger
Menschen, die sich, als die Proteste auf dem Tahrir-Platz anheben, zu
einem Medienkollektiv zusammenfinden, um für ihre Idee von Ägypten zu
kämpfen.
Wütend, idealistisch und voller Elan werfen sich das
junge Paar Khalil und Mariam und ihr Freund Hafez in den Kampf. Sie
filmen, fotografieren, besprechen sich mit anderen Aktivisten,
organisieren Protestgruppen und hauen eingekerkerte Revolutionäre aus
den Gefängnissen des Regimes heraus. Sie sind intelligent und wissen die
internationale Öffentlichkeit des Internets für sich zu nutzen. Sie
schonen sich nicht, und die Energie scheint grenzenlos zu sein. Doch
wieder und wieder wird das Durchhaltevermögen, werden die Ideale der
jungen Leute durch die politischen Machtverschiebungen erschüttert: Auf
Mubarak folgt Mursi, auf Mursi Feldmarschall as-Sisi, und allen ist
gemein, dass sie gemeinsame Sache mit Polizei und Militär machen und
dass sie keinerlei Skrupel haben, Gegenstimmen mit äußerster Brutalität
zum Schweigen zu bringen.
Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass die politischen
und gesellschaftlichen Realitäten von Kräften bestimmt werden, die im
Verborgenen zu operieren scheinen, unberührt von den Protesten des
Volkes. Die Sinnfrage beginnt, die anfängliche Euphorie und die kleinen
Triumphe über Mubarak und den Polizeiapparat anzukränkeln, das Vertrauen
in die Kraft der Medien erodiert, und schließlich droht auch das
Kollektiv – und nicht zuletzt die Beziehung zwischen Khalil und Mariam –
an der um sich greifenden Resignation zu zerbrechen. „Ich erinnere mich
an eine Zeit, in der ich, von jeder Kleinigkeit, jeder
Zukunftsmöglichkeit in Ekstase versetzt, durch die Straßen lief. Alles,
was ich jetzt noch sehe, sind seelenlose Neonröhren und sterbende Tiere
und zersplitterte Fenster in bröckelnden Gebäuden und unausweichliche
Erinnerungen, die diese schweflige Stadt unserer Toten ausmachen,
unserer Mega-Nekropole des Scheiterns.“
Stadt der Rebellion ist ein Buch, das die
faktischen Ereignisse der ägyptischen Revolution mit einer fiktiven
Geschichte verzahnt und auf diesem Weg einen Einblick in die Dynamik der
Protestbewegung gewährt. In prägnanten Bildern werden die Gräuel der
Straßenschlachten, die unermessliche Trauer der Eltern, deren Söhne und
Töchter bei den Zusammenstößen ihr Leben ließen, die Verwirrungen über
die politischen Umwälzungen und die Gedankenwelt jugendlicher
Revolutionäre geschildert. Dabei bedient sich Hamilton mal des
elegischen Monologs, mal der Schilderung hitziger Diskussionen und immer
wieder der Kürzestform von Tweets, SMS und
Nachrichten, um eine dichte, bedrückende, aber mitreißende Atmosphäre zu
schaffen, die glanzvoll die Stimmung zwischen großer Hoffnung, bitterer
Resignation und abgeklärter Nüchternheit wiedergibt.
Dieser Roman ist nicht zuletzt die große Erzählung einer
im jugendlichen Feuer geborenen Utopie, die durch die harten und
unerbittlichen Realitäten politischen Machtmissbrauchs und staatlicher
Willkür zu einer unverwüstlichen Idee, einer eisernen Hoffnung wird, für
die es sich zu kämpfen lohnt.
Johannes Fischer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt
In den
kleinen, abgelegenen irischen Ort Cloonoila, der schon mal bessere Tage
gesehen hat, kommt ein Fremder. Eine beeindruckende Erscheinung,
hochgewachsen, grauhaarig, höflich, gebildet, zurückhaltend. Er wolle
sich in dem Ort als Heiler und Sexualtherapeut niederlassen, sagt er.
Der Fremde nennt sich Dr. Vladimir Dragan, stammt aus Montenegro und
ist, wie der Leser bald erfährt, ein gesuchter Kriegsverbrecher, in dem
man unschwer Radovan Karadžić erkennen kann.
Die ahnungslosen Bewohner, besonders die Frauen, sind
beeindruckt. Nach und nach geraten alle in seinen Bann. Besonders
Fidelma, die in ihrer kinderlos gebliebenen Ehe mit einem älteren Mann
unglücklich ist, erliegt Dr. Vlads Charisma, beginnt ein Verhältnis mit
ihm und wird schwanger – was in einer so kleinen Gemeinde, trotz aller
Vorsicht, nicht unbemerkt bleibt. Eines Tages sind die Reifen von Dr.
Vlads Auto zerstochen, die Scheiben eingeschlagen, und auf dem Pflaster
findet sich eine obszöne Schmiererei. Bald darauf kommt die Polizei und
verhaftet Vlad, und an Fidelmas Tür klingeln drei finstere Gestalten.
Danach wird nichts in ihrem Leben so sein wie vorher …
Im zweiten Teil des Buches lebt Fidelma in London. Ihr
Kind hat sie verloren, ihr Mann hat sie verstoßen. Sie hat keine feste
Bleibe und schlägt sich mit einem schlecht bezahlten, unsicheren Putzjob
durch. Die Menschen in ihrer Umgebung sind zumeist Migranten und
Illegale, Menschen, die in ihren Herkunftsländern oder auf der Flucht
Entsetzliches erlebt haben und die oft nicht wissen, wie es in ihrem
Leben weiter gehen soll. Hier, ganz unten angekommen, unter diesen
Menschen, findet Fidelma wieder zu sich.
Im Dritten Teil fährt sie nach Den Haag, wo Dr. Vlad am
internationalen Gerichtshof der Prozess gemacht wird. Bei einem
Besuchstermin im Gefängnis versucht sie zu erzählen, was sie erlebt hat.
Aber ihr Gegenüber hört nicht zu. In einer grandiosen Szene zeigt die
Autorin einen Menschen, der völlig uneinsichtig in die eigene Schuld ist
und sich in seiner Selbstbezogenheit als Opfer begreift.
Edna O’Brien, die große alte Dame der irischen Literatur, hat mit Die kleinen roten Stühle
ein beeindruckendes und verstörendes Buch geschrieben. Was im ersten
Teil wie das Klischee einer pittoresken irischen Idylle voller skurriler
Typen beginnt, geht binnen kurzem weit über das Private hinaus und
weitet sich zu einem gesellschaftlichen und politischen Panorama. Das
Buch erzählt mit großer sprachlicher Kraft von Liebe und Sehnsucht, von
Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit, von gesellschaftlichen Zuständen,
in denen der Einzelne nichts zählt, und von Zufallsgemeinschaften, in
denen es Wärme und Solidarität gibt. Das ist ganz große Literatur und
unbedingt empfehlenswert.
Für eine afroamerikanische Familie, die in Armut an der
Golfküste von Mississippi lebt, ist es schwer, sich die Welt zum Freund
zu machen. Aber die Großeltern des 13-jährigen Jojo und seiner kleinen
Schwester Kayla tun alles, um ihre Enkel für das Leben in einer immer
noch in Schwarz und Weiß gespaltenen Gesellschaft zu stärken. Ein
bildmächtiger Familienroman, der zugleich ein eindringliches Porträt des
amerikanischen Süden zeichnet: große Literatur!
An seinem 13. Geburtstag steht Jojo in aller Frühe mit
dem Großvater auf. Sie treten gemeinsam in den kalten, windigen Morgen,
lassen das selbst gebaute Haus hinter sich, gehen hin zu den Ställen auf
der Lichtung, zu den Tieren. Der Junge weiß, was sein Großvater vorhat.
Ein Bock wird zu Ehren des Enkels an diesem Tag sein Leben lassen, und
Jojo will dem Großvater zeigen, dass er des Geschenks würdig ist. Er
hilft ihm, die Ziege zu schlachten, von innen nach außen zu kehren, die
Haut abzuziehen. Irgendwann ist der Gestank dann doch zu mächtig, und
Jojo flieht aus dem Schuppen.
Am gleichen Tag ruft Jojos weißer Vater an, nicht um
seinem Sohn zum Geburtstag zu gratulieren, sondern um Leonie, seine
Frau, und die Kinder zu seiner Freilassung aus dem staatlichen Zuchthaus
einzubestellen. Die Fahrt wird eine Tour de force, das zunächst
unterschwellige Unbehagen zur konkreten Bedrohung. Und trotzdem siegt am
Ende die Hoffnung.
Es sind drei, die diese Geschichte erzählen: die Mutter,
der Sohn und ein Junge, der schon lange tot ist und keinen Frieden
findet. In ihrer Sprache, in ihren Gedanken wird Vergangenheit und
Gegenwart, wird die harte Wirklichkeit, die trockene rote Erde, wird Tod
und Verachtung, wird aber auch die übergroße Liebe, die Poesie der
Natur und ihre archaische Botschaft so lebendig, dass man sich dem
Gesang nicht entziehen kann. In diesem Roman fließen Bilder und Sprache –
einer Infusion gleich – auf direktem Weg in Körper, Geist, Herz.
Überwältigend!
Im Oktober 2017 ist die zweite Ausgabe der Zeitschrift Jalta – Positionen zur Jüdischen Gegenwart mit dem Themenschwerpunkt „Desintegration“ erschienen. Die jüdischen und nicht-jüdischen Autor*innen erkunden die Potentiale einer Gesellschaft der Vielen, die sich über die Vorstellung einer auf Einheit basierenden Gemeinschaft hinwegsetzt.
Zwei der Herausgeber*innen, Micha Brumlik und Hannah Peaceman, stellen Jalta im Kontext der politischen Verhältnisse nach der Bundestagswahl sowie dem Erstarken rechter und faschistoider Bewegungen vor. Sie verorten die Beiträge zur jüdischen Gegenwart und diskutieren vergangene und gegenwärtige Interventionsmöglichkeiten jüdisch-postmigrantischer Allianzen.
Hannah Peaceman studierte Philosophie, Politikwissenschaften und Gender Studies in Marburg, London, Frankfurt und Jena. Sie promoviert am Max-Weber-Kolleg in Erfurt. Von 2010 bis 2016 war sie Stipendiatin des Ernst-Ludwig-Ehrlich Studienwerks (ELES).
Micha Brumlik ist emeritierter Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main. Von 2000 bis 2005 war er Leiter des Fritz Bauer Instituts. Seit 2013 ist er Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin/Brandenburg in Berlin.
Karen Körber, promovierte Soziologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg. 2012-14 war sie die erste Fellow am jüdischen Museum Berlin. Forschung und Publikationen zu jüdischer Diaspora, Migration und Transnationalisierung.
Die Haushaltshilfe des Vaters ruft an, er ist gestorben. Gerade mal vier Wochen später kommt der Anruf aus dem Altersheim, in dem die Mutter die letzten Jahre verbrachte. Überraschend ist auch sie gestorben.
Beim Sichten der Hinterlassenschaften findet der Sohn Fotos, tauchen Erinnerungen auf. Scheinbar distanziert, fast kriminologisch genau schaut er zurück und betrachtet die Spuren des Lebens dieses einstmals so schönen Paares.
Seine Betroffenheit wird deutlich in der Beharrlichkeit, mit der er der Geschichte seiner Eltern nachgeht. Ihre Liebesgeschichte hatte trotz des Krieges verheißungsvoll begonnen. Aber dann hatten sich die Eltern bald, nachdem sie in den Westen gekommen waren, getrennt. Er, der Junge, war bei Georg, dem Vater, geblieben. Die Mutter, Herta, war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Wann hatte das Unglück angefangen? 1956 nach dem Aufstand in Ungarn hatten die Eltern beschlossen, in den Westen zu gehen, solange es noch ging, und alles Erreichte, Freunde und Familie zu verlassen, um noch einmal von vorne zu beginnen. Während Georg vorausfuhr, setzte Herta das Ersparte in eine Kamera um. Denn die könne man bestimmt im Westen gut wieder verkaufen, so zumindest der Plan.
Der Neubeginn war schwierig. Und der Verkauf der Ostkamera im Westen stellte sich als unmöglich heraus. Um Herta zu demonstrieren, dass sie keinen Fehler gemacht hatte, der Kauf der Kamera doch richtig gewesen war, „lieh“ Georg sich, heimlich, wie er sich wohl dachte, das Geld von seiner Firma. Nun war die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten.
Der Vater wurde zwar in der Öffentlichkeit rehabilitiert. Aber Georg und Herta waren, um sich gegenseitig zu schützen, beide aus Liebe schuldig geworden. Gleichzeitig aber hatten sie sich damit auch der gegenseitigen Verachtung ausgesetzt. So konnten sie nicht mehr zusammenleben, konnten sich nur noch trennen. Und wie lebt es sich ohne den geliebten Menschen? Die Geschichte des schönen Paares ist eine Geschichte über den Verlust der Vorstellung eines möglichen Gelingens.
Gert Loschütz beschreibt hier akribisch die sichtbare Oberfläche eines funktionierenden Alltags, auf der sich die Strudel im Untergrund doch abzeichnen. Der Roman bezieht seine Spannung aus der Tiefenwahrnehmung und ihrer Spiegelung an der Oberfläche sowie ihrer Darstellung in einer genauen und schnörkellosen Sprache. Meisterhaft!