Nachrichten aus dem gelobten Land – Die Briefe der Anuta Sakheim

weissbooks, 14.- €

Buchvorstellung und Lesung

Montag, 5. Februar 2018, 20 Uhr

Lesung der Briefe: Alice von Lindenau

Einführung: Prof. DW Dreysse, Architekt und Mitglied der Initiative 9. November

Im April 1933 flieht die junge Frankfurter Witwe Anuta Sakheim mit ihrem kleinen Sohn Ruben nach Palästina. Im fremden Land, dessen Sprache sie nicht spricht, kauft sie von ihrem letzten Geld ein Auto – und verdient als erste Taxifahrerin in Tel Aviv ihren Lebensunterhalt. Zeit für Ruben bleibt ihr kaum. Um schließlich dem inzwischen Fünfzehnjährigen eine Zukunft zu ermöglichen, schickt sie ihn schweren Herzens 1938 zu ihrer Schwägerin nach New York. Es wird ein Abschied für immer. Einsam und mittellos nimmt sich Anuta Sakheim im Juli 1939 das Leben.

Ihr Sohn, heute 94 Jahre alt, schreibt: „Wenn wir in Deutschland geblieben wären, wäre ich 1943 zwanzig Jahre alt gewesen. Das war gerade das richtige Alter, um in ein KZ wie Auschwitz geschickt zu werden. Dieses Schicksal hat mir meine liebe und weitsichtige Mutter erspart.“

Anutas Briefe berichten von ihren Sorgen, ihrem Alltag im fremden Land und von der Sehnsucht nach ihrem Sohn sowie von der immer gefährlicher werdenden Lage in Palästina. Herausgegeben wurden die Briefe von Katharina Pennoyer und der Initiative 9. November.

Die Initiative 9. November e. V. gründete sich 1988, um die jüdische Vorgeschichte des Hochbunkers an der Friedberger Anlage zu erschließen. An dieser Stelle hatte die Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft gestanden, die 1938 von den Nazis zerstört und danach mit dem Hochbunker überbaut worden war.

Alice von Lindenau, Schauspielerin, geboren 1983,  Engagements zuletzt beim Schauspiel Frankfurt und den Burgfestspielen Bad Vilbel, Publikumspreis der Schauspielbühnen Stuttgart für die beliebteste Schauspielerin 2012/13 als “Effi Briest”.

Buchempfehlung

Manja Präkels

Als ich mir Hitler Schnapskirschen aß

Verbrecher Verlag, 20 €
978-3-95732-272-2

Der vieldiskutierte Roman von Manja Präkels thematisiert ein von der breiten Öffentlichkeit vielfach verleugnetes oder bestenfalls unbeachtetes Phänomen: die Erstarkung rechtsradikaler, neonazistischer Gruppen in Deutschland nach der Wende. Angelehnt an ihre eigenen Erfahrungen aus ihrer Jugend in der ostdeutschen Provinz in den frühen 90er Jahren, verdeutlicht dieser Roman, wieso Phänomene wie PeGiDa und AfD für Präkels keineswegs überraschend sind. Bei aller politischen Brisanz gelingt der Journalistin jedoch darüber hinaus ein literarisch gelungenes Debüt.

Was geschieht, wenn man nach langer Abwesenheit an den Ort seiner Kindheit und Jugend zurückkehrt? Und wenn dieser Ort nicht Unbeschwertheit oder Geborgenheit vermittelt, sondern Angst? Wenn man nach Jahren des Exils zurückkommt und Hitler einem mit einem Mal wieder als der alte Schulfreund erscheint, der er einmal war?

Früher sind Oliver und Mimi oft zusammen angeln gegangen. Obwohl sie wenig miteinander gesprochen haben, bestand doch eine Freundschaft zwischen ihnen. Dann kam die Wende, und aus Oliver wurde Hitler, Anführer einer von zahlreichen Neonazigruppen, die zu dieser Zeit die Kontrolle über das soziale Leben übernahmen, wie Mimi ihre Erinnerungen beschreibt. In ihrer Rückschau auf die Ereignisse, wird der Protagonistin klar, dass diese frühe Freundschaft zu Hitler/Oliver ihr das Leben gerettet haben könnte. Denn mit dem Erstarken der Neonazis wurden sie und ihre Freunde, die „Zecken“, zu Gejagten. Denn der Einfluss der Rechten auf die Gesellschaft scheint übermächtig und allgegenwärtig und wird doch, auch damals schon, totgeschwiegen. Nazis stürmen Diskotheken und Kneipen, die “Zecken” werden verfolgt und verprügelt. Ein Freund überlebt einen dieser Überfälle nicht. Die Täter werden freigesprochen, die Angst wächst, die Übergriffe werden häufiger. Von ihrer Familie wird Mimi Verfolgungswahn vorgeworfen, alles Einbildung, Übertreibung. Es folgt die Flucht nach Berlin, doch der Neuanfang, den die Großstadt verspricht, bleibt aus.

Manja Präkels, die sich mit neonazistischen Gruppierungen und Strömungen auch in ihrer journalistischen Tätigkeit beschäftigt und hier auch ein Stück weit ihre eigene Biografie verarbeitet, schreibt mit einer ungeheuren Sachkenntnis. Dabei gelingt es ihr wie wenigen ihrer journalistischen KollegInnen, sich auf die literarische Form des Romans einzulassen. Durch ihren direkten Erzählstil überträgt sich die beklemmende Stimmung auf die Leserin und sorgt dafür, dass das Buch einen lange beschäftigt.

In Deutschland, in den neuen Bundesländern wie in den alten, wurde und wird rechte Gewalt systematisch geleugnet oder kleingeredet. Mit ihrem Roman wie mit ihrer journalistischen Arbeit leistet Manja Präkels einen wichtigen Beitrag zur Debatte.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co. Frankfurt

Buchempfehlung – Arno Geiger „Unter der Drachenwand“

Hanser Verlag 26€

Ein junger Soldat kehrt schwer verwundet von der Ostfront zurück, wird in einem saarländischen Lazarett aufgepäppelt und dann zur Rekonvaleszenz in die Heimat geschickt. Im Wiener Elternhaus hält er es nicht lange aus: Die Dinge scheinen in keinerlei Beziehung mehr zu ihm zu stehen, der Krieg hat sämtliche Verbindungen gekappt, und die tumben Durchhalteparolen des Vaters, der sich wie so viele Daheimgebliebene verzweifelt an die Idee des Endsiegs klammert, sind nach fünf ernüchternden Frontjahren purer Hohn. Also beschließt Veit Kolbe, Protagonist des neuen Romans von Arno Geiger, die Flucht aufs Land, nach Mondsee – einem kleinen, malerischen Ort im Salzkammergut –, um in ländlicher Abgeschiedenheit zu genesen und dem Krieg vielleicht endgültig zu entkommen.

Es heißt, dass Krieg immer mehr ist, als das, was an der Front zwischen Granattrichtern und rattenverseuchten Unterständen stattfindet. Und dass gerade das Grauen etwas ist, das sich nicht auf das Schlachtfeld begrenzen lässt. Krieg ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, unter dem alle gleichermaßen leiden – und doch jeder für sich.

Vor der Folie des idyllischen Örtchens Mondsee entfaltet Arno Geiger ein mehrstimmiges und vielschichtiges Panorama des Lebens der von der Front Verschonten: Da ist, neben dem seelisch zerrütteten Soldaten Veit Kolbe, eine junge Frau, die auf ihren im Feld stehenden Ehemann wartet und von ihrer Mutter mit Nachrichten aus dem ausgebombten Darmstadt versorgt wird. Da ist die Lehrerin aus Wien, die mit einer Horde Jungmädel an den Mondsee verschickt wurde und der eines der Mädchen verloren geht. Da ist der gärtnernde Brasilianer, der Orchideen und Tomaten züchtet und der sich als unverbesserlicher Freidenker in größte Schwierigkeiten bringt. Und schließlich ist da die jüdische Kleinfamilie, die vor dem immer weiter um sich greifenden Rassenwahn von Wien nach Budapest flieht und schließlich auseinandergerissen wird.

All diese unterschiedlichen Schicksale – die teilweise, wie im Falle Veit Kolbes oder des jüdischen Familienvaters, in Brief- bzw. Tagebuchform eine eigene Stimme bekommen, teilweise aber nur in den Berichten der Schreibenden abgebildet werden –, sind fein und mit großer Sensibilität ausgearbeitet. Jede Geschichte wird spannungsvoll erzählt: Die Hoffnungen, die Ängste und die Verzweiflung der Figuren werden durch die Wahl der Erzählform zur äußersten Plastizität gebracht: Das drängende Telegrammstil-Stakkato der Briefe aus dem zerstörten Darmstadt wird von den geschliffenen Sätzen aus den Briefen des jüdischen Vaters kontrastiert, die feinen Beobachtungen und präzisen Beschreibungen in Veit Kolbes Tagebucheinträgen von den immer verzweifelter werdenden Liebesbriefen des Wiener Pennälers. Jede erzählende Figur hat ihren eigenen Duktus, ihre ganz eigene Geschichte, und jede Figur ist mit ihrem Leid – und ihrem Schreiben darüber – gewissermaßen allein. Und doch sind alle Geschichten miteinander verwoben, die Figuren tauchen in den Erzählungen der anderen auf, der einen Perspektive wird die andere beigestellt.

Eine große Leistung dieses Romans besteht aber darin, einen erschütternden Querschnitt durch die Kriegsgesellschaft der Jahre 44 bis 45 zu präsentieren: Keines der in diesem Buch ausgestalteten Schicksale ist einzigartig. Ein jedes könnte exemplarisch für eine ganze Bevölkerungsschicht stehen, ein jedes ist – mit allem grauenhaften Leid, mit aller überschwänglichen Hoffnung, mit allem Mut – Ausdruck einer Kriegsrealität, die zur damaligen Zeit auf verstörende Art und Weise „Normalität“ gewesen ist.

Arno Geiger schreibt hier ein Buch über den Krieg, über den anderen Krieg, der fernab der Front wie ein leises Gift in die Gesellschaft und in die zwischenmenschlichen Beziehungen einsickert, der Verbindungen zerreißt und kommunikative Brücken zerstört, der aber auch Hoffnungen auf ein baldiges Ende, auf den guten Ausgang schürt.

Unter der Drachenwand ist ein wohlkonzipierter, großartig geschriebener Roman, der spannungsreich und – trotz beinahe lyrischer Passagen – voller Tempo einen einfühlsamen und kaleidoskopischen Blick auf die Gesellschaft der letzten Kriegsjahre wirft.

Johannes Fischer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Memoirs schreiben – Maggie Nelsons „Die Argonauten“

Hanser Berlin Verlag, 20 €

Der Übersetzer Jan Wilm im Gespräch mit Hanna Engelmeier

Montag, 22. Januar 2018, 20 Uhr

Maggie Nelsons Die Argonauten wurde in den USA zu einem der meist diskutierten Bücher des Jahres 2015. Als Genre-Mix aus Memoir, Essay und Gender-Theorie erzählt die Autorin darin von ihrer Liebe zu Harry Dodge, der als Frau geboren wurde und nun eine Geschlechtsumwandlung durchläuft – zur selben Zeit als Maggie schwanger wird.

In Die Argonauten begibt sich Nelson auf die Suche nach einer Sprache der queeren Liebe und nach einer Ausdrucksform für Mutterschaft und Sex in Zeiten, die einerseits liberal und progressiv, anderseits von Konservatismus und Eingrenzung gezeichnet sind. Im Beschreiben ihrer eigenen Erfahrung und ihres eigenen Denkens findet Nelson eine ganz eigene Form, die besonders in den US-Medien die Rede von einem „neuen Zeitalter des Memoir“ befeuerte.

Doch haben wir es wirklich mit einer neuen Gattung zu tun? Welche Möglichkeiten fürs Denken über das Memoir bietet Die Argonauten? Und welche Möglichkeiten fürs Schreiben stiftet die Memoir-Gattung, welche Veränderung in Schreib- und Lese-Szenen sind daran auszumachen?

Hanna Engelmeier, Dr. phil., ist Kulturwissenschaftlerin und Autorin. Sie arbeitet im Kolleg „Schreibszene Frankfurt. Poetik, Publizistik und Performanz von Gegenwartsliteratur“ an der Goethe-Universität Frankfurt. Literarische Texte und Rezensionen von ihr sind unter anderem in die tageszeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, manuskripte, DIE ZEIT und vor allem im Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken erschienen.

Jan Wilm, Dr. phil., ist Literaturwissenschaftler an der Goethe-Universität Frankfurt, Literaturkritiker und Übersetzer. Zuletzt erschienen The Slow Philosophy of J. M. Coetzee (Bloomsbury, 2016) sowie Beyond the Ancient Quarrel: J. M. Coetzee and Philosophy (mit Patrick Hayes; Oxford University Press, 2017). Seine Literaturkritiken erscheinen unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Neuen Zürcher Zeitung und dem Times Literary Supplement. Sein Blog ist zu finden unter www.wilmvorlesungen.de

Buchempfehlung – Yaa Gyasi „Heimkehren“

Dumont Verlag 22€

Neben dem in diesem Herbst überall besprochenen Roman von Colson Whitehead, der über den grausamen Umgang mit afrikanischen Sklaven in Amerika und über die Underground Railroad schreibt, ist ein weiterer aktueller Titel mit ähnlicher Thematik ausgesprochen lesenswert.

Die 1989 in Ghana geborene und in den USA aufgewachsene Yaa Gyasi verwebt in ihrem Roman Heimkehren auf packende Weise unterschiedliche Lebensgeschichten aus verschiedenen Epochen miteinander. Im Verlauf des Buches klingt am Rande immer wieder an, dass es sich um die verzweigte Familiengeschichte zweier Halbschwestern handelt, die im 18. Jahrhundert an der Goldküste Westafrikas geboren wurden, einander nie kennenlernten und deren Leben höchst unterschiedlich verlief.

Effias Eltern verkauften ihre Tochter zur Zwangsheirat an einen britischen Sklavenhändler. Esi hingegen wurde von Sklavenjägern geraubt, wie ein Tier gehandelt, verkauft, verschifft und landete als Eigentum eines gnadenlosen Gutsbesitzers auf den Baumwollfeldern im Süden der USA. Das unsägliche Leid der entwurzelten Menschen, die zu Arbeits- und Brutmaschinen degradiert, ausgebeutet und oft genug zum Vergnügen zu Tode gequält wurden, schockiert und berührt zutiefst.

„Amerika ist nicht das einzige Land, in dem es Sklaverei gibt. (…) Diese Art von Sklaverei gibt es bei uns aber nicht.“ sagt ein Ghanaer zu seinem Sohn an einer späteren Stelle des Romans. Diese Beobachtung fasst zusammen, dass das Schicksal, das die afrikanischen Sklaven in den USA erleiden mussten, oft von besonderer Grausamkeit war.

Gyasi geleitet uns sprachlich packend durch die Jahrzehnte, mäandert zwischen dem amerikanischen und afrikanischen Kontinent. Sie lässt uns eintauchen in das Leben der Kinder und Kindeskinder von Effia und Esi. Es fällt überhaupt nicht schwer, sich dem wunderbaren Erzählstrom hinzugeben, der trotz zeitlich eher schlaglichtartiger Einblicke in verschiedenste Lebensgeschichten eine große Nähe zu den Personen zulässt. Immer dann, wenn ein neues Kapitel, überschrieben mit einem neuen Namen, beginnt, kann man einen orientierenden Blick auf den Stammbaum im Anhang werfen. So weiß man jederzeit, auf welcher Zeitebene und in welchem Zweig der Familie man sich befindet. Gyasis Figuren sind zutiefst menschlich in ihrer Verletzbarkeit, Verzweiflung und Leidenschaft und kommen ohne Pathos aus.

Neben einer Berichtigung und Ergänzung kontinentaler Geschichtsschreibung bietet Heimkehren tiefe Einblicke in afrikanische Gesellschaftsstrukturen, ethnische Konflikte in der Zeit des florierenden Sklavenhandels an der Goldküste und in die besonderen familiären Zwänge traditioneller und teilweise polygamer Kulturen. Es geht aber auch um die viel universellere Feststellung, wie sehr unsere Herkunft, unsere Familiengeschichte und natürlich unsere Hautfarbe uns prägen. Bei aller Stärke, Durchsetzungskraft, Erkenntnis und Weisheit, der wir an vielen Stellen des Romans begegnen, gibt es doch keine Möglichkeit, sich der Geschichte zu entziehen. Wie eingeschrieben in die Gene tauchen Familienthemen bei Enkeln und Urenkeln nur scheinbar aus dem Nichts wieder auf.

Wenn es nicht so abgegriffen klänge, müsste man von großer Erzählkunst sprechen, an der uns die junge Ghanaerin Yaa Gyasi hier teilhaben lässt. Heimkehren steht Whiteheads prämierter Underground Railroad in nichts nach. Es ist ein großes Buch über Amerikas Geschichte, deren lange Schatten bis heute nachwirken und von erschütternder Aktualität sind.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Ein Rentier kommt selten allein! – Adventslesung für Kinder ab 6 Jahren

Samstag, 2. Dezember um 17 Uhr

Weihnachten kommt immer zu schnell und ist immer zu schnell vorbei! Nur bei Lars und Lotte ist es dieses Jahr anders, denn der Weihnachtsmann kommt erst ein bisschen zu spät und dann bleibt er gleich für ein ganzes Jahr – mitsamt seinem Schlitten in der Garage und den Rentieren im Garten. Aber PSST, das ist alles ganz geheim, niemand darf davon erfahren. Gar nicht so einfach, wenn der Weihnachtsmann immer so laut lacht und Quatsch macht. Und dann kommen auch noch die Weihnachtswichtel, die das Haus endgültig auf den Kopf stellen, denn sie müssen alle Geschenke ausführlich testen. Nur zu blöd, dass man die Wichtel nie sehen kann – sie sind zu klein, zu schnell und sie kommen immer nur in der Nacht. Ein Plan muss her, denken sich Lars und sein Freund Magnus. Ob der gelingt?

Wir lesen aus:
Ein Rentier kommt selten allein
von Friedbert Stohner 
dtv Reihe Hanser | 12,95 €

 

Betriebsblind und arbeitshörig – Psychische Erkrankungen in Arbeit und Therapie

Transcript, 29,99€

Ute Engelbach, Sabine Flick und Stephan Voswinkel im Gespräch

Montag, 13. November 2017, 20 Uhr

Prismen – Institut für Sozialforschung bei Marx & Co

Seit Jahren nimmt die Zahl psychischer Erkrankungen zu. Ursachen sind nicht zuletzt in der Arbeitswelt zu finden. Das Stichwort »Burnout« ist ein zeitdiagnostischer Marker einer gesellschaftlichen Problematik. Oft aber bleibt unklar, wie Belastungen in der Arbeit und psychische Erkrankungen zusammenhängen. Allgemeine Hinweise auf Anforderungen der modernen Gesellschaft (»Der Kapitalismus / die moderne Arbeitswelt / macht krank«) stehen unvermittelt individualisierenden Lösungen gegenüber: besseres Stressmanagement, Sich-Abgrenzen-Lernen.

Eine am Institut für Sozialforschung und am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt a.M. durchgeführte Untersuchung zeigt an empirischen Fällen, wie Arbeitsbedingungen und persönliche Vulnerabilitäten zusammenwirken. 23 psychisch Erkrankte wurden in jeweils mehrstündigen Gesprächen zu Beginn und am Ende ihres Klinikaufenthaltes sowie mehrere Monate nach Verlassen der Klinik interviewt. Mit ihren Therapeut_ innen wurden ebenfalls umfangreiche Gespräche geführt und Interviews mit betrieblichen Expert_innen ergänzten die Empirie. Welche Arbeitssituationen sind psychisch gefährdend? Wie geht das betriebliche Umfeld damit um? Wie deuten die Betroffenen selbst ihre Krankheit und ihre Ursachen? Welche Bedeutung hat die Arbeit in den Therapien? Neigen Therapeut_innen dazu, die Arbeitswelt zu dethematisieren? Wie erklärt sich der individualisierende Umgang mit der Erkrankung trotz verallgemeinernder Zeitdiagnose? Fazit: Wenn Arbeitssituationen krank machen, reicht es nicht, nur die Erkrankten zu therapieren!

Ute Engelbach, Dr. med. Dipl.-Päd., ist Oberärztin des Bereichs Psychosomatik der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Frankfurt. Dort leitet sie den Essstörungsschwerpunkt und den psychosomatischen Konsildienst. Arbeitsschwerpunkte sind Psychosomatik und Diabetes/HIV sowie Forschung zu psychischen Erkrankungen im Zusammenhang mit Erwerbsarbeit.

Sabine Flick, Dr. phil., ist Soziologin an der Goethe-Universität und assoziierte Wissenschaftlerin am Institut für Sozialforschung. Nach einer arbeitssoziologischen Dissertation über Selbstsorge in entgrenzter Arbeit, forscht sie im Kontext verschiedener Projekte zum Gesellschaftsbegriff der Psychotherapie. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Medizinsoziologie, Soziologie der Freundschaft, Familien- und Geschlechtersoziologie.

Stephan Voswinkel, PD Dr. disc. pol., ist Soziologe am Institut für Sozialforschung und Privatdozent am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität. Derzeit ist er Vertretungsprofessor für Allgemeine Soziologie an der TU Darmstadt. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Soziologie der Anerkennung, prekäre Beschäftigung, Ansprüche an Arbeit und psychosoziale Gefährdungen in der Arbeit.

Die Ergebnisse des Projekts sind kürzlich als Buch erschienen:

Nora Alsdorf, Ute Engelbach, Sabine Flick, Rolf Haubl und Stephan Voswinkel: Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt. Analysen und Ansätze zur therapeutischen und betrieblichen Bewältigung. Bielefeld: transcript 2017.

 

Lesung & Screening: Jörg Metelmann „Deutschlandbilder. Filmische Landeskunde von Almanya bis Wolfsburg“

Bertz & Fischer Verlag, 12.90 €

Mittwoch 1. November 2017 um 18 Uhr

In Kooperation mit der Goethe-Universität Frankfurt, Master Ästhetik

Im IG-Farbenhaus der Uni Raum 7.312 (Filmraum TFM)

Moderation & Diskussion: Heinz Drügh

 

Was ist deutsch? Was ist Deutschland? Was ist Heimat?

Darüber lässt sich auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung nur streiten, denn eindeutige Antworten können nicht mehr sein als Zuschreibungen, so wie auch Nationen künstliche Konstrukte sind – aber doch existieren. Bürgerinnen und Bürger leben in ihnen und Künstler bearbeiten sie. In seinem Buch Deutschlandbilder. Filmische Landeskunde von Almanya bis Wolfsburg analysiert Jörg Metelmann jene Filmbilder, die über Deutschland seit 1989 entstanden sind. Er betrachtet sie als mediale „Vergegenwärtigungsorte“, die das Bild der Nation (mit) prägen und so deren „Erinnerungsorte“ neu vermessen.

Mit Filmstills, einem Screening und in der Diskussion mit Heinz Drügh wird Deutschland an diesem Abend zwischen Autorenfilm und populärem Genrefilm kartografiert, zwischen Good bye Lenin und Lichter, zwischen Almanya und Wolfsburg. Als studierter Literaturwissenschaftler und Philosoph weiß Metelmann aber zugleich um die Macht der Bilder und Vorstellungen des ‚Deutschseins’, die entstanden sind, noch lange bevor die Bilder das Laufen lernten. Sie werden in Literaturverfilmungen über Figuren wie Kohlhaas oder Effi Briest vergegenwärtigt und angeeignet.

Ein solcher Einblick in die deutsche Filmlandschaft bietet eine Vielzahl an Identitäten und schärft zugleich den Blick für unsere Konstruktionen von und Diskussionen über Deutschland und seine Kultur.

Jörg Metelmann ist Titularprofessor und Ständiger Dozent für Kultur- und Medienwissenschaft an der Universität St.Gallen, Schweiz. Neben zahlreichen Publikationen (zuletzt: Ressentimentalität. Die melodramatische Versuchung, 2016) hat er 2009 (zusammen mit Antje Dombrowsky) auch die Flucht seiner Mutter aus der DDR 1966 filmisch dokumentiert – eine weitere deutsche Geschichte.

Heinz Drügh ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Ästhetik an der Goethe-Universität Frankfurt. Zuletzt erschien von ihm Ästhetik des Supermarkts, Konstanz 2015.

Buchempfehlung – Arlie Russell Hochschild „Fremd in ihrem Land: Eine Reise in das Herz der amerikanischen Rechten“

Campus 29,95€

Warum wählen Menschen in Louisiana, einem Staat, der in den Bereichen „Lebenserwartung, Schulbesuch, Bildungsabschluss und mittlerem Einkommen auf dem 49. Platz unter 50 US-Bundesstaaten liegt“, unter „erheblicher Umweltverschmutzung“ leidet und zudem „44 Prozent seines Etats aus Bundesmitteln“ bezieht, Kandidaten einer Partei, die öffentliche Gelder kürzen, Umweltauflagen und Krankenversicherung streichen und die Steuern für Superreiche und Großunternehmen senken will? Dieses Paradox war der Anlass für die Soziologin Arlie Russell Hochschild, sich fünf Jahre lang mit Tea-Party-Anhängern zu befassen. Sie verließ ihre linksliberale „politische Blase“ in Berkeley und überwand die „Empathie-Mauer“, die Demokraten und radikale Republikaner in den USA trennt und zunehmend höher wird. Welche Gefühle stecken hinter dem mit dem Verstand nicht zu begreifenden Widerspruch, der Menschen gerade die Partei wählen lässt, die ihre Situation ganz offenkundig nicht verbessern, sondern verschlimmern wird? Wieso bejubelt jemand, dessen Haus ganz plötzlich in einem gigantischen Loch verschwindet, das durch die Schlamperei der Methanindustrie entstanden ist, einen Kandidaten, der verhindert, dass sich die Unternehmen an Umweltauflagen halten müssen? Nach fünfjähriger Forschungsarbeit liegen Antworten auf diese Frage jetzt vor, und, um es gleich zu sagen, sie machen wenig Hoffnung.

Hochschild konstruiert für ihre faktenreiche, detaillierte und von großer Empathie mit ihren Gesprächspartnern getragene Studie eine „emotionale Tiefengeschichte“, die dem Ich quasi eine emotionale Landkarte zur Verfügung stellt und sich aus Erfahrungen der eigenen Familiengeschichte sowie historischen Fakten und Ideologemen zusammensetzt. Man mag zwar einerseits Opfer der Verhältnisse sein – Arbeitslosigkeit, umweltbedingte Krankheiten, mangelnde Bildungschancen –, aber andererseits ist man anständig, zäh, nimmt Schicksalsschläge hin und an, müht sich redlich, kümmert sich um die eigene Gemeinde und geht regelmäßig zur Kirche. Das alles bildet die Grundlage des amerikanischen Traums, der, entsprechenden Einsatz vorausgesetzt, jedem die Chance auf Glück und Reichtum bietet. Warum also sollte man denen böse sein, die diesen Traum verwirklicht haben? Böse ist man denjenigen, die auf dem Weg zu seiner Umsetzung an dank staatlicher Unterstützung, Mitleid und Aufmerksamkeit einem vorbeiziehen: Schwarze, Frauen, Schwule, Flüchtlinge, Migranten. Mit all diesen Gruppen soll man Mitleid haben, während niemand Mitleid mit der eigenen Gruppe hat, und das heißt auch, während niemand die eigene Gruppe wahrnimmt und respektiert, ja schlimmer noch, während man die eigene Gruppe diffamiert: als rassistisch, homophob, chauvinistisch und dumm.

Die Mischung aus Reportage, Fakten und Gesprächsprotokollen macht Fremd in ihrem Land zu einer sehr lesbaren und zudem ausgesprochen spannenden Lektüre, nach der man einige Entwicklungen nicht nur in den USA besser versteht. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Wissenschaftler mit einem ähnlichen emotionalen Kraftaufwand und Engagement nach Wegen suchen, um die „Empathiemauer“ und die „politischen Blasen“ auf beiden Seiten des politischen Spektrums soweit abzubauen, dass eine Verständigung wieder möglich wird. Dazu allerdings scheint es noch eines sehr großen Kraftakts zu bedürfen …

Irmgard Hölscher, Frankfurt

Buchempfehlung

Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete.
Rowohlt Rotfuchs 16,99 €

Stevenson, Robin

Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete

Roman. Aus dem Englischen von Bettina Münch.

 

Gleich mal vorweg: Bienen werden in diesem Buch zwar erstmal nicht gerettet, vielleicht aber der Zusammenhalt einer Familie und die Integrität eines Jungen, der versucht herauszufinden, wer er außer dem verlässlichen großen Bruder und braven Sohn eigentlich sein möchte.

Wolf ist 12 und seine Mutter Jade der Inbegriff einer engagierten Öko-Aktivistin, die sich – nachdem Wolf in der Schule ein Referat über dieses Thema gehalten hatte – so umfassend mit dem Bienensterben befasst, dass aus ihrer Sicht der Kollaps des Ökosystems kurz bevorsteht. Um dem Weltuntergang nicht untätig zuzusehen, bricht sie mit ihrem Mann Curtis alle Zelte ab, gibt das Haus der Familie auf, lagert alle Möbel ein und plant, einen Sommer lang durch Kanada zu ziehen, von Kleinstadt zu Kleinstadt, um die Öffentlichkeit über das bedrohliche Verschwinden der Bienen und seine Konsequenzen zu informieren. Dass sie ihre Kinder aus der Schule und ihrem Umfeld reißt, scheint kein zu hoher Preis zu sein – immerhin geht es doch um deren Zukunft. So sieht das zumindest Jade, die in ihrem Aktivismus völlig aus den Augen verliert, wie es ihren Kindern mit diesen Zukunftsaussichten eigentlich geht.

Jade hat eine Vision, Curtis kümmert sich um den schwarz-gelb gestrichenen und auf Speiseölbetrieb umgerüsteten Ford, Violet, Wolfs 15-jährige Stiefschwester, rebelliert und kämpft darum, sich nicht von ihrem Freund Ty trennen zu müssen, und die 5-jährigen Zwillingsschwestern Saffy und Whisper freuen sich zumindest anfangs an ihren niedlichen Bienenkostümen, in denen sie die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich ziehen sollen.

Wolf steckt mitten drin in den Anfängen der Pubertät und in dieser bunten Patchworkfamilie. Er übernimmt die Verantwortung für die Versorgung seiner kleinen Geschwister, sorgt sich um seine ohnehin stille Schwester Whisper, die seit Beginn der Bienenrettungsreise völlig verstummt ist, und schwankt zunehmend zwischen unbedingter Loyalität gegenüber seiner Mutter und den langsam aufwallenden, eigenen Bedürfnissen. Eigentlich ist es für ihn undenkbar, in einem (zu engen) Bienenkostüm wildfremde Leute auf das Bienensterben anzusprechen oder gar um einen Schlafplatz für sich und seine Familie zu bitten. Er windet sich innerlich, man leidet mit ihm und wünscht ihm so sehr, sich endlich gegen die unbedachten Forderungen seiner Mutter aufzulehnen. Allzu nachvollziehbar ist sein verzweifelter Wunsch nach einem gemütlichen Zuhause, anstatt in einem miefenden, altersschwachen Van zur abstrakten Rettung der Welt auf unbestimmte Zeit durch Kanada zu fahren.

Die quirlige, euphorische Mutter erscheint in ihrem Überschwang auch nicht wirklich unsympathisch, ist aber ein gutes Beispiel dafür, dass der Zweck eben nicht immer die Mittel heiligt. Mit ihren düsteren Beschreibungen einer Welt ohne Bienen versucht sie voller Idealismus, die dringenden gesellschaftlichen Veränderungen anzustoßen. Gleichzeitig bürdet sie aber ihren Kindern die Verantwortung für den Fortbestand der Menschheit auf. Eine Last, die weder Wolf noch seine Schwestern tragen können, oder – wie in Violets Fall – auch gar nicht tragen wollen.

Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete handelt von Loyalitätskonflikten, Patchworkfamilien-Problemen, Pubertätswallungen und Verantwortung. Mit pointiertem Witz, Spannung und Mitgefühl macht die kanadische Autorin Robin Stevenson darauf aufmerksam, dass Eltern nicht immer besser wissen, was gut für ihre Kinder ist, und ermutigt Kinder dazu, sich auf ihr eigenes Gefühl zu verlassen und auch dazu zu stehen.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung – Colson Whitehead „Underground Railroad“

Hanser Verlag 24€

Eine Sklavin zu sein bedeutet nicht nur, nicht gehen zu können, wohin man will, nicht sagen zu können, was man will, zu dienen und zu arbeiten ohne Entlohnung oder Rechte. Sklaverei ist ein umfassender Lebenszustand. Die Menschen in Whiteheads Roman wurden meist bereits in die Sklaverei geboren, oft schon seit mehreren Generationen. Schon die Idee eines anderen Lebens, die Hoffnung auf Flucht liegt für die meisten von ihnen außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Allein an Flucht zu denken gilt als verrückt, geschweige denn, sie auch zu wagen. Und so ist es kein Zufall, dass die Geschichte der Flucht, die Whitehead hier erzählt, auch die Geschichte zweier Außenseiter ist: Caesar, der schon einmal eine Ahnung von einem anderen Leben erhielt, als seine vorherige Herrin ihn das Lesen lehrte und die Freiheit versprach, und Cora, deren Mutter zur Legende wurde, als es ihr gelang, von der Farm zu fliehen, ohne je wieder gesehen zu werden. Zusammen gelingt ihnen die Flucht von der Farm in ein noch unbekanntes anderes Leben. Doch noch unvorstellbarer als die Flucht selbst scheint die reale Möglichkeit dieses anderen Lebens, eines Lebens, das einem, ungeachtet der Hautfarbe, selbst gehört. Auf den unzähligen Etappen ihrer Reise wird deutlich, dass es das große andere, das gänzlich befreite, nicht rassistische Land auf einer imaginierten anderen Seite nicht gibt. Je weiter sich Cora und Caesar vom Süden entfernen, desto leichter fällt es ihnen, an eine befreite Wirklichkeit zu glauben, und desto bitterer ist die Ernüchterung, wenn sich ihre Pläne zerschlagen.

Colson Whitehead erschafft ein Panorama der nordamerikanischen Geschichte zur Zeit der Sklaverei und entfaltet sie entlang von Coras Stationen auf der Underground Railroad. Das historische Untergrundnetzwerk, mit dem weiße Abolitionisten SklavInnen bei der Flucht unterstützten, wird von Whitehead wörtlich genommen und somit zur geheimen Untergrundbahn. Wo sie abfährt, lässt sie für Cora verbrannte Erde zurück, und sie hat immer nur ein Ziel: weg von hier in Richtung eines neuen, unbekannten Ortes und der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch Whiteheads Roman ist nicht nur die spannende Geschichte einer nicht enden wollenden Flucht, er erzählt uns auch sehr viel über das Verhältnis von Sklaverei und Rassismus, darüber, wie sich die Vorstellung, Menschen würden, aus welchen Gründen auch immer, zum Besitz anderer Menschen, auch dort immer wieder einschleicht, wo sie überwunden geglaubt zu sein scheint. Whitehead stellt in sehr klaren Bildern und intensiven Szenen dar, wie Rassismus und Sklaverei als Grundpfeiler für ökonomische wie für soziale Ordnungen funktionieren. Das ist einerseits eine glaubhafte Darstellung struktureller Diskriminierung, bietet ihm aber andererseits auch die Chance, den Figuren in seinem Roman Tiefe zu verleihen.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt