Buchempfehlungen

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Buchempfehlung – Arlie Russell Hochschild „Fremd in ihrem Land: Eine Reise in das Herz der amerikanischen Rechten“

Campus 29,95€

Warum wählen Menschen in Louisiana, einem Staat, der in den Bereichen „Lebenserwartung, Schulbesuch, Bildungsabschluss und mittlerem Einkommen auf dem 49. Platz unter 50 US-Bundesstaaten liegt“, unter „erheblicher Umweltverschmutzung“ leidet und zudem „44 Prozent seines Etats aus Bundesmitteln“ bezieht, Kandidaten einer Partei, die öffentliche Gelder kürzen, Umweltauflagen und Krankenversicherung streichen und die Steuern für Superreiche und Großunternehmen senken will? Dieses Paradox war der Anlass für die Soziologin Arlie Russell Hochschild, sich fünf Jahre lang mit Tea-Party-Anhängern zu befassen. Sie verließ ihre linksliberale „politische Blase“ in Berkeley und überwand die „Empathie-Mauer“, die Demokraten und radikale Republikaner in den USA trennt und zunehmend höher wird. Welche Gefühle stecken hinter dem mit dem Verstand nicht zu begreifenden Widerspruch, der Menschen gerade die Partei wählen lässt, die ihre Situation ganz offenkundig nicht verbessern, sondern verschlimmern wird? Wieso bejubelt jemand, dessen Haus ganz plötzlich in einem gigantischen Loch verschwindet, das durch die Schlamperei der Methanindustrie entstanden ist, einen Kandidaten, der verhindert, dass sich die Unternehmen an Umweltauflagen halten müssen? Nach fünfjähriger Forschungsarbeit liegen Antworten auf diese Frage jetzt vor, und, um es gleich zu sagen, sie machen wenig Hoffnung.

Hochschild konstruiert für ihre faktenreiche, detaillierte und von großer Empathie mit ihren Gesprächspartnern getragene Studie eine „emotionale Tiefengeschichte“, die dem Ich quasi eine emotionale Landkarte zur Verfügung stellt und sich aus Erfahrungen der eigenen Familiengeschichte sowie historischen Fakten und Ideologemen zusammensetzt. Man mag zwar einerseits Opfer der Verhältnisse sein – Arbeitslosigkeit, umweltbedingte Krankheiten, mangelnde Bildungschancen –, aber andererseits ist man anständig, zäh, nimmt Schicksalsschläge hin und an, müht sich redlich, kümmert sich um die eigene Gemeinde und geht regelmäßig zur Kirche. Das alles bildet die Grundlage des amerikanischen Traums, der, entsprechenden Einsatz vorausgesetzt, jedem die Chance auf Glück und Reichtum bietet. Warum also sollte man denen böse sein, die diesen Traum verwirklicht haben? Böse ist man denjenigen, die auf dem Weg zu seiner Umsetzung an dank staatlicher Unterstützung, Mitleid und Aufmerksamkeit einem vorbeiziehen: Schwarze, Frauen, Schwule, Flüchtlinge, Migranten. Mit all diesen Gruppen soll man Mitleid haben, während niemand Mitleid mit der eigenen Gruppe hat, und das heißt auch, während niemand die eigene Gruppe wahrnimmt und respektiert, ja schlimmer noch, während man die eigene Gruppe diffamiert: als rassistisch, homophob, chauvinistisch und dumm.

Die Mischung aus Reportage, Fakten und Gesprächsprotokollen macht Fremd in ihrem Land zu einer sehr lesbaren und zudem ausgesprochen spannenden Lektüre, nach der man einige Entwicklungen nicht nur in den USA besser versteht. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Wissenschaftler mit einem ähnlichen emotionalen Kraftaufwand und Engagement nach Wegen suchen, um die „Empathiemauer“ und die „politischen Blasen“ auf beiden Seiten des politischen Spektrums soweit abzubauen, dass eine Verständigung wieder möglich wird. Dazu allerdings scheint es noch eines sehr großen Kraftakts zu bedürfen …

Irmgard Hölscher, Frankfurt

Buchempfehlung

Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete.
Rowohlt Rotfuchs 16,99 €

Stevenson, Robin

Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete

Roman. Aus dem Englischen von Bettina Münch.

 

Gleich mal vorweg: Bienen werden in diesem Buch zwar erstmal nicht gerettet, vielleicht aber der Zusammenhalt einer Familie und die Integrität eines Jungen, der versucht herauszufinden, wer er außer dem verlässlichen großen Bruder und braven Sohn eigentlich sein möchte.

Wolf ist 12 und seine Mutter Jade der Inbegriff einer engagierten Öko-Aktivistin, die sich – nachdem Wolf in der Schule ein Referat über dieses Thema gehalten hatte – so umfassend mit dem Bienensterben befasst, dass aus ihrer Sicht der Kollaps des Ökosystems kurz bevorsteht. Um dem Weltuntergang nicht untätig zuzusehen, bricht sie mit ihrem Mann Curtis alle Zelte ab, gibt das Haus der Familie auf, lagert alle Möbel ein und plant, einen Sommer lang durch Kanada zu ziehen, von Kleinstadt zu Kleinstadt, um die Öffentlichkeit über das bedrohliche Verschwinden der Bienen und seine Konsequenzen zu informieren. Dass sie ihre Kinder aus der Schule und ihrem Umfeld reißt, scheint kein zu hoher Preis zu sein – immerhin geht es doch um deren Zukunft. So sieht das zumindest Jade, die in ihrem Aktivismus völlig aus den Augen verliert, wie es ihren Kindern mit diesen Zukunftsaussichten eigentlich geht.

Jade hat eine Vision, Curtis kümmert sich um den schwarz-gelb gestrichenen und auf Speiseölbetrieb umgerüsteten Ford, Violet, Wolfs 15-jährige Stiefschwester, rebelliert und kämpft darum, sich nicht von ihrem Freund Ty trennen zu müssen, und die 5-jährigen Zwillingsschwestern Saffy und Whisper freuen sich zumindest anfangs an ihren niedlichen Bienenkostümen, in denen sie die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich ziehen sollen.

Wolf steckt mitten drin in den Anfängen der Pubertät und in dieser bunten Patchworkfamilie. Er übernimmt die Verantwortung für die Versorgung seiner kleinen Geschwister, sorgt sich um seine ohnehin stille Schwester Whisper, die seit Beginn der Bienenrettungsreise völlig verstummt ist, und schwankt zunehmend zwischen unbedingter Loyalität gegenüber seiner Mutter und den langsam aufwallenden, eigenen Bedürfnissen. Eigentlich ist es für ihn undenkbar, in einem (zu engen) Bienenkostüm wildfremde Leute auf das Bienensterben anzusprechen oder gar um einen Schlafplatz für sich und seine Familie zu bitten. Er windet sich innerlich, man leidet mit ihm und wünscht ihm so sehr, sich endlich gegen die unbedachten Forderungen seiner Mutter aufzulehnen. Allzu nachvollziehbar ist sein verzweifelter Wunsch nach einem gemütlichen Zuhause, anstatt in einem miefenden, altersschwachen Van zur abstrakten Rettung der Welt auf unbestimmte Zeit durch Kanada zu fahren.

Die quirlige, euphorische Mutter erscheint in ihrem Überschwang auch nicht wirklich unsympathisch, ist aber ein gutes Beispiel dafür, dass der Zweck eben nicht immer die Mittel heiligt. Mit ihren düsteren Beschreibungen einer Welt ohne Bienen versucht sie voller Idealismus, die dringenden gesellschaftlichen Veränderungen anzustoßen. Gleichzeitig bürdet sie aber ihren Kindern die Verantwortung für den Fortbestand der Menschheit auf. Eine Last, die weder Wolf noch seine Schwestern tragen können, oder – wie in Violets Fall – auch gar nicht tragen wollen.

Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete handelt von Loyalitätskonflikten, Patchworkfamilien-Problemen, Pubertätswallungen und Verantwortung. Mit pointiertem Witz, Spannung und Mitgefühl macht die kanadische Autorin Robin Stevenson darauf aufmerksam, dass Eltern nicht immer besser wissen, was gut für ihre Kinder ist, und ermutigt Kinder dazu, sich auf ihr eigenes Gefühl zu verlassen und auch dazu zu stehen.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung – Colson Whitehead „Underground Railroad“

Hanser Verlag 24€

Eine Sklavin zu sein bedeutet nicht nur, nicht gehen zu können, wohin man will, nicht sagen zu können, was man will, zu dienen und zu arbeiten ohne Entlohnung oder Rechte. Sklaverei ist ein umfassender Lebenszustand. Die Menschen in Whiteheads Roman wurden meist bereits in die Sklaverei geboren, oft schon seit mehreren Generationen. Schon die Idee eines anderen Lebens, die Hoffnung auf Flucht liegt für die meisten von ihnen außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Allein an Flucht zu denken gilt als verrückt, geschweige denn, sie auch zu wagen. Und so ist es kein Zufall, dass die Geschichte der Flucht, die Whitehead hier erzählt, auch die Geschichte zweier Außenseiter ist: Caesar, der schon einmal eine Ahnung von einem anderen Leben erhielt, als seine vorherige Herrin ihn das Lesen lehrte und die Freiheit versprach, und Cora, deren Mutter zur Legende wurde, als es ihr gelang, von der Farm zu fliehen, ohne je wieder gesehen zu werden. Zusammen gelingt ihnen die Flucht von der Farm in ein noch unbekanntes anderes Leben. Doch noch unvorstellbarer als die Flucht selbst scheint die reale Möglichkeit dieses anderen Lebens, eines Lebens, das einem, ungeachtet der Hautfarbe, selbst gehört. Auf den unzähligen Etappen ihrer Reise wird deutlich, dass es das große andere, das gänzlich befreite, nicht rassistische Land auf einer imaginierten anderen Seite nicht gibt. Je weiter sich Cora und Caesar vom Süden entfernen, desto leichter fällt es ihnen, an eine befreite Wirklichkeit zu glauben, und desto bitterer ist die Ernüchterung, wenn sich ihre Pläne zerschlagen.

Colson Whitehead erschafft ein Panorama der nordamerikanischen Geschichte zur Zeit der Sklaverei und entfaltet sie entlang von Coras Stationen auf der Underground Railroad. Das historische Untergrundnetzwerk, mit dem weiße Abolitionisten SklavInnen bei der Flucht unterstützten, wird von Whitehead wörtlich genommen und somit zur geheimen Untergrundbahn. Wo sie abfährt, lässt sie für Cora verbrannte Erde zurück, und sie hat immer nur ein Ziel: weg von hier in Richtung eines neuen, unbekannten Ortes und der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch Whiteheads Roman ist nicht nur die spannende Geschichte einer nicht enden wollenden Flucht, er erzählt uns auch sehr viel über das Verhältnis von Sklaverei und Rassismus, darüber, wie sich die Vorstellung, Menschen würden, aus welchen Gründen auch immer, zum Besitz anderer Menschen, auch dort immer wieder einschleicht, wo sie überwunden geglaubt zu sein scheint. Whitehead stellt in sehr klaren Bildern und intensiven Szenen dar, wie Rassismus und Sklaverei als Grundpfeiler für ökonomische wie für soziale Ordnungen funktionieren. Das ist einerseits eine glaubhafte Darstellung struktureller Diskriminierung, bietet ihm aber andererseits auch die Chance, den Figuren in seinem Roman Tiefe zu verleihen.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung – Chris Kraus „I Love Dick“

I Love Dick.
Matthes & Seitz, 22€

Spricht man wohlwollend über Literatur von Autorinnen, fallen nicht selten Sätze wie „Sie schreibt gänzlich unaufgeregt und distanziert“, ganz so, als habe man jede Autorin zunächst gegen ein grundlos wütendes oder rettungslos emotionales Schreckensbild weiblichen Schreibens zu verteidigen. Autorinnen (Leserinnen ebenso) wurde seit jeher vorgeworfen, das Geschriebene zu persönlich zu nehmen, die notwendig distanzierte künstlerische Haltung nicht einnehmen zu können. Mit ihrem Roman schreibt Chris Kraus gegen jegliche aus diesen Vorwürfen resultierende Selbstzügelung an. Ihr Roman ist ebenso persönlich, wie er radikal emotional ist.
Inhaltlich erzählt er von Chris Kraus und ihrem Mann Sylvère Lothringer, für die ein einziges Essen mit Dick, einem Kollegen von Sylvère, zum Ausgangspunkt für eine ebenso spielerische wie aussichtslose und radikale Liebesbesessenheit wird. Dick wird zum Adressaten zahlloser Briefe, die zunächst von dem Paar gemeinsam verfasst werden. Das Briefprojekt füllt bald das gesamte gemeinsame Leben der beiden aus, wird zum Dreh- und Angelpunkt ihre Beziehung zueinander und zur Welt. Dick selbst wird damit als Angesprochener überall präsent, wenn er auch als Person kaum auftaucht. Immer geht es in den Briefen auch darum, einen behaupteten Abstand zwischen künstlerischem Schaffen und Privatheit nicht gelten zu lassen. Chris Kraus kämpft dabei konsequent dagegen an, die Liebe zu Dick, die sie als Kunstwerk betrachtet, deswegen als nicht aufrichtig, als imaginiert bezeichnen zu lassen. Es gibt keine Grenze zwischen der schreibenden, der liebenden und der Autorin Chris Kraus. Notwendigerweise wird so auch Schizophrenie zu einem der großen Themen des Romans. Man könnte ihn als Versuchsanordnung, als Experiment absoluter Distanzlosigkeit bezeichnen, stünde man damit nicht in der Gefahr, gerade die tatsächliche Faktizität der Emotion wieder zu negieren und den Selbstschutz des rein Fiktiven wieder zu errichten. Dieser Roman ist auf allen Ebenen, stilistisch wie inhaltlich, ein Wagnis und unbedingt lesenswert.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung – Manja Präkels „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“

Verbrecher Verlag 20€

Was geschieht, wenn man nach langer Abwesenheit an den Ort seiner Kindheit und Jugend zurückkehrt? Und wenn dieser Ort nicht Unbeschwertheit oder Geborgenheit vermittelt, sondern Angst? Wenn man nach Jahren des Exils zurückkommt und Hitler einem mit einem Mal wieder als der alte Schulfreund erscheint, der er einmal war?

Früher sind Oliver und Mimi oft zusammen angeln gegangen. Obwohl sie wenig miteinander gesprochen haben, bestand doch eine Freundschaft zwischen ihnen. Dann kam die Wende, und aus Oliver wurde Hitler, Anführer einer von zahlreichen Neonazigruppen, die zu dieser Zeit die Kontrolle über das soziale Leben übernahmen, wie Mimi ihre Erinnerungen beschreibt. In ihrer Rückschau auf die Ereignisse, wird der Protagonistin klar, dass diese frühe Freundschaft zu Hitler/Oliver ihr das Leben gerettet haben könnte. Denn mit dem Erstarken der Neonazis wurden sie und ihre Freunde, die „Zecken“, zu Gejagten. Denn der Einfluss der Rechten auf die Gesellschaft scheint übermächtig und allgegenwärtig und wird doch, auch damals schon, totgeschwiegen. Nazis stürmen Diskotheken und Kneipen, die “Zecken” werden verfolgt und verprügelt. Ein Freund überlebt einen dieser Überfälle nicht. Die Täter werden freigesprochen, die Angst wächst, die Übergriffe werden häufiger. Von ihrer Familie wird Mimi Verfolgungswahn vorgeworfen, alles Einbildung, Übertreibung. Es folgt die Flucht nach Berlin, doch der Neuanfang, den die Großstadt verspricht, bleibt aus.

Manja Präkels, die sich mit neonazistischen Gruppierungen und Strömungen auch in ihrer journalistischen Tätigkeit beschäftigt und hier auch ein Stück weit ihre eigene Biografie verarbeitet, schreibt mit einer ungeheuren Sachkenntnis. Dabei gelingt es ihr wie wenigen ihrer journalistischen KollegInnen, sich auf die literarische Form des Romans einzulassen. Durch ihren direkten Erzählstil überträgt sich die beklemmende Stimmung auf die Leserin und sorgt dafür, dass das Buch einen lange beschäftigt.

In Deutschland, in den neuen Bundesländern wie in den alten, wurde und wird rechte Gewalt systematisch geleugnet oder kleingeredet. Mit ihrem Roman wie mit ihrer journalistischen Arbeit leistet Manja Präkels einen wichtigen Beitrag zur Debatte.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co. Frankfurt

Buchempfehlung – Christophe Boltanski „Das Versteck“

Hanser Verlag 23€

Ein Haus in der Pariser Rue de Grenelle, beste Wohnlage in großbürgerlichem Ambiente, bewohnt von der Familie Boltanski, deren Bekanntheitsgrad in Frankreich ungefähr der Bekanntheit der Familie Mann in Deutschland entspricht: Großvater Etienne ist Arzt, Großmutter Marie-Élise schreibt unter dem Pseudonym Annie Lauran erfolgreiche Romane, die Söhne machen Karriere: Jean-Élie als Linguist, Luc als Soziologe und Christian als Installationskünstler und Filmemacher, (Adoptiv-) Tochter Anne als Fotografin. Enkel Christophe schließlich, der diese Familiengeschichte vorlegt, ist Journalist. Wer jetzt aber erwartet, dass hier mal wieder ein Nachgeborener die Familiengeschichte zelebriert, sei es als Lobgesang, sei es als Skandalchronik, der liegt völlig falsch. Denn Das Versteck erzählt weit mehr als die Geschichte einer vor Exzentrik und Widersprüchen nur so strotzenden Familie, nämlich eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, die nicht weniger exzentrisch und widersprüchlich ist.

Im Mittelpunkt steht das Haus in der Rue de Grenelle, dessen Mittelpunkt wiederum Großmutter Mairie-Élise bildet. Sie ist es, die ihre Familie zusammenhält, und das im Wortsinne: In dieser Familie, so der Eindruck, ist praktisch niemand auch nur eine Minute allein. Die schützende Hülle des Hauses wird nur in der kleineren, aber ebenso geschlossenen Hülle des Autos verlassen –einem Fiat 500, auch „Joghurtbecher“ genannt – , den die durch eine Polio-Erkrankung stark gehbehinderte Großmutter mit Hilfe von an den Pedalen angebrachten Stäben steuert und in den neben den Großeltern Sohn Jean-Élie, Tochter Anne und Enkel Christophe gepfercht werden. Geparkt wird stets so, dass der Zwischenraum zwischen der Wagentür und dem Eingang des jeweiligen Zielorts möglich klein ist. Das Haus und seine Verlängerung, das Auto, bilden in der Erinnerung des Erzählers ein Raumschiff, das man nur selten verlässt, um sich nicht allzu lange als Alien zu fühlen.

Das Zentrum des Hauses wiederum bildet das Schlafzimmer, in dem die gesamte Familie schläft, die Großeltern im Bett, Söhne und Enkel in Schlafsäcken auf dem Fußboden, während im Fernsehen alte Western ohne Ton ein flackerndes Licht verbreiten. Im Widerspruch zu dieser beklemmend wirkenden Enge, die mehr an ein Gefängnis als ein Heim erinnert, steht die geistige Freiheit in diesem Haus, die der Autor, der mit dreizehn Jahren auf eigenen Wunsch hin zu den Großeltern zieht, so beschreibt: „Ich bin nie so frei und glücklich gewesen wie hier. Dieser unglaubliche Lebenshunger, die Momente der Trunkenheit, ja der Euphorie. Die Möglichkeit, fast alles zu sagen. Das Licht trotz der Finsternis.“

Aber das ist nur einer der Widersprüche, die sich durch das Buch ziehen. So hält zum Beispiel der Großvater, immerhin Facharzt für Hygiene, Waschen für ungesund, die Großmutter, die von ihrer Adoptivmutter ein großes Anwesen in der Bretagne geerbt hat, samt Schloss und riesigen Ländereien, verteilt Sonntags im Viertel das Wochenblättchen der Kommunisten; man führt ein gastfreies Haus, in dem jeder willkommen ist, aber so gut wie nichts zu essen und zu trinken angeboten wird, weil eben niemand einkauft. Und trotz der „Möglichkeit, fast alles zu sagen“, stellt der Enkel nach dem Tod der Großeltern fest, dass er nur wenig über deren Herkunft und Schicksal weiß.

Die Spuren ihrer Geschichte findet er im Haus, dessen Grundriss der Roman auch formal folgt. Die Kapitel tragen Titel wie „Küche“, „Arbeitszimmer“, „Salon“. Man folgt ihm durch die Räume, die die Geschichte der jüdischen Emigration aus Osteuropa, der beiden Weltkriege, des Holocausts und des Algerienkrieges in sich bergen, und erreicht schließlich das titelgebende „Versteck“, in dem der – jüdische – Großvater die Verfolgung überlebt hat. Und man lacht, weint, erschrickt und freut sich an all den wunderbar komischen, tragischen, absurden Geschichten, die in jedem Zimmer stecken. Es wundert nicht, dass das Buch den Prix Femina erhalten hat und in Frankreich zum Bestseller geworden ist. Man kann diese großartige Entdeckungsreise durch das Haus in der Rue de Grenelle nur wärmstens empfehlen.

Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main

 

Buchempfehlung – Daniel Schreiber „Zuhause“

Hanser, 18.- €

Im Vergleich zu noch gar nicht so lange zurückliegenden Zeiten sind wir ungeheuer mobil geworden. Reisen in andere Länder, ob beruflich oder in den Ferien, absolvieren wir mit der gleichen Nonchalance, mit der wir die Bahn in die nächste Stadt nehmen. Übers Wochenende zum Shoppen nach London fliegen – ziemlich normal. Für den Job die Stadt oder gar das Land wechseln – eine spannende neue Erfahrung. Und doch scheint ein ganz altmodisches Gefühl in uns zu schlummern, das sich völlig unvorbereitet Bahn brechen kann mit der Frage: Wo bin ich eigentlich zu Hause? Und vielleicht noch: was ist das eigentlich, wonach ich mich plötzlich sehne?

War „Zuhause“ einst das, wo man herkam – das Land, die Region, der Ort, die Menschen, die Sprache – richtet sich dieses Gefühl heute eher auf einem imaginären Ort in der Zukunft. War es früher an einen geographischen Platz gebunden, ist es heute eher ein Zustand geworden, der für jeden mit anderen Inhalten gefüllt sein kann. Aber irgendwann scheint die Suche nach dem, wo man sich Zuhause fühlt, für viele wichtig zu werden. So auch für Daniel Schreiber, der nach einer Trennung in eine Krise gerät, in der das Thema der Zugehörigkeit existentiell wichtig wird. So beginnt er sich zu fragen, was das eigentlich ist, ein „Zuhause“. Worin unterscheidet es sich von „Heimat“? Wie haben sich die Begriffe im Laufe der Zeit verändert? Dem spürt in der eigenen Familiengeschichte nach, die, wie bei vielen, von Verlusterfahrungen durch Vertreibung und Flucht geprägt ist, und taucht in die eigene Biografie ein. Er erinnert sich an seine unbehauste Kindheit als schwuler Junge in der DDR, denkt über seine Freundschaften und Beziehungen nach. Liest soziologische, philosophische und psychologische Literatur und umkreist das Thema auf vielfältige, zumeist sehr persönliche Weise. Dabei kommt er zu immer neuen Definitionen. Mir hat am besten gefallen: „Das Zuhause ist kein Paradies, aus dem wir vertrieben wurden. Dieses Paradies hat nie existiert. Sich ein Zuhause zu suchen bedeutet nicht, nach einer besseren Stadt Ausschau zu halten, nach einem schöneren Landstrich, einem anderen Land. Sich ein Zuhause zu suchen bedeutet, einen Ort in der Welt zu finden, an dem wir ankommen – und dieser Ort wird zuallererst ein innerer Ort sein, ein Ort, den wir uns erarbeiten müssen.“

Daniel Schreiber ist mit Zuhause ein kluges, erhellendes und unterhaltsames Buch gelungen, in dem wahrscheinlich jeder Leser den einen oder anderen Aspekt finden wird, in dem er sich wiederfindet.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlug marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung – Annie Dillard „Pilger am Tinker Creek“

Matthes & Seitz, 22.- €

Lange bevor der jetzige Natur- und Tier-Boom in der Bücher- und TV-Welt ausgebrochen ist, lebte Annie Dillard in den sich nördlich von Oregon erstreckenden Blue Mountains, auf den Spuren von Henry David Thoreaus Walden, aber auch, um die Folgen einer schweren Krankheit auszukurieren. Über diese Zeit hat sie 1974 das Buch Pilgrim at Tinker Creek verfasst, das mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde und 1996 bei Klett Cotta unter dem Titel Der freie Fall der Spottdrossel erschien. Jetzt hat der Matthes & Seitz Verlag es in seiner wunderbaren Reihe Naturkunden mit dem Originaltitel Pilger am Tinker Creek wieder aufgelegt, und ich stelle mit großer Freude fest: es fasziniert mich genauso wie beim ersten Lesen und hat nichts von seiner Frische und sprachlichen Kraft eingebüßt.

Der Text folgt den Jahreszeiten, ist aber letztlich an keine Chronologie gebunden. Dillard verbringt ihre Tage mit langen Wanderungen, beobachtet Tiere und Pflanzen und lässt ihre Gedanken herumstromern. Wissbegierig und mit großer Neugierde beschreibt sie, was ihr begegnet. Assoziativ, aber nie beliebig, fragend und offen für alles, was kommt – was oft zu unerwarteten Erlebnissen führt. Eben noch in die Betrachtung von Schönheit versunken oder erheitert, kann der Text in puren Schrecken kippen. Zum Beispiel als sie erkennt, dass der halb aus dem Wasser lugende Frosch von unten von einer Riesenwanze ausgesaugt wird, bis seine Augen brechen und er als leere Hülle ganz ins Wasser sinkt. Ihre Themen sind so vielfältig wie die Natur in ihrer Umgebung. Dillard hat die Geduld eines Jägers und ist eine Meisterin im Anpirschen, die mit derselben Freude Vögeln, Eichhörnchen, Schildkröten und Bisamratten auflauert, mit der sie mit Staunen und Entsetzen das Fress- und Paarungsverhalten von Insekten beobachtet.

Fragen nach der Sinnhaftigkeit der Schöpfung spürt sie in philosophischen, religiösen und literarischen Texten nach, zitiert Statistiken, befragt das eigene Befinden – alles in einer farbigen, lebendigen, temporeichen, humorvollen Sprache zwischen Poesie und Drastik. Pilger am Tinker Creek geht dabei weit über pure Naturbetrachtungen hinaus. Annie Dillard hat eine Schule des Sehens geschrieben, deren Ziel die Veränderung der alltäglichen Wahrnehmung ist: sehen, beobachten, benennen und sich versenken. Letzteres beschreibt sie als etwas, das nie willentlich herbeizuführen ist, wofür sie nur durch Ausdauer und große Ruhe die Bedingung schaffen kann. Dazu gehört der immer wieder unternommene Versuch, das ewige innere Gerede zum Schweigen zu bringen – dann weitet sich manchmal der Blick, und dieser Augenblick ist die absolute Gegenwart.

1996, beim ersten Erscheinen des Buches in Deutschland, schrieb Thomas Linden in der Berliner Zeitung: „ …die 22 Jahre Verspätung, mit denen ‚Pilgrim at Tinker Creek‘ bei uns eingetroffen ist, haben ihm nichts von seiner Aktualität genommen. Im Gegenteil, in unserer Zeit, in der die Welt der Information die beobachtete Welt zunehmend verdrängt, stellt dieses Buch ein rares Meisterwerk dar, das uns lehrt, über dem geduldigen Schauen wieder Erfahrungen zu machen. Insofern gehört ‚Der freie Fall der Spottdrossel‘ zu jenen Büchern, die man getrost vererben kann, weil ihre Bedeutung in Zukunft noch wachsen wird.“ Dem ist auch 2016 nichts hinzuzufügen.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt am Main

Buchempfehlung – Abbas Khider „Ohrfeige“

Hanser Verlag, 19.90 €
Hanser Verlag, 19.90 €

Die titelgebende Ohrfeige ist für Frau Schulz bestimmt. Sie könnte auch Maier oder Müller heißen, aber mit Sicherheit sitzt sie in einem deutschen Amt und macht Dienst nach Vorschrift. Wer hier die Hand hebt, ist zunächst einmal einerlei, denn jeder, der mit Behörden oder auch nur Anträgen zu tun hatte, stand schon einmal hier, der Verzweiflung nahe. Wem es aber gelingt, seine Formulare ordnungs- und wahrheitsgemäß auszufüllen, der darf sich glücklich schätzen.

Deshalb ist es dann doch nicht einerlei, wer Frau Schulz in Abbas Khiders Roman ohrfeigen möchte, denn es ist kein Bürger dieses Landes, sondern einer jener jungen Asylsuchenden, die gerade tagein tagaus die Schlagzeilen beherrschen.

Er heißt Karim Mensey, er ist Anfang 20, er stammt aus dem Irak. Hätte er Frau Schulz seine Geschichte wahrheitsgemäß geschildert, er wäre längst abgeschoben worden: Karim wurde in seinem Land nicht politisch verfolgt, ist aber trotzdem geflohen. Warum? Das soll hier gar nicht verraten werden, auch ein Roman hat seine Intimitäten, die man nicht gleich preisgeben sollte, erst recht nicht, wenn der ruhige und klare Erzählstil dem Leser den Protagonisten so nah ans Herz zu legen vermag, als wäre er einer von uns. Als stamme Karim nicht aus einem 4000 Kilometer entfernten Land, in dem verheerende Kriege geführt wurden und werden und Terroranschläge auf der Tagesordnung stehen. Diese Version der Weltgeschichte tritt in Khiders Roman in den Hintergrund. Das kann man bemängeln. Aber man sollte sich deshalb die scheinbar so private Geschichte Karims nicht entgehen lassen, denn Karims Schicksal ist eines, das auch uns, unseren Kindern oder Kindeskindern passieren könnte –nicht nur jenen armen Menschen, die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort auf die Welt gekommen zu sein: im Kulturland zwischen Euphrat und Tigris, dem Land der Hängenden Gärten von Babylon.

Karim flieht mit einem klaren Ziel vor Augen: er möchte nach Paris, denn dort wartet Onkel Murad auf ihn. Am Vorabend der Flucht näht ihm die Mutter liebevoll das gesparte Geld in den Gürtel, küsst ihren Sohn zum letzten Mal. Die Hoffnung ist groß. Fünf Wochen ist Karim unterwegs, im Auto, im Schlauchboot, auf der Fähre, im Zug und wieder im Auto – nur nachts dürfen die Flüchtlinge für ein paar Minuten ins Freie. Niemand sagt ihnen, wo sie sind, jegliche Kommunikation mündet in babylonischer Sprachverwirrung. Bis ihn frühmorgens der Fahrer eines Minitransporters auf irgendeiner Landstraße aussetzt. Karim denkt, er sei in Frankreich – die Schlepper sollen die restliche Zahlung erst bekommen, wenn er sicher bei seinem Onkel angekommen ist –, aber Karim wird sein Ziel niemals erreichen. Mitten im europäischen Winter lässt er seine Flüchtlingsklamotten in den Schnee fallen und versucht, notdürftig hinter einem Baum versteckt, seine Herkunft hinter einer „schicken schwarzen Hose“ und einem „eleganten Hemd“ zu verbergen. Es nützt alles nichts, kaum hat Karim das Bahnhofsgebäude betreten, fragt ihn die Polizei nach dem „Passport?“ – „No Passport“, die Handschellen klicken. Sie untersuchen alle Öffnungen der Kleider, alle Öffnungen des Körpers, sie suchen routiniert und finden das liebevoll eingenähte Geld, konfiszieren es ebenso ungerührt wie die letzten Zigaretten.

Der eben noch Fliehende wird festgesetzt und ist für die kommenden Jahre jeglicher Aktivität beraubt: Karim darf nicht zu seinem Onkel nach Paris, hat er doch in Deutschland zuerst den europäischen Boden betreten und muss hier seinen Asylantrag stellen, Karim darf nicht arbeiten, er darf keinen Deutschkurs belegen, Karim darf nur eines: wohnen.

Wie Karim gegen all die ihn erstickenden Vorschriften für ein menschenwürdiges Leben kämpft, wie all seine “Kollegen“ im Asylantenheim ihr Leben ertragen, es feiern und daran verzweifeln und wieder neue Hoffnung schöpfen, das ist nicht nur Deutschland Anfang der Nullerjahre, das ist auch Deutschland 2016.

Khider hat in diesen aufgeregten Zeiten einen wunderbar unaufgeregten Roman geschrieben.

Ines Lauffer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt am Main

Buchempfehlung – J.J. Abrams & Doug S. Dorst „S. – Das Schiff des Theseus“

theseus

Ehrfurcht packt den Leser, wenn er das Siegel des Schubers löst. Sofort fallen ihm aus dem Buch handgeschriebene Briefe, Postkarten und sogar eine auf eine Serviette gezeichnete Karte entgegen. „S“ ist ein Buchkunstwerk, das den Leser immer wieder überrascht und denselben Schauder über den Rücken jagt, als habe er selbst eine Kiste mit Hinweisen auf eine geheimnisvolle Geschichte auf dem Dachboden gefunden. Die Idee für dieses Projekt stammt von Regisseur J. J. Abrams, der unter anderem für den neuen „Star Wars“-Film verantwortlich ist. Für die Ausführung heuerte er den Autor Doug Dorst an, der kreatives Schreiben an der Texas State University lehrt. Die Umsetzung dieser ambitionierten Idee ist auch in der deutschen Fassung erstaunlich gut gelungen.

Erzählt wird die Geschichte auf vier Ebenen. Im Schuber (die erste Ebene), der den wirklichen Paratext enthält und die Autorschaft Abrams und Dorst zuschreibt, findet sich ein Band mit vergilbten Seiten aus dem Jahr 1949, der anmutet, als stamme er aus einer amerikanischen Bibliothek. Alles weist darauf hin: Der Aufkleber mit der Signatur am Buchrücken, ein Zettel mit eingestempelten Rückgabefristen im hinteren Buchdeckel und – ironischerweise – ein Stempel mit dem Hinweis an die Bibliotheksnutzer, das Buch pfleglich zu behandeln und von Eintragungen abzusehen. Diese zweite Ebene besteht aus einem Roman aus der Feder des geheimnisvollen Autors V. M. Straka, eine Abenteuer- und Verschwörungsgeschichte rund um S, der sein Gedächtnis verloren hat und sich mühsam in der Welt zurechtzufinden versucht. Jahrelang segelt er auf einem Schiff umher und wird mit gefährlichen Aufträgen betraut. Dabei versucht er immer wieder herauszufinden, wer ihn wozu für welche Mission einsetzen will, auf welcher Seite er steht, wem er trauen kann und wer er eigentlich selbst ist.

Die dritte Ebene besteht aus dem Vorwort und den Fußnoten eines gewissen F. X. Caldeira. Straka, so Caldeira im Vorwort, sei einer der einflussreichsten Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts. Dennoch sei seine wahre Identität noch immer ungeklärt. Auch wenn es viele Kandidaten gebe, die hinter dem Namen Straka stehen könnten, konnte bisher keine der Vermutungen bestätigt werden. Caldeira selbst ist dem Leser jedoch keine Hilfe beim Lösen des Geheimnisses um den Autor Straka. Schnell wird klar, dass Caldeiras Kommentare mehr sein müssen als ergänzendes Informationsmaterial, denn sie sind seltsam unsachlich und verwirren das Rätsel um S und seinen Autor Straka mehr, als dass sie klären.

Die vierte Ebene des Buches drängt sich dem Leser bereits auf den ersten Blick auf: Die Seitenränder sind durchgehend eng mit handschriftlichen Notizen in verschiedenen Farben und zwei verschiedenen Handschriften gefüllt. Zwischen den Seiten liegen darüber hinaus handgeschriebene Briefe, Fotos, Zeitungsartikel, Postkarten, Zeichnungen und allerlei Material mehr, das von der Arbeit zweier Studenten zeugt. Die Collegestudentin Jen und Eric, der am selben College über Straka promoviert, haben, ohne sich persönlich zu kennen, damit begonnen, sich auf den Seitenrändern über die Geheimnisse um Straka, Caldeira und S auszutauschen. Sie wollen gemeinsam die vielen Rätsel lösen, die das Buch aufwirft, und verstecken nach ihren Einträgen das Buch in der Collegebibliothek, damit es der jeweils andere dort finden und seine Antworten hineinschreiben kann. Ihr Dialog bezieht sich aber nicht nur auf die Geschichte des Buches und den Kontext seiner Entstehung. Je besser sie sich kennenlernen, desto mehr tauschen sie sich auch über ihre persönlichen Probleme, Sorgen und Träume und wichtige Erlebnisse aus ihrer Kindheit aus.

Dem Leser stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die beiden Handlungsstränge stehen. Handelt es sich um Rahmen- und Binnengeschichte oder stehen sie gleichwertig nebeneinander? In welcher Reihenfolge nähert man sich dem Text am besten? Soll man zuerst die Geschichte von S lesen, um sich dann in einem zweiten Anlauf den Kommentaren an den Seitenrändern zu widmen? Oder besser doch alles gleichzeitig? Comic-erprobte Leser werden einen Vorteil haben, denn eine lineare Lektüre fällt schwer bei den vielen Kommentaren und Beigaben, die die Geschichte in verschiedenen Richtungen zugleich erzählen.

Die Wirklichkeit, in der Jen und Eric leben, mischt sich immer mehr auf unheimliche Weise mit der Geschichte Strakas. Auch das Buchprojekt selbst stellt dem Leser – nicht zuletzt mittels der einladenden, noch freien Stellen an den Seitenrändern – diese Frage: wo hört hier die Geschichte auf und wo beginnt die Wirklichkeit des Lesers?

Alena Heinritz, Mainz

Buchempfehlung – Jane Gardam „Ein untadeliger Mann“

gardam
Hanser Berlin, 22.90 €

Der Jurist Edward Feathers ist ein untadeliger Mann, der sein Leben der Jurisprudenz und dem britischen Empire verschrieben hat. Der langjährige Richter in Hongkong, geboren in Malaysia, erzogen in England, jetzt, mit über achtzig Jahren, wieder in England lebend, ist der englische Gentleman par excellence: stets perfekt gekleidet, von vollendeten Manieren und ein Meister im Verbergen jeglicher Gefühlsregung. Erst nach dem unerwarteten Tod seiner Frau Betty bekommt das so perfekte Gebäude seines Lebens plötzlich erste Risse, durch die allmählich Erinnerungen einsickern, die er jahrzehntelang verdrängt hat.

Denn Edward Feathers zählte zu den „Raj-Kindern“, Kindern von englischen Beamten, die in den Kolonien geboren und schon in sehr jungen Jahren nach England gebracht wurden, da nach allgemeiner Meinung das Leben in den Kolonien für Kleinkinder zu gefährlich war. Man fürchtete Tropenkrankheiten genauso wie die Verwilderung der Sitten unter dem Einfluss der „Eingeborenen“. In vielen Fällen landeten diese Kinder dann bei Verwandten oder in Pflegefamilien, hatten jahre- oder jahrzehntelang keinerlei Kontakt zu ihren Eltern und wuchsen ungeliebt und oft genug vernachlässigt auf. Und so sind die Erinnerungen, denen sich Edward jetzt stellen muss, vor allem geprägt von Verlusten – dem Verlust seines geliebten malaysischen Kindermädchens, später seines besten Freundes im Krieg bis schließlich zum Verlust seiner Frau –, aber auch von einer Unfähigkeit zu lieben, die nicht nur ihn erschreckt. Stück für Stück wird so die Geschichte eines Menschen entfaltet, aber auch einer Gesellschaftsschicht, die mit den eigenen Kindern nicht weniger brutal umgeht als mit den Einwohnern der Kolonien, über die sie herrscht – und das weniger aus Bösartigkeit als aus emotionaler Unfähigkeit, sind doch die Eltern unter denselben Umständen aufgewachsen und haben dieselbe Lieblosigkeit erfahren, die jetzt ihre Kinder trifft.

Jane Gardam erzählt diese Geschichte lakonisch, ohne jede Sentimentalität, aber dafür mit oft scharfer Ironie. Die mittlerweile selbst 87jährige Autorin versteht es nicht nur meisterhaft, die Zwischenkriegszeit in England und das Leben der gehobenen Schichten lebendig zu machen, sie versetzt ihren fast gleichaltrigen Protagonisten, an dem in seinem behüteten, abgeschiedenen Leben auf dem Land alle Veränderungen vorbeigegangen sind, mit viel Witz auch in Situationen, in denen er schockartig mit diesen Veränderungen konfrontiert wird. Es ist gut, dass endlich ein Roman der in England sehr bekannten und mit vielen Preisen ausgezeichneten Autorin ins Deutsche übersetzt wurde, und man kann nur auf weitere Übersetzungen hoffen, denn es kommt nicht oft vor, dass ein Buch, das emotional so tief berührt und aus dem man so viel Neues lernt, gleichzeitig auch noch so viel Vergnügen macht.

Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main

Buchempfehlung – Lydia Tschukowskaja „Untertauchen“

untertauchenIm Februar 1949 verbringt die russische Dichterin Nina Sergejewna einige Wochen in einem Sanatorium für Künstler in der Nähe von Moskau auf dem Lande. Sie hofft darauf, dort „untertauchen“ zu können. In Stille und Abgeschiedenheit, fern von dem, was ihren Alltag in Moskau quälend macht: das Zusammenleben mit den willkürlich zusammengewürfelten Menschen in der „Kommunalka“, die Sorgen um die Tochter, die Erinnerungen an den spurlos verschwundenen Mann. Für vier Wochen wird sie versorgt werden, sich um nichts kümmern müssen. Und der größte Luxus ist für sie ein Zimmer für sich allein.

Das Sanatorium entpuppt sich als Zauberberg en miniature. Eine kleine, abgeschlossene Gruppe von Menschen, die bei den gemeinsamen Mahlzeiten zusammen sitzt, bei medizinischen Anwendungen nur durch Vorhänge getrennt in der Badewanne liegt, sich auf Spaziergängen trifft. Die wichtigsten von ihnen sind ein Regisseur mit seiner jungen Begleitung, die sich krampfhaft jugendlich gebende Hauswirtschafterin, ein junges Mädchen, das dort arbeitet, ein alter jüdischer Dichter, ein eitler Journalist. Schnell sind Nina Sergejewna ihre Mitmenschen zuwider. Jeder bewegt sich im Kosmos seiner persönlichen Eitelkeiten, verkündet seine Meinungen ungefragt, und sie kann weder der Parteipresse noch den ideologischen Radiosendungen entgehen.

Aber da ist auch noch der chamäleonhafte Schriftsteller Bilibin. Ein Mann, der viele Gesichter und Stimmen hat und der sie, fast gegen ihren Willen, fasziniert. Als sie auf einem gemeinsamen Spaziergang erfährt, dass er in einem Straflager war, hofft sie, mehr über das Leben dort und damit vielleicht über die Umstände erfahren zu können, unter denen ihr Mann getötet wurde. Eine zarte Freundschaft bahnt sich zwischen den beiden an, und für Momente eröffnet sich für Nina Sergejewna die Möglichkeit einer neuen Beziehung mit einem Gleichgesinnten. Bis sie enttäuscht feststellt, dass auch Bilibin den Weg der Anpassung gehen wird und sie seine „wahre“ Stimme nur im Geheimen hören kann, während sie mit ihrer leidenschaftlichen Verteidigung der vom Regime geächteter Dichter Gefahr läuft, selbst ins Visier linientreuer Genossen zu geraten.

Die 1907 geborene Lydia Tschukowskaja hat sämtliche Phasen der russischen Gesellschaft nach der Revolution erlebt. Prägend war für sie die Zeit des großen stalinistischen Terrors, in der ihr damaliger Mann spurlos verschwand. Sie muss eine sehr mutige und widerständige Frau gewesen sein, die sich für Schriftsteller einsetzte, die Publikationsverbot hatten. Der 1949 begonnene Roman „Untertauchen“ erschien zuerst 1972 in Amerika und führte dadurch 1974 zu ihrem Ausschlussaus dem Schriftstellerverband. (Ihre beeindruckende Rede vor dem Verband hat der Verlag dankenswerterweise im Anhang abgedruckt.)Das gesellschaftliche Klima, das sie in „Untertauchen“ beschreibt, war ihr zutiefst vertraut, und wie sie mit jeweils wenigen Sätzen die Atmosphäre des Sanatoriums und die Menschen, die darin arbeiten, sowie die Gäste beschreibt, ist meisterhaft. Ist der Ton der Ich-Erzählerin anfangs noch etwas naiv-poetisch, wandelt er sich im Laufe des Romans zu Melancholie und Ernüchterung. Die wenigen handelnden Personen und erzählten Situationen führen dem Leser die Stimmung der Zeit vor: Intellektuellenfeindlichkeit, Denunziation, Einsamkeit, Verhaftung, Verhöre, Lager machen die Menschen zu Tätern und Opfern – häufig beides in einer Person. Es gibt diejenigen, die ahnungsvoll auf den nächsten Tag blicken, und die, die sich anpassen, aber wissen, dass auch ihr Untergang jederzeit kommen kann. Nichts und niemand ist in diesem System sicher. Heute trifft Verfolgung und Hetze Juden und Kosmopoliten, morgen werden es andere sein. Und so drehen die meisten ihr Fähnchen nach dem Wind, denn wer heute noch verteidigt wird, kann morgen schon zum Ausgestoßenen werden.

„Untertauchen“ ist ein bitteres Zeitportrait. Dass man es trotzdem mit großer Freude liest, verdankt sich Tschukowskajas ruhiger, schnörkelloser und doch poetischer Sprache, die selbst eine kafkaesk anmutende Erzählung in der Erzählung, in der Frauen im tiefsten Winter vor einer Kommandantur stehen, um Informationen über den Verbleib ihrer Männer zu erhalten, eine tiefe Kraft gibt. Wie gut, dass der Dörlemann Verlag das Buch, das in den siebziger Jahren schon einmal auf Deutsch erschienen war, für den heutigen Leser erneut herausgebracht hat, denn mit „Untertauchen“ ist eine großartige Schriftstellerin wieder zu entdecken.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt