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Buchempfehlung – Almudena Grandes „Inés und die Freude“

grandesinesAls im Herbst 1944 das kommunistische Untergrundradio die bevorstehende Invasion des Arantals in den Pyrenäen durch den antifranquistischen Widerstand meldet, tut sich für Inés, Tochter aus einer alten spanischen Familie und Schwester eines Offiziers in Francos Armee, eine neue Welt auf. Denn Inés ist trotz ihrer angesehenen Familie, die ganz und gar auf Seiten der Falange steht, selbst eine „Rote“. Nach dem Verrat durch ihren Liebhaber saß sie im Gefängnis, wurde anschließend von ihrem Bruder für Jahre ins Kloster eingesperrt und schließlich mit dessen ungeliebter Frau in die finsterste Provinz verbannt. Aber jetzt kann sie sich den Kämpfern der Invasion anschließen – und reitet auf ihrem Pferd Lauro, in der Tasche das Geld ihres Bruders und eine geladenen Pistole und in der Hutschachtel fünf Kilo selbstgebackener Rosquillas, die beliebten süßen Kringel, mitten hinein ins Hauptquartier der Invasion und in die Arme des Mannes, der ihr Schicksal wird. Und damit beginnt die Geschichte einer historischen, wenn auch weitgehend unbekannten Episode aus den Nachwehen des spanischen Bürgerkriegs, verknüpft mit der Geschichte von Liebe in den Zeiten des Kampfes und des Untergrunds. Inés und ihr Geliebter Galan sind fiktive Personen, aber ihr Schicksal im Roman wird durch historische Figuren geprägt, die in einem komplizierten Spiel aus Machtkämpfen, Parteistrategien und den Interessen Moskaus und London die Fäden ziehen, sich aber immer auch in den Fäden der eigenen Gefühle verstricken.

„Inés und die Freude“ ist der erste Teil der auf sechs Bände angelegten „Episoden eines endlosen Krieges“; der zweite Teil ist der in Deutschland zuerst erschienene und viel gelobte Roman „Der Feind meines Vaters“. Man kann die Entscheidung des Verlags, die Reihenfolge zu ändern, nachvollziehen, denn „Der Feind meines Vaters“ ist nach allen literarischen Kriterien zweifellos das bessere Buch. Almudena Grandes hat in „Inés und die Freude“ ein großes Panorama entworfen, vom Bürgerkrieg, seiner Vor- und Nachgeschichte, vom Exil bis zur Rückkehr nach Spanien nach Francos Tod, einschließlich der Strategien der kommunistischen spanischen Führung in Moskau und Lateinamerika, der Auseinandersetzungen in der Partei und deren Folgen für das Leben der in Spanien zurückgebliebenen Untergrundkämpfer. Das macht die Lektüre streckenweise anstrengend, führt zu Verwirrung bei der Leserin, die die Einzelheiten der spanischen Geschichte nicht parat (und ein Register mit Erläuterungen zu den historischen Ereignissen und Personen schmerzlich vermisst) hat, und zu zahlreichen, auch ärgerlichen Redundanzen. Davon sollte sich aber niemand abhalten lassen, das Buch zu lesen, denn erstens regt es dazu an, bestimmte Ereignisse und Personen selbst im Internet zu recherchieren und auf diese Weise einen so spannenden wie lehrreichen Abend zu verbringen, und zweitens kann man sich, vor allem ab dem zweiten Teil, in eine wunderbare Liebesgeschichte fallen lassen, die nicht nur an Romantik nichts zu wünschen übrig lässt, sondern auch noch durchzogen ist vom äußerst appetitanregendem Duft besten spanischen Essens. Meine Empfehlung also: Lesen und auf den dritten Teil gespannt sein!

Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main

Der neue Bildband von Barbara Klemm und Stefan Moses

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Von Barbara Klemm signiert!

Barbara Klemm und Stefan Moses sind zwei Fotografen, die auf ihre jeweils ganz eigene Art das Politik- und Zeitgeschehen, das Leben in Deutschland und andernorts über Jahrzehnte fotografisch begleitet haben. Barbara Klemm (geb. 1939) war 40 Jahre für die Frankfurter Allgemeine Zeitung unterwegs, die sie mit ihren Fotografien entscheidend prägte. Stefan Moses (geb. 1928) erreichte durch seine Reportagen für den Stern, die Neue Zeitung und für Magnum  ein breites Publikum. Bei beiden steht der Mensch im Vordergrund.

Barbara Klemm ist Mitglied und Gesellschafterin unserer Buchhandlung.

Vier Jahrzehnte prägte sie mit ihren Bildern die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, besonders die legendäre samstägliche Tiefdruckbeilage. Als Chronistin deutscher Zeitgeschichte ist sie ebenso berühmt wie als Reporterin, die alle Kontinente bereiste. Dabei kann sie Geschichten mit einem einzigen Bild erzählen – in einer Intensität und Dichte wie kaum jemand sonst. In dem weitaus überwiegenden Teil ihrer Fotografien geht es um den Menschen und darum, wie er lebt. Klemms Bildern ist alles Plakative fremd und man fragt sich angesichts der unaufdringlich erscheinenden Aufnahmen oft, wie die Fotografin es fertig bringt, mit ihrer Kamera ohne viel Aufhebens anwesend zu sein.

Bereits seit einem halben Jahrhundert sind Deutschland und die Deutschen das große Thema von Stefan Moses. Seine beeindruckende Serie der Emigranten versammelt über 100 Porträts von Persönlichkeiten, die ihre Heimat nach 1933 aus Angst vor dem Terror der Nationalsozialisten verlassen mussten. Ergänzt wird diese Werkgruppe durch Fotografien von Menschen, die kurz vor und nach der Wende auf mehreren Reisen durch die DDR entstanden sind.

K / M .   
Barbara Klemm / Stefan Moses. Katalog zur Ausstellung im Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, 2014 .   Mit Texten von Alexander Kluge, Stefan Koldehoff, Peter Iden und Andreas Bee .   Herausgegeben von Walter Smerling. 2014 .   280 S.   m. 238 Fotografien von Barbara Klemm und Stefan Moses.   Nimbus Verlag, 48,- €

Buchempfehlung – Jhumpa Lahiri „Das Tiefland“

U1_978-3-498-03931-8.inddAm Rande Kalkuttas, an einem während der Monsunzeiten überschwemmten Tieflandgebiet, wachsen in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Brüder Subhash und Udayan auf. Obwohl durch ein Jahr Altersunterschied getrennt, sind sie unzertrennlich wie Zwillinge. Aber sie sind auch sehr verschieden: Subhash, der ältere, ist ruhig, zurückgezogen und scheut Konflikte, während der extrovertierte Udayan sich ins Leben stürzt und keinem Abenteuer aus dem Weg geht. Ihrer Familie ist nicht reich, aber sie schafft es, den Brüdern eine gute Schulausbildung zu geben, und da beide gute Schüler sind, können sie die High-School besuchen.

Die enge Verbundenheit der Brüder endet, als Subhash für seine Dissertation in eine kleine Universitätsstadt an der amerikanischen Ostküste geht, während sich Udayan in Kalkutta einer maoistischen Gruppierung anschließt, die gesellschaftliche Ungerechtigkeiten in Bengalen auf militante Weise beseitigen will. Kurz nachdem Udayan seinem Bruder von seiner Hochzeit geschrieben hat, kommt die Nachricht, dass er von der Polizei getötet wurde. Subhash fliegt nach Kalkutta und heiratet Gauri, die junge, schwangere Witwe seines Bruders, die von den Eltern abgelehnt wird. Er holt sie nach Amerika und zieht das Kind seines Bruders als sein eigenes auf. Aber sie werden keine Familie. In Gauri scheinen alle Gefühle abgetötet, auch zu ihrer Tochter Bela findet sie keine Verbindung. Und eines Tages, als Sughash und Bela von einem Besuch in Kalkutta zurückkehren, ist Gauri gegangen.

Jhumpa Lahiri erzählt ihre Geschichte mit langem Atem, in Vor- und Rückblenden, aus den unterschiedlichen Perspektiven der handelnden Personen. So entsteht nach und nach das Bild einer zerbrechenden Familie: die traditionellen Eltern können nicht nachvollziehen, dass der Sohn seine Frau selbst gewählt hat, und dem Älteren nicht verzeihen, dass er die Witwe heiratet. Udayan gefährdet durch sein radikales politisches Engagement alle und verliert sein Leben. Subhash, der Gauri aus einer Mischung aus Mitleid und Verpflichtung dem toten Bruder gegenüber geheiratet hat, hofft, dass sich zwischen ihnen doch noch Liebe und Verbundenheit entwickeln können. Er leidet darunter, dass er es nicht fertig bringt, seiner Tochter zu gestehen, dass er nicht ihr leiblicher Vater ist. Gauri, verwirrt und erstarrt, möchte nur eines: ihren Universitätsabschluss machen und in Ruhe gelassen werden. Und Bela, die Tochter, wird ein innerlich wie äußerlich heimatloses Wesen.

„Das Tiefland“ ist die Geschichte von Menschen, die nirgendwo mehr verwurzelt zu sein scheinen – aber es ist keine typische „Migrantengeschichte“, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse es unmöglich machen, irgendwo anzukommen. Die Zerrissenheit der Personen ist nicht nur den äußeren Bedingungen geschuldet, sie liegt in ihnen. Es ist ein Buch über Schuld und was sie im Menschen anrichtet, wenn sie sich in einnistet und sie in die Einsamkeit treibt, weil sie nicht darüber sprechen können. Sie zu überwinden – dazu gehören Ehrlichkeit, Vertrauen, Verzeihen und viel Mut.

Lahiri erzählt in einer ruhigen, fast schlichten Sprache, was den Text anfangs etwas gleichförmig erscheinen lässt. Aber je länger man liest, desto mehr wird man gefesselt. Lahiri psychologisiert nicht oder benutzt die gesellschaftlichen Zustände, um das Handeln ihrer Figuren zu erklären. Das Gesellschaftliche spiegelt sich in den Beziehungen der Menschen, aber was in den einzelnen vorgeht, davon gibt die Autorin nicht viel preis. Daher bleibt es dem Leser überlassen, welche Haltung er dazu einnehmen will. Das macht das Buch ungeheuer vielschichtig und geht weit über das inzwischen verbreitete Genre des interkulturellen Romans hinaus.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

 

Buchempfehlung – Wolf Haas „Brennerova“

brennerovaSimon Brenner, Kriminaler a.D. und mittlerweile Privatdetektiv in Ruhe, hat ein Problem. Die Frauen. Besser gesagt, die Russinnen. „Früher hat man gesagt, die Russinnen. Die sind groß und muskulös wie Hammerwerfer, die arbeiten beim Straßenbau, und unter den Achseln haben sie so viele Haare, dass sich noch ein Toupet für ihren Mann ausgehen würde und ein zweites für den ersten Parteisekretär. Da hat man gesagt, Russinnen sind Mannweiber, und wenn sie ihren Diskus werfen, musst du in Deckung gehen, weil Kraft wie ein Traktor aus Minsk (. . .) Dann hat es auf einmal geheißen, die Russinnen, das sind die dünnsten Fotomodelle, die teuersten Nutten, da musst du als Mann schon ein Hochhaus haben, damit sich so eine überhaupt von dir scheiden lässt, am besten mit einem Privatzoo, weil Beine wie eine Giraffe, Taille wie eine Wespe, Augen wie die Biene Maja.“

Natürlich weiß er, dass den Internet-Russinnen, die einen Österreicher heiraten wollen, nicht zu trauen ist – wozu hat man schließlich seine Lebenserfahrung? – muss aber dennoch immer mal wieder nachschauen, ob da nicht vielleicht doch eine zu finden ist, eine potentielle Brennerova eben. Das Dumme ist, dass er tatsächlich eine findet. Die Nadeshda aus Nischni Nowgorod nämlich, so schön wie auf den Fotos und ehrlich noch dazu, weil sie will ihn eigentlich nur, weil er Kriminaler a.D. ist, denn er soll ihre in Wien verschwundene Schwester suchen, die Serafima, von Mädchenhändlern verschleppt. Und weil der Brenner so ein Frauentränenumfaller ist, kommt die Nadeshda dann auch tatsächlich nach Wien, und er heiratet sie auch, weil das will die Herta so, mit der er eigentlich ja wieder zusammen ist, was die Sache nicht einfacher macht. Und die Serafima sucht er auch, aber der Gruntner und der Infra, die Serafimas Aufenthaltsort kennen, müssen sich ja ausgerechnet mit dem Zuhälter Lupescu anlegen, was zu vier abgehackten (und wieder angenähten) Händen und einem Todesfall führt, aber nicht zu Informationen über Serafima.

Die Fremdenpolizei ist hinter ihm her, weil sie ihm eine Scheinehe unterstellt, obwohl doch alles wie in einer richtigen Ehe ist: „Nichts wissen vom Partner, kein Sex und möglichst viel Abstand“ – wo also ist da der Unterschied? Die Herta sucht in der mongolischen Wüste nach ihrem schamanischen Krafttier, und gerade, als er die Serafima – Zufall Hilfsausdruck – gefunden hat, stellt er fest, dass „es ihm mit seiner Russin genauso gegangen ist, wie er von Anfang an befürchtet hat“, weil sie verlässt ihn wegen dem Infra mit den abgehackten und wieder angenähten Händen und dem vielen Geld. Aber das ist ihm egal, weil gerade die Herta mit ihrer Wandergruppe in der Wüste entführt worden ist und die Entführer als „Gebühr für die spirituelle Ausbeutung ihrer Gegend“ 1 Million Dollar Lösegeld pro Person verlangen und er nach Ulan Bator muss und das Lösegeld überbringen. Man muss schon sagen, dass der Brenner in „Brennerova“ ganz schön rum kommt. Globalisierung Hilfsausdruck. Aber wie schön, dass er nach all den Jahren wieder da ist!

Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main

Buchempfehlung – Robert Seethaler „Ein ganzes Leben“

Oft sind es die klaren, schlichten Texte, die sich im Leserhirn mit eindrucksvollen Bildern festsetzen denen man noch lange nachspürt. Robert Seethalers „Ein ganzes Leben“ ist so ein Buch. Es erzählt die Geschichte von Andreas Egger, der als vierjähriger Bub nach dem Tod der Mutter zum Bauer Kranzstocker aufs Land geschickt wird. Der nimmt den illegitimen Bankert einer seiner Schwägerinnen nur auf, weil er ein paar Geldscheine in seinem Beutel mitbrachte. Die wenigen Erinnerungen, die Eggert an seine Kindheit hat, sind die an Arbeit und Prügel. Von beidem gab es genug, bis der Bauer dem Kind eines Tages das Bein zertrümmert. Fortan hinkt der Knabe, wächst aber trotzdem zu einem starken jungen Mann heran, der sich als Hilfsknecht verdingt.

Als der Fortschritt mit einem Trupp Arbeiter und Techniker, die eine Bergbahn errichten, ins Tal kommt, schließt er sich ihnen an. Da er stark und schwindelfrei ist, arbeitet er mit denen, die für die Sprengungen Löcher in den Fels bohren. Angst kennt er nicht – nur als ihm der alte Hörnerhannes, den er sterbend mit der Kiepe ins Tal schleppt, herunterspringt und im tiefen Schnee auf Nimmerwiedersehen verschwindet, hat es ihn gegraut. Als er danach im Wirtshaus einen Schnaps trinkt, um den Schrecken zu vertreiben, lernt er Marie kennen. Sie wird die Liebe seines Lebens. Sie heiraten, leben in einem kleinen Häuschen am Hang – bis all das hinweggefegt wird.

Dann kommt der Krieg, danach Gefangenschaft und nach deren Ende die Rückkehr ins Dorf. Richtig Fuß fassen kann Egger nicht mehr, zu eigenbrötlerisch ist er geworden. Eine Zeit lang führt er Touristen auf die Berge, bis er dazu zu alt wird. Dann naht sein Ende, und irgendwann ist auch Marie wieder bei ihm.

Das ist alles. Ein ganzes Leben – mit Höhen und Tiefen, Freude und Schrecken, Krieg und Frieden und einer sich rasant verändernden Welt. Aber nichts davon ist dramatisch oder spektakulär. Nicht, dass Egger abgestumpft wäre, nur hat ihm nichts in seinem Leben je beigebracht, sich selbst wichtig zu nehmen. So nimmt er das Leben, wie es kommt. Die Schläge als Kind, bis er sich zu wehren lernt. Die Liebe zu Marie, bis sie ihm genommen wird. Die Einsamkeit und das Alter und schließlich den Tod. Was hätte aus einem solchen Menschen unter besseren Bedingungen werden können, denkt man – aber vielleicht verleiht ihm genau das Leben, das er hatte, seine stille Größe.

Schlicht wie dieses Leben ist die Art und Weise, in der Robert Seethaler erzählt. Keine Schnörkel, keine Ausschmückungen, kein Sozialpathos. Egger hadert nie mit dem Schicksal, auch wenn es wenig Erfreuliches für ihn bereit hält. Er lebt sein Leben – nicht stumpf, nicht leidend, sondern mit einer selbstverständlichen Hinnahme. Und das ist es, was aus dieser Figur etwas ganz Großartiges macht, was beim Lesen tief berührt.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co., Frankfurt

 

Buchempfehlung – Jessica Keener „Schwimmen in der Nacht“

keenerDas Leben der Familie Kunitz sieht aus wie der amerikanische Vorstadttraum. Der Vater ist Literaturprofessor an einem College, die Mutter, eine ätherische Erscheinung, geht in der Pflege des Rosengartens auf, den Haushalt macht ein schwarzes Hausmädchen. Dann sind da die vier Kinder: Peter, der älteste, die fünfzehnjährige Sarah, Robert und Elliot, der jüngste. Das behütete Leben einer wohlhabenden Mittelschichtsfamilie in einem Vorort von Boston: Gehorsam, Bildung und Musik werden großgeschrieben, man pflegt gute Kontakte zu den Nachbarn, geht in den Country Club, feiert Partys.

Aber auch das scheint ganz normal zu sein: beide Eltern trinken zu viel, der Vater neigt zum Jähzorn, und die Mutter ist hinter einem Nebel aus Tabletten verschwunden, die sie wegen unspezifischer Rückenschmerzen einnimmt. Für ein stabiles Grundgefühl im Alltag der Kinder sorgen die wechselnden schwarzen Hausmädchen mehr als die mit sich selbst beschäftigten Eltern. Peter kämpft mit dem Vater um mehr Eigenständigkeit und flüchtet sich in sein Gitarrenspiel. Der jüngere Robert legt sich mit jedem an. Er kapselt sich ab und liest nach einem ausgeklügelten System Fantasyromane. Elliot, der Jüngste, scheint mit einer unerschütterlichen Freundlichkeit gesegnet zu sein, die er aus den Gesprächen mit seiner Sammlung von Plastiktieren bezieht. Sarah, die als Erwachsene in der Rückschau die Geschichte erzählt, ist eine genaue Beobachterin. Ihr ist das dünne Eis, auf dem die Familie sich bewegt, am deutlichsten bewusst. Sie spürt die unterschwelligen Aggressionen des Vaters, die Enttäuschung der Mutter über ihren unerfüllten Traum, eine erfolgreiche Musikerin zu werden, und die verzweifelten Rückzüge der Brüder. Am meisten leidet sie unter der jeden wirklichen Kontakt überdeckenden Sprachlosigkeit.

Als die Mutter bei einem unerklärlichen Autounfall stirbt, bricht die Familie sofort auseinander. Weiterhin gefangenen in der Unfähigkeit, über das Geschehene zu reden, sucht jeder seinen Weg, mit dem Verlust fertig zu werden. Doch in dem Zusammenbruch der falschen Welt liegt auch die Chance, sich selbst und seinen Platz im Leben zu finden. Sarahs Weg führt zur ersten Verliebtheit und der Entdeckung ihrer Sexualität. Ihre Liebe zur Folkmusik, zu den Songs von Joni Mitchell, gibt ihr den Mut, eine eigene Gesangskarriere anzusteuern.

Achtzehn Jahre lang hat die für ihre Short Stories ausgezeichnete Jessica Keener an ihrem ersten Roman gearbeitet, und das Resultat ist wirklich lesenswert. Der Autorin ist eine glaubwürdige Geschichte mit gut gezeichneten Charakteren und starken Bildern gelungen, die trotz der Tragik nicht ins Sentimentale abrutscht. „Schwimmen in der Nacht“ fügt dem bekannten Topos der „amerikanischen Vorstadthölle“ eine weitere, spannend zu lesende Facette hinzu.

Ruth Roebke, Frankfurt

Buchempfehlung – Jean-Michel Guenassia „Eine Liebe in Prag“

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Der jüdische Arztsohn Josef Kaplan – die Namensähnlichkeit mit Kafkas Josef K. ist keineswegs zufällig –, Jahrgang 1910, zieht während seines Medizinstudiums durch das Prager Nachtleben, tanzt begnadet Walzer und Tango, knickt gedankenlos rechts und links die Frauenherzen, schließt sich der sozialistischen Studentenbewegung an und setzt sich zum Ärger seiner Professoren für kostenlose Behandlung der Armen und die Legalisierung der Abtreibung ein. Schließlich macht er sich so unbeliebt, dass der Vater ihn nach Paris schickt, wo er sich zu gleichen Teilen der Forschung, der Revolution, dem Tango und den Frauen widmet. Er bekommt eine Stelle am Institut Pasteur von Algier, versteckt sich vor der nach Hitlers Sieg über Frankreich einsetzenden Judenverfolgung drei Jahre in einer gottverlassene Versuchsstation, wo er an der Entwicklung eines Mittels zur Bekämpfung der Anopheles-Mücke forscht und die elenden arabischen Einheimischen medizinisch betreut, heiratet nach Kriegsende die schöne Schauspielerin Christine und kehrt schließlich mit ihr zurück in die Tschechoslowakei, unternimmt einen kurzen Ausflug in die Politik und landet schließlich als Leiter eines Lungensanatoriums in der Provinz, wohin man ihm eines Tages einen politisch offensichtlich hochwichtigen Patienten schickt, bei dem es sich um keinen anderen als Che Guevara handelt. Damit beginnt eine neue, tragische Liebesgeschichte: Josefs Tochter Helena verliebt sich in Che und einem Happyend steht nichts im Weg – außer den politischen Interessen. Am Ende, nach der friedlichen Revolution und dem Zerfall der Sowjetunion, blickt der hundertjährige Josef in Vergangenheit und Zukunft – und hört Tango auf dem Walkman.

Guenassias schwindelerregender Tour de Force mag die Dichte seines Erstlingswerks, dem „Club der unverbesserlichen Optimisten“ fehlen, dafür ist der gewählte Zeitraum zu groß, sind die Schauplätze zu verschieden. In „Eine Liebe in Prag“ reiht er höchst lebendige Episoden aneinander, bewegt sich sozusagen in Sprüngen durch die Räume und die Zeit, in einem immer aufs neue fesselnden Auf und Ab, und nimmt den Leser so mit auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle, so kafkaesk wie sentimental, so tragisch wie komisch, so ergreifend wie befremdlich. Reisen Sie mit – Sie werden es nicht bereuen.

Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main

 

Buchempfehlung – Katja Petrowskaja „Vielleicht Esther“

Suhrkamp Verlag, 2014 € 19.95
Suhrkamp Verlag, 2014
€ 19.95

Für das titelgebende Kapitel „Vielleicht Esther“ hat Katja Petrowskaja 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten. Damals lobten die Juroren einhellig die Leichtigkeit und sprachliche Schönheit, mit der die Autorin beschrieb, wie ihre jüdische Urgroßmutter im Zuge der großen Säuberung in Kiew erschossen wurde – ohne dass das Geschehen dadurch verharmlost wurde. Soviel vorweg: es ist eine der großen Qualitäten von Petrowskajas Buch, dass sie Ungeheuerliches, Verstörendes, Berührendes, Absurdes mit Leichtigkeit, Klugheit, Komik und Zartheit erzählen kann.

Die Autorin versucht, ihre weitverzweigte jüdische Familie zu rekonstruieren, deren Wurzeln in der Ukraine, in Russland und in Polen liegen. Viele sind bereits tot – verschollen, vertrieben, ermordet. Es gibt Geschichten über sie, aber auch Schweigen, und wie in jeder Familie werden Leerstellen übergangen oder durch Mythen aufgefüllt. Die wenigen Überlebenden des Krieges starben, als sie noch ein Kind war, zu jung, um Fragen zu stellen.

Einen Familienstammbaum wollte sie zeichnen, einen Scherbenhaufen hat sie gefunden, ein Puzzle, dessen Teile sich nicht ineinanderfügen wollten. Denn anders als im Westen Europas hörten die Schrecken nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf. Gab es weiterhin Antisemitismus, war es besser, keine politisch bedenklichen Familienmitglieder zu haben, war ein Erinnern an die Kriegsopfer nur möglich, wenn diese auf der „richtigen“ Seite gestanden hatten.

So erzählt sie Geschichten, die sich zu Kapiteln fügen und letztlich doch ein Ganzes werden. Von ihren Reisen, ihren Recherchen, ihren Erfahrungen und eigenen Erinnerungen. Das fügt sich weder chronologisch aneinander noch inhaltlich stringent zusammen. Ihr Erzählen ist wie das, was sie vorfindet – ein Puzzle, dessen Stücke mal hier, mal dort passen. Einzelne Bilder lassen sich zusammenfügen, andere nicht . Da finden sich Lehrer, die Waisenhäuser für taubstumme Kinder gründen, ein Großonkel, der 1932 ein Attentat auf den deutschen Botschafter in Moskau verübt, ein Großvater, der 41 Jahre nach dem Krieg wieder zu Hause auftaucht, Tanten, Onkel, Urgroßmütter und Anna und Ljolja, die in Babij Jar liegen. Aber in ihrem Netz verfangen sich auch die Geschichten gänzlich fremder Menschen, deren Schicksale sich vielleicht mit denen ihrer Familienmitglieder berührt haben könnten.

Und es gibt „Vielleicht Esther“ die so heißt, weil der Vater sich an den Namen seiner Großmutter nicht mehr erinnern kann, die er immer nur zärtlich Babutschka nannte. Die zu alt war, um auf die Flucht mitgenommen zu werden, als der Aufruf an alle Juden erging, sich zu der totbringenden Schlucht zu begeben, und die, als sie zwei Soldaten nach dem Weg fragte, sofort erschossen wurde.

Es ist die großartige Qualität dieses Buches, dass es nicht von der Last seines eigenen Inhalts erdrückt wird. Petrowskaja hat eine wunderbar klare Sprache, und dass sie noch in weiteren Sprachen zu Hause ist, gibt ihrem Ausdruck eine Bewusstheit und Vielfalt, die man bei jungen deutschen Autoren sonst oft vermisst.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Barbara Klemm – Fotografien 1968 – 2013

Der neue Bildband von Barbara Klemm, signiert.

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Barbara Klemm ist Mitglied und Gesellschafterin unserer Buchhandlung. Vier Jahrzehnte war Barbara Klemm als Fotografin für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ unterwegs, deren legendäre samstägliche Tiefdruckbeilage sie mit ihren Bildern prägte. Als Chronistin deutscher Zeitgeschichte ist sie ebenso berühmt wie als Reporterin, die alle Kontinente bereiste. Dabei kann sie Geschichten mit einem einzigen Bild erzählen — in einer Intensität und Dichte wie kaum jemand sonst.

380 Seiten mit 250 Abbildungen in Duoton und Texten von Michael Koetzle und Durs Grünbein
Leinen mit Schutzumschlag
Euro 58,00
Nimbus Verlag
ISBN 978-3-907142-93-6
Der Band erscheint begleitend zur großen Retrospektive im Martin-Gropius-Bau, Berlin, und bietet einen faszinierenden Querschnitt durch Barbara Klemms einzigartiges Werk.

 

 

Eine Empfehlung für Bibliophile

Gerade ist im Verlag Thomas Reche in der Reihe Ligaturen ein sehr schönes und sorgfältig gemachtes Buch erschienen: Abiku von Wole Soyinka
 
Ein Abiku ist ein Wechselbalg, das der Geisterwelt entstammt und als Mensch geboren wird. 
Die Gedichte des nigerianischen Nobelpreisträgers erscheinen in dieser Ausgabe erstmals auf Deutsch (übertragen von Julia Rotte und Hans Dieter Schäfer). Wole Soyinka schrieb diese Gedichte in den 60er und 70er Jahren auf Yoruba, jener Kultursprache, mit der er aufgewachsen ist und in der er seine poetischen und dramatischen Werke verfasst. Er übersetzte seine Gedichte selbst ins Englische.  
 
Die Gedichte werden von Aufnahmen von Barbara Klemm und Robert Lebeck, den beiden legendären Reportagephotographen begleitet.


 © Barbara Klemm


© Barbara Klemm

 
Barbara Klemm reiste 1974 zusammen mit ihrem Mann Leo Hilbert nach Nigeria um einen befreundeten Arzt zu besuchen, der im Grenzgebiet zu Kamerun arbeitete. Sie fotografierte auf Nebenwegen dieses Grenzgebiet.
 
Robert Lebeck reist 1960 für die Illustrierte Kristall quer durch Afrika, um den Beginn der postkolonialen Epoche festzuhalten. 
 
Das in rotem Leinen gebundene Buch, mit den Gedichten in Englisch und Deutsch, ist von allen drei Künstlern signiert und kostet 39 €.
 
Es gibt verschiedene Vorzugsausgaben mit Originalabzug auf Barytpapier:
http://www.verlag-thomas-reche.de

Ralph Roger Glöckler – Mr. Ives und die Vettern vierten Grades

Cover Mr. Ives

Buchempfehlung

Ein kurzer, beinahe unbekannter Text des französischen Philosophen Jacques Derrida trägt den Titel: “Ce qui reste à force de musique”, wörtlich übersetzt: “Was kraft der Musik bleibt”. Kaum ein Titel scheint geeigneter, versucht man, über Ralph Roger Glöcklers anspruchsvollen Roman Mr. Ives und die Vettern vierten Grades zu schreiben. Der Romantitel nennt einen amerikanischen Komponisten, der für seinen musikalischen Nonkonformismus bekannt ist, und spielt auf eine Zeile in einem Gedicht Walt Whitmans an, auf jenen “Gesang”, in dem es heißt, Anpassung sei für die Vettern vierten Grades, der Dichter trage seinen Hut aber so, wie es ihm gefalle, drinnen wie draußen.

In vier Teilen hat Glöckler die Gedanken von vier historischen Figuren, die Gedanken der Komponisten Ives und Cowell und seiner beiden Ehefrauen, so imaginiert, als würde ihre stumme Äußerung nie geschriebenen Briefen oder nie vermittelten Botschaften gleichen. Können solche Gedankenströme übertragen werden, den anderen berühren, der sie nicht als Nachrichten erhält, ja der im Falle von Charles Ives sogar tot ist, weil es sich um seinen Vater handelt? Diese Frage stellt sich in dem Maße, in dem es Glöckler nicht einfach um den äußeren Anlaß seines Romans geht, darum, wie sich die Figuren zu Henry Cowells Vorliebe für Jünglinge verhalten, die zu einer harten Gefängnisstrafe führt, und wie Cowell selber auf die Denunziation reagiert, die ihn öffentlich zum Außenseiter stempelt.

Worum es Glöckler geht, ist die sprachliche Gestaltung von Musik und die musikalische Gestaltung von Sprache. Er richtet sich auch ausdrücklich an den Werken von Ives und Cowell aus. Es geht Glöckler darum, darzustellen, wie diese Komponisten nicht anders können als beispielsweise in Umweltsgeräuschen eine Kraft auszumachen, die die der Musik ist, eine Kraft, die sich ihren Weg erst bahnt, statt einen vorgezeichneten Lauf zu nehmen. Diese Kraft teilt sich ebenfalls den Gedanken der Ehefrauen mit, vielleicht, weil sie der frei gelassenen Sprache selber innewohnt. Sie läßt die Komponisten in Räume treten, sie läßt sie Zeiten erfahren, die nicht mehr die wiedererkennbaren, gewohnheitsmäßigen der Außenwelt sind, obwohl sie sich nicht als bloße Innenräume oder als bloß inwendige Zeitwahrnehmungen abkapseln.

Könnte es nicht sein, daß es zwischen solchen Räumen und Zeiten eine Kommunikation gibt, die nicht die Form eines geschriebenen Briefs oder einer vermittelten Botschaft annimmt? Daß es “kraft der Musik” so sein könnte, so verstockt die eine oder andere der vier Figuren auch anmuten mag, legt dieser unangepaßte Roman ebenso nahe wie die Möglichkeit einer radikalen Vereinsamung, als sei sie der Preis, den man zahlen muß, um an die letztlich anonyme Kraft der Musik zu rühren.

Alexander García Düttmann, London

Ralph Roger Glöckler
Mr. Ives und die Vettern vierten Grades
Elfenbein Verlag, 2012, 19.- €

Über den Autor:

Ralph Roger Glöckler, geboren 1950 in Frankfurt a. Main, studierte Romanistik, Germanistik und Völkerkunde in Tübingen. Er lebt als Übersetzer und Schriftsteller in Frankfurt und Lissabon, wo im Herbst 2000 sein Theaterstück “Perpetuum Mobile. Cantata” uraufgeführt wurde. Zu seinen bisherigen Veröffentlichungen gehören Erzählungen und Romane. 1984 erschien “Reise ins Licht” , 2007 “Madre. Eine Erzählung” und 2008 “Vulkanische Reise. Eine Azoren-Saga”.



Martin Dornes – Die Modernisierung der Seele

Cover Dornes

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Das Frankfurter Institut für Sozialforschung ist seit den Tagen Horkheimers und Adornos kaum dafür bekannt, dass es der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit in seinen Publikationen ein Übermaß an gesellschaftlichem Optimismus zumutet. Umso erstaunlicher, dass Martin Dornes, langjähriges Kollegiumsmitglied des Instituts, in seiner jüngsten Veröffentlichung im Hinblick auf die Situation von Kindern, Jugendlichen und Eltern in der zeitgenössischen Gesellschaft zu einer Einschätzung gelangt, die auf eine umfassende Entdramatisierung der gängigen Krisenszenarien hinausläuft.

Wenn der geneigte Leser das Feuilleton seiner Tageszeitung aufschlägt, wird er, weitgehend unabhängig von der linksliberalen oder konservativen Ausrichtung seines Lieblingsorgans, tagtäglich mit eher düsteren Meldungen zur psychosozialen Lage unseres Nachwuchses konfrontiert. Kinder seien reizüberflutet und unkonzentriert, sie hantierten nur noch mit Handys und Computern, globalisierungsgestresste Eltern begünstigten ein Klima der Wohlstandsvernachlässigung oder hinderten ihre Kinder durch subtile Formen der fürsorglichen Belagerung an ihrer Autonomisierung, der antiautoritäre Erziehungsstil fördere den allgemeinen Orientierungs- und Disziplinverlust und die von der Kultusbürokratie angezettelten G8-Reformen beraubten die Schüler ihrer Kindheit und verwandelten sie in miniaturisierte Leistungsträger . Dass 80 Prozent der Berichterstattung über Eltern und Kinder derart negativ ist, führt Dornes auf das Strukturprinzip der Medien zurück: Bad news are good news and good news are no news. Auf gut 500 Seiten widerlegen die von Dornes akribisch zusammengetragenen empirischen Daten dieses auf „atmosphärischen Labilitätseindrücken“ beruhende Lamento Punkt für Punkt und beweisen, dass die öffentlich gestreuten und gefühlten Wahrnehmungen mit den realen Fakten nicht übereinstimmen: „Noch nie,“ so die Essenz seiner Forschungsergebnisse, die ihm zweifellos aus allen Lagern den Vorwurf der Affirmation eintragen werden, „waren Kinder und Jugendliche in Deutschland so zufrieden, gesund, gebildet und wohlhabend wie heute.“ Gleichwohl räumt der Autor ein, dass sich in dem weit verbreiteten Gefühl, Kinder und Erwachsene würden immer kränker und alles würde immer unsicherer, eine begründete Ahnung über den inneren Zusammenhang von Freiheit und Risiko ausdrücke. „In der warmen Waschküche eingelebter Tradition lässt sich beengt, aber sicher leben. Betreten wir das freie Feld, so weht gelegentlich ein rauerer Wind, an den wir uns erst gewöhnen müssen, bevor wir ihn zu schätzen wissen; und mancher wird ein Leben lang die Waschküche bevorzugen.“

Dass Dornes Plädoyer für das Leben im Frost der Freiheit trotz seines einschüchternden Volumens auch für den Nichtwissenschaftler lesbar ist, mag ein Witz aus dem Vorwort illustrieren, mit dem der Autor seine fünfjährige Arbeit an seinem Studienobjekt charakterisiert. Eines Tages sagt der Ethnologe beim Frühstück zu seiner Frau: „Es gibt so viele Mythen, Gerüchte und schreckliche Geschichten über die Indianer. Ich will das alles mal genauer untersuchen.“ Nach vielen Jahren kehrt er zurück und seine Frau begrüßt ihn an der Haustür und sagt: „Schön, dass du wieder da bist. Und was hast du bei den Indianern eigentlich gelernt.“ Und der Ethnologe antwortet: „ich habe gelernt, dass alles halb so wild ist.“

Günter Franzen, Frankfurt am Main

Martin Dornes. Die Modernisierung der Seele. Kind-Familie-Gesellschaft
S. Fischer Verlag, 2012, 12.99 €