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Buchempfehlung – Abbas Khider „Ohrfeige“

Hanser Verlag, 19.90 €
Hanser Verlag, 19.90 €

Die titelgebende Ohrfeige ist für Frau Schulz bestimmt. Sie könnte auch Maier oder Müller heißen, aber mit Sicherheit sitzt sie in einem deutschen Amt und macht Dienst nach Vorschrift. Wer hier die Hand hebt, ist zunächst einmal einerlei, denn jeder, der mit Behörden oder auch nur Anträgen zu tun hatte, stand schon einmal hier, der Verzweiflung nahe. Wem es aber gelingt, seine Formulare ordnungs- und wahrheitsgemäß auszufüllen, der darf sich glücklich schätzen.

Deshalb ist es dann doch nicht einerlei, wer Frau Schulz in Abbas Khiders Roman ohrfeigen möchte, denn es ist kein Bürger dieses Landes, sondern einer jener jungen Asylsuchenden, die gerade tagein tagaus die Schlagzeilen beherrschen.

Er heißt Karim Mensey, er ist Anfang 20, er stammt aus dem Irak. Hätte er Frau Schulz seine Geschichte wahrheitsgemäß geschildert, er wäre längst abgeschoben worden: Karim wurde in seinem Land nicht politisch verfolgt, ist aber trotzdem geflohen. Warum? Das soll hier gar nicht verraten werden, auch ein Roman hat seine Intimitäten, die man nicht gleich preisgeben sollte, erst recht nicht, wenn der ruhige und klare Erzählstil dem Leser den Protagonisten so nah ans Herz zu legen vermag, als wäre er einer von uns. Als stamme Karim nicht aus einem 4000 Kilometer entfernten Land, in dem verheerende Kriege geführt wurden und werden und Terroranschläge auf der Tagesordnung stehen. Diese Version der Weltgeschichte tritt in Khiders Roman in den Hintergrund. Das kann man bemängeln. Aber man sollte sich deshalb die scheinbar so private Geschichte Karims nicht entgehen lassen, denn Karims Schicksal ist eines, das auch uns, unseren Kindern oder Kindeskindern passieren könnte –nicht nur jenen armen Menschen, die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort auf die Welt gekommen zu sein: im Kulturland zwischen Euphrat und Tigris, dem Land der Hängenden Gärten von Babylon.

Karim flieht mit einem klaren Ziel vor Augen: er möchte nach Paris, denn dort wartet Onkel Murad auf ihn. Am Vorabend der Flucht näht ihm die Mutter liebevoll das gesparte Geld in den Gürtel, küsst ihren Sohn zum letzten Mal. Die Hoffnung ist groß. Fünf Wochen ist Karim unterwegs, im Auto, im Schlauchboot, auf der Fähre, im Zug und wieder im Auto – nur nachts dürfen die Flüchtlinge für ein paar Minuten ins Freie. Niemand sagt ihnen, wo sie sind, jegliche Kommunikation mündet in babylonischer Sprachverwirrung. Bis ihn frühmorgens der Fahrer eines Minitransporters auf irgendeiner Landstraße aussetzt. Karim denkt, er sei in Frankreich – die Schlepper sollen die restliche Zahlung erst bekommen, wenn er sicher bei seinem Onkel angekommen ist –, aber Karim wird sein Ziel niemals erreichen. Mitten im europäischen Winter lässt er seine Flüchtlingsklamotten in den Schnee fallen und versucht, notdürftig hinter einem Baum versteckt, seine Herkunft hinter einer „schicken schwarzen Hose“ und einem „eleganten Hemd“ zu verbergen. Es nützt alles nichts, kaum hat Karim das Bahnhofsgebäude betreten, fragt ihn die Polizei nach dem „Passport?“ – „No Passport“, die Handschellen klicken. Sie untersuchen alle Öffnungen der Kleider, alle Öffnungen des Körpers, sie suchen routiniert und finden das liebevoll eingenähte Geld, konfiszieren es ebenso ungerührt wie die letzten Zigaretten.

Der eben noch Fliehende wird festgesetzt und ist für die kommenden Jahre jeglicher Aktivität beraubt: Karim darf nicht zu seinem Onkel nach Paris, hat er doch in Deutschland zuerst den europäischen Boden betreten und muss hier seinen Asylantrag stellen, Karim darf nicht arbeiten, er darf keinen Deutschkurs belegen, Karim darf nur eines: wohnen.

Wie Karim gegen all die ihn erstickenden Vorschriften für ein menschenwürdiges Leben kämpft, wie all seine “Kollegen“ im Asylantenheim ihr Leben ertragen, es feiern und daran verzweifeln und wieder neue Hoffnung schöpfen, das ist nicht nur Deutschland Anfang der Nullerjahre, das ist auch Deutschland 2016.

Khider hat in diesen aufgeregten Zeiten einen wunderbar unaufgeregten Roman geschrieben.

Ines Lauffer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt am Main

Buchempfehlung – J.J. Abrams & Doug S. Dorst „S. – Das Schiff des Theseus“

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Ehrfurcht packt den Leser, wenn er das Siegel des Schubers löst. Sofort fallen ihm aus dem Buch handgeschriebene Briefe, Postkarten und sogar eine auf eine Serviette gezeichnete Karte entgegen. „S“ ist ein Buchkunstwerk, das den Leser immer wieder überrascht und denselben Schauder über den Rücken jagt, als habe er selbst eine Kiste mit Hinweisen auf eine geheimnisvolle Geschichte auf dem Dachboden gefunden. Die Idee für dieses Projekt stammt von Regisseur J. J. Abrams, der unter anderem für den neuen „Star Wars“-Film verantwortlich ist. Für die Ausführung heuerte er den Autor Doug Dorst an, der kreatives Schreiben an der Texas State University lehrt. Die Umsetzung dieser ambitionierten Idee ist auch in der deutschen Fassung erstaunlich gut gelungen.

Erzählt wird die Geschichte auf vier Ebenen. Im Schuber (die erste Ebene), der den wirklichen Paratext enthält und die Autorschaft Abrams und Dorst zuschreibt, findet sich ein Band mit vergilbten Seiten aus dem Jahr 1949, der anmutet, als stamme er aus einer amerikanischen Bibliothek. Alles weist darauf hin: Der Aufkleber mit der Signatur am Buchrücken, ein Zettel mit eingestempelten Rückgabefristen im hinteren Buchdeckel und – ironischerweise – ein Stempel mit dem Hinweis an die Bibliotheksnutzer, das Buch pfleglich zu behandeln und von Eintragungen abzusehen. Diese zweite Ebene besteht aus einem Roman aus der Feder des geheimnisvollen Autors V. M. Straka, eine Abenteuer- und Verschwörungsgeschichte rund um S, der sein Gedächtnis verloren hat und sich mühsam in der Welt zurechtzufinden versucht. Jahrelang segelt er auf einem Schiff umher und wird mit gefährlichen Aufträgen betraut. Dabei versucht er immer wieder herauszufinden, wer ihn wozu für welche Mission einsetzen will, auf welcher Seite er steht, wem er trauen kann und wer er eigentlich selbst ist.

Die dritte Ebene besteht aus dem Vorwort und den Fußnoten eines gewissen F. X. Caldeira. Straka, so Caldeira im Vorwort, sei einer der einflussreichsten Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts. Dennoch sei seine wahre Identität noch immer ungeklärt. Auch wenn es viele Kandidaten gebe, die hinter dem Namen Straka stehen könnten, konnte bisher keine der Vermutungen bestätigt werden. Caldeira selbst ist dem Leser jedoch keine Hilfe beim Lösen des Geheimnisses um den Autor Straka. Schnell wird klar, dass Caldeiras Kommentare mehr sein müssen als ergänzendes Informationsmaterial, denn sie sind seltsam unsachlich und verwirren das Rätsel um S und seinen Autor Straka mehr, als dass sie klären.

Die vierte Ebene des Buches drängt sich dem Leser bereits auf den ersten Blick auf: Die Seitenränder sind durchgehend eng mit handschriftlichen Notizen in verschiedenen Farben und zwei verschiedenen Handschriften gefüllt. Zwischen den Seiten liegen darüber hinaus handgeschriebene Briefe, Fotos, Zeitungsartikel, Postkarten, Zeichnungen und allerlei Material mehr, das von der Arbeit zweier Studenten zeugt. Die Collegestudentin Jen und Eric, der am selben College über Straka promoviert, haben, ohne sich persönlich zu kennen, damit begonnen, sich auf den Seitenrändern über die Geheimnisse um Straka, Caldeira und S auszutauschen. Sie wollen gemeinsam die vielen Rätsel lösen, die das Buch aufwirft, und verstecken nach ihren Einträgen das Buch in der Collegebibliothek, damit es der jeweils andere dort finden und seine Antworten hineinschreiben kann. Ihr Dialog bezieht sich aber nicht nur auf die Geschichte des Buches und den Kontext seiner Entstehung. Je besser sie sich kennenlernen, desto mehr tauschen sie sich auch über ihre persönlichen Probleme, Sorgen und Träume und wichtige Erlebnisse aus ihrer Kindheit aus.

Dem Leser stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die beiden Handlungsstränge stehen. Handelt es sich um Rahmen- und Binnengeschichte oder stehen sie gleichwertig nebeneinander? In welcher Reihenfolge nähert man sich dem Text am besten? Soll man zuerst die Geschichte von S lesen, um sich dann in einem zweiten Anlauf den Kommentaren an den Seitenrändern zu widmen? Oder besser doch alles gleichzeitig? Comic-erprobte Leser werden einen Vorteil haben, denn eine lineare Lektüre fällt schwer bei den vielen Kommentaren und Beigaben, die die Geschichte in verschiedenen Richtungen zugleich erzählen.

Die Wirklichkeit, in der Jen und Eric leben, mischt sich immer mehr auf unheimliche Weise mit der Geschichte Strakas. Auch das Buchprojekt selbst stellt dem Leser – nicht zuletzt mittels der einladenden, noch freien Stellen an den Seitenrändern – diese Frage: wo hört hier die Geschichte auf und wo beginnt die Wirklichkeit des Lesers?

Alena Heinritz, Mainz

Buchempfehlung – Jane Gardam „Ein untadeliger Mann“

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Hanser Berlin, 22.90 €

Der Jurist Edward Feathers ist ein untadeliger Mann, der sein Leben der Jurisprudenz und dem britischen Empire verschrieben hat. Der langjährige Richter in Hongkong, geboren in Malaysia, erzogen in England, jetzt, mit über achtzig Jahren, wieder in England lebend, ist der englische Gentleman par excellence: stets perfekt gekleidet, von vollendeten Manieren und ein Meister im Verbergen jeglicher Gefühlsregung. Erst nach dem unerwarteten Tod seiner Frau Betty bekommt das so perfekte Gebäude seines Lebens plötzlich erste Risse, durch die allmählich Erinnerungen einsickern, die er jahrzehntelang verdrängt hat.

Denn Edward Feathers zählte zu den „Raj-Kindern“, Kindern von englischen Beamten, die in den Kolonien geboren und schon in sehr jungen Jahren nach England gebracht wurden, da nach allgemeiner Meinung das Leben in den Kolonien für Kleinkinder zu gefährlich war. Man fürchtete Tropenkrankheiten genauso wie die Verwilderung der Sitten unter dem Einfluss der „Eingeborenen“. In vielen Fällen landeten diese Kinder dann bei Verwandten oder in Pflegefamilien, hatten jahre- oder jahrzehntelang keinerlei Kontakt zu ihren Eltern und wuchsen ungeliebt und oft genug vernachlässigt auf. Und so sind die Erinnerungen, denen sich Edward jetzt stellen muss, vor allem geprägt von Verlusten – dem Verlust seines geliebten malaysischen Kindermädchens, später seines besten Freundes im Krieg bis schließlich zum Verlust seiner Frau –, aber auch von einer Unfähigkeit zu lieben, die nicht nur ihn erschreckt. Stück für Stück wird so die Geschichte eines Menschen entfaltet, aber auch einer Gesellschaftsschicht, die mit den eigenen Kindern nicht weniger brutal umgeht als mit den Einwohnern der Kolonien, über die sie herrscht – und das weniger aus Bösartigkeit als aus emotionaler Unfähigkeit, sind doch die Eltern unter denselben Umständen aufgewachsen und haben dieselbe Lieblosigkeit erfahren, die jetzt ihre Kinder trifft.

Jane Gardam erzählt diese Geschichte lakonisch, ohne jede Sentimentalität, aber dafür mit oft scharfer Ironie. Die mittlerweile selbst 87jährige Autorin versteht es nicht nur meisterhaft, die Zwischenkriegszeit in England und das Leben der gehobenen Schichten lebendig zu machen, sie versetzt ihren fast gleichaltrigen Protagonisten, an dem in seinem behüteten, abgeschiedenen Leben auf dem Land alle Veränderungen vorbeigegangen sind, mit viel Witz auch in Situationen, in denen er schockartig mit diesen Veränderungen konfrontiert wird. Es ist gut, dass endlich ein Roman der in England sehr bekannten und mit vielen Preisen ausgezeichneten Autorin ins Deutsche übersetzt wurde, und man kann nur auf weitere Übersetzungen hoffen, denn es kommt nicht oft vor, dass ein Buch, das emotional so tief berührt und aus dem man so viel Neues lernt, gleichzeitig auch noch so viel Vergnügen macht.

Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main

Buchempfehlung – Lydia Tschukowskaja „Untertauchen“

untertauchenIm Februar 1949 verbringt die russische Dichterin Nina Sergejewna einige Wochen in einem Sanatorium für Künstler in der Nähe von Moskau auf dem Lande. Sie hofft darauf, dort „untertauchen“ zu können. In Stille und Abgeschiedenheit, fern von dem, was ihren Alltag in Moskau quälend macht: das Zusammenleben mit den willkürlich zusammengewürfelten Menschen in der „Kommunalka“, die Sorgen um die Tochter, die Erinnerungen an den spurlos verschwundenen Mann. Für vier Wochen wird sie versorgt werden, sich um nichts kümmern müssen. Und der größte Luxus ist für sie ein Zimmer für sich allein.

Das Sanatorium entpuppt sich als Zauberberg en miniature. Eine kleine, abgeschlossene Gruppe von Menschen, die bei den gemeinsamen Mahlzeiten zusammen sitzt, bei medizinischen Anwendungen nur durch Vorhänge getrennt in der Badewanne liegt, sich auf Spaziergängen trifft. Die wichtigsten von ihnen sind ein Regisseur mit seiner jungen Begleitung, die sich krampfhaft jugendlich gebende Hauswirtschafterin, ein junges Mädchen, das dort arbeitet, ein alter jüdischer Dichter, ein eitler Journalist. Schnell sind Nina Sergejewna ihre Mitmenschen zuwider. Jeder bewegt sich im Kosmos seiner persönlichen Eitelkeiten, verkündet seine Meinungen ungefragt, und sie kann weder der Parteipresse noch den ideologischen Radiosendungen entgehen.

Aber da ist auch noch der chamäleonhafte Schriftsteller Bilibin. Ein Mann, der viele Gesichter und Stimmen hat und der sie, fast gegen ihren Willen, fasziniert. Als sie auf einem gemeinsamen Spaziergang erfährt, dass er in einem Straflager war, hofft sie, mehr über das Leben dort und damit vielleicht über die Umstände erfahren zu können, unter denen ihr Mann getötet wurde. Eine zarte Freundschaft bahnt sich zwischen den beiden an, und für Momente eröffnet sich für Nina Sergejewna die Möglichkeit einer neuen Beziehung mit einem Gleichgesinnten. Bis sie enttäuscht feststellt, dass auch Bilibin den Weg der Anpassung gehen wird und sie seine „wahre“ Stimme nur im Geheimen hören kann, während sie mit ihrer leidenschaftlichen Verteidigung der vom Regime geächteter Dichter Gefahr läuft, selbst ins Visier linientreuer Genossen zu geraten.

Die 1907 geborene Lydia Tschukowskaja hat sämtliche Phasen der russischen Gesellschaft nach der Revolution erlebt. Prägend war für sie die Zeit des großen stalinistischen Terrors, in der ihr damaliger Mann spurlos verschwand. Sie muss eine sehr mutige und widerständige Frau gewesen sein, die sich für Schriftsteller einsetzte, die Publikationsverbot hatten. Der 1949 begonnene Roman „Untertauchen“ erschien zuerst 1972 in Amerika und führte dadurch 1974 zu ihrem Ausschlussaus dem Schriftstellerverband. (Ihre beeindruckende Rede vor dem Verband hat der Verlag dankenswerterweise im Anhang abgedruckt.)Das gesellschaftliche Klima, das sie in „Untertauchen“ beschreibt, war ihr zutiefst vertraut, und wie sie mit jeweils wenigen Sätzen die Atmosphäre des Sanatoriums und die Menschen, die darin arbeiten, sowie die Gäste beschreibt, ist meisterhaft. Ist der Ton der Ich-Erzählerin anfangs noch etwas naiv-poetisch, wandelt er sich im Laufe des Romans zu Melancholie und Ernüchterung. Die wenigen handelnden Personen und erzählten Situationen führen dem Leser die Stimmung der Zeit vor: Intellektuellenfeindlichkeit, Denunziation, Einsamkeit, Verhaftung, Verhöre, Lager machen die Menschen zu Tätern und Opfern – häufig beides in einer Person. Es gibt diejenigen, die ahnungsvoll auf den nächsten Tag blicken, und die, die sich anpassen, aber wissen, dass auch ihr Untergang jederzeit kommen kann. Nichts und niemand ist in diesem System sicher. Heute trifft Verfolgung und Hetze Juden und Kosmopoliten, morgen werden es andere sein. Und so drehen die meisten ihr Fähnchen nach dem Wind, denn wer heute noch verteidigt wird, kann morgen schon zum Ausgestoßenen werden.

„Untertauchen“ ist ein bitteres Zeitportrait. Dass man es trotzdem mit großer Freude liest, verdankt sich Tschukowskajas ruhiger, schnörkelloser und doch poetischer Sprache, die selbst eine kafkaesk anmutende Erzählung in der Erzählung, in der Frauen im tiefsten Winter vor einer Kommandantur stehen, um Informationen über den Verbleib ihrer Männer zu erhalten, eine tiefe Kraft gibt. Wie gut, dass der Dörlemann Verlag das Buch, das in den siebziger Jahren schon einmal auf Deutsch erschienen war, für den heutigen Leser erneut herausgebracht hat, denn mit „Untertauchen“ ist eine großartige Schriftstellerin wieder zu entdecken.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung – Almudena Grandes „Inés und die Freude“

grandesinesAls im Herbst 1944 das kommunistische Untergrundradio die bevorstehende Invasion des Arantals in den Pyrenäen durch den antifranquistischen Widerstand meldet, tut sich für Inés, Tochter aus einer alten spanischen Familie und Schwester eines Offiziers in Francos Armee, eine neue Welt auf. Denn Inés ist trotz ihrer angesehenen Familie, die ganz und gar auf Seiten der Falange steht, selbst eine „Rote“. Nach dem Verrat durch ihren Liebhaber saß sie im Gefängnis, wurde anschließend von ihrem Bruder für Jahre ins Kloster eingesperrt und schließlich mit dessen ungeliebter Frau in die finsterste Provinz verbannt. Aber jetzt kann sie sich den Kämpfern der Invasion anschließen – und reitet auf ihrem Pferd Lauro, in der Tasche das Geld ihres Bruders und eine geladenen Pistole und in der Hutschachtel fünf Kilo selbstgebackener Rosquillas, die beliebten süßen Kringel, mitten hinein ins Hauptquartier der Invasion und in die Arme des Mannes, der ihr Schicksal wird. Und damit beginnt die Geschichte einer historischen, wenn auch weitgehend unbekannten Episode aus den Nachwehen des spanischen Bürgerkriegs, verknüpft mit der Geschichte von Liebe in den Zeiten des Kampfes und des Untergrunds. Inés und ihr Geliebter Galan sind fiktive Personen, aber ihr Schicksal im Roman wird durch historische Figuren geprägt, die in einem komplizierten Spiel aus Machtkämpfen, Parteistrategien und den Interessen Moskaus und London die Fäden ziehen, sich aber immer auch in den Fäden der eigenen Gefühle verstricken.

„Inés und die Freude“ ist der erste Teil der auf sechs Bände angelegten „Episoden eines endlosen Krieges“; der zweite Teil ist der in Deutschland zuerst erschienene und viel gelobte Roman „Der Feind meines Vaters“. Man kann die Entscheidung des Verlags, die Reihenfolge zu ändern, nachvollziehen, denn „Der Feind meines Vaters“ ist nach allen literarischen Kriterien zweifellos das bessere Buch. Almudena Grandes hat in „Inés und die Freude“ ein großes Panorama entworfen, vom Bürgerkrieg, seiner Vor- und Nachgeschichte, vom Exil bis zur Rückkehr nach Spanien nach Francos Tod, einschließlich der Strategien der kommunistischen spanischen Führung in Moskau und Lateinamerika, der Auseinandersetzungen in der Partei und deren Folgen für das Leben der in Spanien zurückgebliebenen Untergrundkämpfer. Das macht die Lektüre streckenweise anstrengend, führt zu Verwirrung bei der Leserin, die die Einzelheiten der spanischen Geschichte nicht parat (und ein Register mit Erläuterungen zu den historischen Ereignissen und Personen schmerzlich vermisst) hat, und zu zahlreichen, auch ärgerlichen Redundanzen. Davon sollte sich aber niemand abhalten lassen, das Buch zu lesen, denn erstens regt es dazu an, bestimmte Ereignisse und Personen selbst im Internet zu recherchieren und auf diese Weise einen so spannenden wie lehrreichen Abend zu verbringen, und zweitens kann man sich, vor allem ab dem zweiten Teil, in eine wunderbare Liebesgeschichte fallen lassen, die nicht nur an Romantik nichts zu wünschen übrig lässt, sondern auch noch durchzogen ist vom äußerst appetitanregendem Duft besten spanischen Essens. Meine Empfehlung also: Lesen und auf den dritten Teil gespannt sein!

Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main

Der neue Bildband von Barbara Klemm und Stefan Moses

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Von Barbara Klemm signiert!

Barbara Klemm und Stefan Moses sind zwei Fotografen, die auf ihre jeweils ganz eigene Art das Politik- und Zeitgeschehen, das Leben in Deutschland und andernorts über Jahrzehnte fotografisch begleitet haben. Barbara Klemm (geb. 1939) war 40 Jahre für die Frankfurter Allgemeine Zeitung unterwegs, die sie mit ihren Fotografien entscheidend prägte. Stefan Moses (geb. 1928) erreichte durch seine Reportagen für den Stern, die Neue Zeitung und für Magnum  ein breites Publikum. Bei beiden steht der Mensch im Vordergrund.

Barbara Klemm ist Mitglied und Gesellschafterin unserer Buchhandlung.

Vier Jahrzehnte prägte sie mit ihren Bildern die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, besonders die legendäre samstägliche Tiefdruckbeilage. Als Chronistin deutscher Zeitgeschichte ist sie ebenso berühmt wie als Reporterin, die alle Kontinente bereiste. Dabei kann sie Geschichten mit einem einzigen Bild erzählen – in einer Intensität und Dichte wie kaum jemand sonst. In dem weitaus überwiegenden Teil ihrer Fotografien geht es um den Menschen und darum, wie er lebt. Klemms Bildern ist alles Plakative fremd und man fragt sich angesichts der unaufdringlich erscheinenden Aufnahmen oft, wie die Fotografin es fertig bringt, mit ihrer Kamera ohne viel Aufhebens anwesend zu sein.

Bereits seit einem halben Jahrhundert sind Deutschland und die Deutschen das große Thema von Stefan Moses. Seine beeindruckende Serie der Emigranten versammelt über 100 Porträts von Persönlichkeiten, die ihre Heimat nach 1933 aus Angst vor dem Terror der Nationalsozialisten verlassen mussten. Ergänzt wird diese Werkgruppe durch Fotografien von Menschen, die kurz vor und nach der Wende auf mehreren Reisen durch die DDR entstanden sind.

K / M .   
Barbara Klemm / Stefan Moses. Katalog zur Ausstellung im Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, 2014 .   Mit Texten von Alexander Kluge, Stefan Koldehoff, Peter Iden und Andreas Bee .   Herausgegeben von Walter Smerling. 2014 .   280 S.   m. 238 Fotografien von Barbara Klemm und Stefan Moses.   Nimbus Verlag, 48,- €

Buchempfehlung – Jhumpa Lahiri „Das Tiefland“

U1_978-3-498-03931-8.inddAm Rande Kalkuttas, an einem während der Monsunzeiten überschwemmten Tieflandgebiet, wachsen in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Brüder Subhash und Udayan auf. Obwohl durch ein Jahr Altersunterschied getrennt, sind sie unzertrennlich wie Zwillinge. Aber sie sind auch sehr verschieden: Subhash, der ältere, ist ruhig, zurückgezogen und scheut Konflikte, während der extrovertierte Udayan sich ins Leben stürzt und keinem Abenteuer aus dem Weg geht. Ihrer Familie ist nicht reich, aber sie schafft es, den Brüdern eine gute Schulausbildung zu geben, und da beide gute Schüler sind, können sie die High-School besuchen.

Die enge Verbundenheit der Brüder endet, als Subhash für seine Dissertation in eine kleine Universitätsstadt an der amerikanischen Ostküste geht, während sich Udayan in Kalkutta einer maoistischen Gruppierung anschließt, die gesellschaftliche Ungerechtigkeiten in Bengalen auf militante Weise beseitigen will. Kurz nachdem Udayan seinem Bruder von seiner Hochzeit geschrieben hat, kommt die Nachricht, dass er von der Polizei getötet wurde. Subhash fliegt nach Kalkutta und heiratet Gauri, die junge, schwangere Witwe seines Bruders, die von den Eltern abgelehnt wird. Er holt sie nach Amerika und zieht das Kind seines Bruders als sein eigenes auf. Aber sie werden keine Familie. In Gauri scheinen alle Gefühle abgetötet, auch zu ihrer Tochter Bela findet sie keine Verbindung. Und eines Tages, als Sughash und Bela von einem Besuch in Kalkutta zurückkehren, ist Gauri gegangen.

Jhumpa Lahiri erzählt ihre Geschichte mit langem Atem, in Vor- und Rückblenden, aus den unterschiedlichen Perspektiven der handelnden Personen. So entsteht nach und nach das Bild einer zerbrechenden Familie: die traditionellen Eltern können nicht nachvollziehen, dass der Sohn seine Frau selbst gewählt hat, und dem Älteren nicht verzeihen, dass er die Witwe heiratet. Udayan gefährdet durch sein radikales politisches Engagement alle und verliert sein Leben. Subhash, der Gauri aus einer Mischung aus Mitleid und Verpflichtung dem toten Bruder gegenüber geheiratet hat, hofft, dass sich zwischen ihnen doch noch Liebe und Verbundenheit entwickeln können. Er leidet darunter, dass er es nicht fertig bringt, seiner Tochter zu gestehen, dass er nicht ihr leiblicher Vater ist. Gauri, verwirrt und erstarrt, möchte nur eines: ihren Universitätsabschluss machen und in Ruhe gelassen werden. Und Bela, die Tochter, wird ein innerlich wie äußerlich heimatloses Wesen.

„Das Tiefland“ ist die Geschichte von Menschen, die nirgendwo mehr verwurzelt zu sein scheinen – aber es ist keine typische „Migrantengeschichte“, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse es unmöglich machen, irgendwo anzukommen. Die Zerrissenheit der Personen ist nicht nur den äußeren Bedingungen geschuldet, sie liegt in ihnen. Es ist ein Buch über Schuld und was sie im Menschen anrichtet, wenn sie sich in einnistet und sie in die Einsamkeit treibt, weil sie nicht darüber sprechen können. Sie zu überwinden – dazu gehören Ehrlichkeit, Vertrauen, Verzeihen und viel Mut.

Lahiri erzählt in einer ruhigen, fast schlichten Sprache, was den Text anfangs etwas gleichförmig erscheinen lässt. Aber je länger man liest, desto mehr wird man gefesselt. Lahiri psychologisiert nicht oder benutzt die gesellschaftlichen Zustände, um das Handeln ihrer Figuren zu erklären. Das Gesellschaftliche spiegelt sich in den Beziehungen der Menschen, aber was in den einzelnen vorgeht, davon gibt die Autorin nicht viel preis. Daher bleibt es dem Leser überlassen, welche Haltung er dazu einnehmen will. Das macht das Buch ungeheuer vielschichtig und geht weit über das inzwischen verbreitete Genre des interkulturellen Romans hinaus.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

 

Buchempfehlung – Wolf Haas „Brennerova“

brennerovaSimon Brenner, Kriminaler a.D. und mittlerweile Privatdetektiv in Ruhe, hat ein Problem. Die Frauen. Besser gesagt, die Russinnen. „Früher hat man gesagt, die Russinnen. Die sind groß und muskulös wie Hammerwerfer, die arbeiten beim Straßenbau, und unter den Achseln haben sie so viele Haare, dass sich noch ein Toupet für ihren Mann ausgehen würde und ein zweites für den ersten Parteisekretär. Da hat man gesagt, Russinnen sind Mannweiber, und wenn sie ihren Diskus werfen, musst du in Deckung gehen, weil Kraft wie ein Traktor aus Minsk (. . .) Dann hat es auf einmal geheißen, die Russinnen, das sind die dünnsten Fotomodelle, die teuersten Nutten, da musst du als Mann schon ein Hochhaus haben, damit sich so eine überhaupt von dir scheiden lässt, am besten mit einem Privatzoo, weil Beine wie eine Giraffe, Taille wie eine Wespe, Augen wie die Biene Maja.“

Natürlich weiß er, dass den Internet-Russinnen, die einen Österreicher heiraten wollen, nicht zu trauen ist – wozu hat man schließlich seine Lebenserfahrung? – muss aber dennoch immer mal wieder nachschauen, ob da nicht vielleicht doch eine zu finden ist, eine potentielle Brennerova eben. Das Dumme ist, dass er tatsächlich eine findet. Die Nadeshda aus Nischni Nowgorod nämlich, so schön wie auf den Fotos und ehrlich noch dazu, weil sie will ihn eigentlich nur, weil er Kriminaler a.D. ist, denn er soll ihre in Wien verschwundene Schwester suchen, die Serafima, von Mädchenhändlern verschleppt. Und weil der Brenner so ein Frauentränenumfaller ist, kommt die Nadeshda dann auch tatsächlich nach Wien, und er heiratet sie auch, weil das will die Herta so, mit der er eigentlich ja wieder zusammen ist, was die Sache nicht einfacher macht. Und die Serafima sucht er auch, aber der Gruntner und der Infra, die Serafimas Aufenthaltsort kennen, müssen sich ja ausgerechnet mit dem Zuhälter Lupescu anlegen, was zu vier abgehackten (und wieder angenähten) Händen und einem Todesfall führt, aber nicht zu Informationen über Serafima.

Die Fremdenpolizei ist hinter ihm her, weil sie ihm eine Scheinehe unterstellt, obwohl doch alles wie in einer richtigen Ehe ist: „Nichts wissen vom Partner, kein Sex und möglichst viel Abstand“ – wo also ist da der Unterschied? Die Herta sucht in der mongolischen Wüste nach ihrem schamanischen Krafttier, und gerade, als er die Serafima – Zufall Hilfsausdruck – gefunden hat, stellt er fest, dass „es ihm mit seiner Russin genauso gegangen ist, wie er von Anfang an befürchtet hat“, weil sie verlässt ihn wegen dem Infra mit den abgehackten und wieder angenähten Händen und dem vielen Geld. Aber das ist ihm egal, weil gerade die Herta mit ihrer Wandergruppe in der Wüste entführt worden ist und die Entführer als „Gebühr für die spirituelle Ausbeutung ihrer Gegend“ 1 Million Dollar Lösegeld pro Person verlangen und er nach Ulan Bator muss und das Lösegeld überbringen. Man muss schon sagen, dass der Brenner in „Brennerova“ ganz schön rum kommt. Globalisierung Hilfsausdruck. Aber wie schön, dass er nach all den Jahren wieder da ist!

Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main

Buchempfehlung – Robert Seethaler „Ein ganzes Leben“

Oft sind es die klaren, schlichten Texte, die sich im Leserhirn mit eindrucksvollen Bildern festsetzen denen man noch lange nachspürt. Robert Seethalers „Ein ganzes Leben“ ist so ein Buch. Es erzählt die Geschichte von Andreas Egger, der als vierjähriger Bub nach dem Tod der Mutter zum Bauer Kranzstocker aufs Land geschickt wird. Der nimmt den illegitimen Bankert einer seiner Schwägerinnen nur auf, weil er ein paar Geldscheine in seinem Beutel mitbrachte. Die wenigen Erinnerungen, die Eggert an seine Kindheit hat, sind die an Arbeit und Prügel. Von beidem gab es genug, bis der Bauer dem Kind eines Tages das Bein zertrümmert. Fortan hinkt der Knabe, wächst aber trotzdem zu einem starken jungen Mann heran, der sich als Hilfsknecht verdingt.

Als der Fortschritt mit einem Trupp Arbeiter und Techniker, die eine Bergbahn errichten, ins Tal kommt, schließt er sich ihnen an. Da er stark und schwindelfrei ist, arbeitet er mit denen, die für die Sprengungen Löcher in den Fels bohren. Angst kennt er nicht – nur als ihm der alte Hörnerhannes, den er sterbend mit der Kiepe ins Tal schleppt, herunterspringt und im tiefen Schnee auf Nimmerwiedersehen verschwindet, hat es ihn gegraut. Als er danach im Wirtshaus einen Schnaps trinkt, um den Schrecken zu vertreiben, lernt er Marie kennen. Sie wird die Liebe seines Lebens. Sie heiraten, leben in einem kleinen Häuschen am Hang – bis all das hinweggefegt wird.

Dann kommt der Krieg, danach Gefangenschaft und nach deren Ende die Rückkehr ins Dorf. Richtig Fuß fassen kann Egger nicht mehr, zu eigenbrötlerisch ist er geworden. Eine Zeit lang führt er Touristen auf die Berge, bis er dazu zu alt wird. Dann naht sein Ende, und irgendwann ist auch Marie wieder bei ihm.

Das ist alles. Ein ganzes Leben – mit Höhen und Tiefen, Freude und Schrecken, Krieg und Frieden und einer sich rasant verändernden Welt. Aber nichts davon ist dramatisch oder spektakulär. Nicht, dass Egger abgestumpft wäre, nur hat ihm nichts in seinem Leben je beigebracht, sich selbst wichtig zu nehmen. So nimmt er das Leben, wie es kommt. Die Schläge als Kind, bis er sich zu wehren lernt. Die Liebe zu Marie, bis sie ihm genommen wird. Die Einsamkeit und das Alter und schließlich den Tod. Was hätte aus einem solchen Menschen unter besseren Bedingungen werden können, denkt man – aber vielleicht verleiht ihm genau das Leben, das er hatte, seine stille Größe.

Schlicht wie dieses Leben ist die Art und Weise, in der Robert Seethaler erzählt. Keine Schnörkel, keine Ausschmückungen, kein Sozialpathos. Egger hadert nie mit dem Schicksal, auch wenn es wenig Erfreuliches für ihn bereit hält. Er lebt sein Leben – nicht stumpf, nicht leidend, sondern mit einer selbstverständlichen Hinnahme. Und das ist es, was aus dieser Figur etwas ganz Großartiges macht, was beim Lesen tief berührt.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co., Frankfurt

 

Buchempfehlung – Jessica Keener „Schwimmen in der Nacht“

keenerDas Leben der Familie Kunitz sieht aus wie der amerikanische Vorstadttraum. Der Vater ist Literaturprofessor an einem College, die Mutter, eine ätherische Erscheinung, geht in der Pflege des Rosengartens auf, den Haushalt macht ein schwarzes Hausmädchen. Dann sind da die vier Kinder: Peter, der älteste, die fünfzehnjährige Sarah, Robert und Elliot, der jüngste. Das behütete Leben einer wohlhabenden Mittelschichtsfamilie in einem Vorort von Boston: Gehorsam, Bildung und Musik werden großgeschrieben, man pflegt gute Kontakte zu den Nachbarn, geht in den Country Club, feiert Partys.

Aber auch das scheint ganz normal zu sein: beide Eltern trinken zu viel, der Vater neigt zum Jähzorn, und die Mutter ist hinter einem Nebel aus Tabletten verschwunden, die sie wegen unspezifischer Rückenschmerzen einnimmt. Für ein stabiles Grundgefühl im Alltag der Kinder sorgen die wechselnden schwarzen Hausmädchen mehr als die mit sich selbst beschäftigten Eltern. Peter kämpft mit dem Vater um mehr Eigenständigkeit und flüchtet sich in sein Gitarrenspiel. Der jüngere Robert legt sich mit jedem an. Er kapselt sich ab und liest nach einem ausgeklügelten System Fantasyromane. Elliot, der Jüngste, scheint mit einer unerschütterlichen Freundlichkeit gesegnet zu sein, die er aus den Gesprächen mit seiner Sammlung von Plastiktieren bezieht. Sarah, die als Erwachsene in der Rückschau die Geschichte erzählt, ist eine genaue Beobachterin. Ihr ist das dünne Eis, auf dem die Familie sich bewegt, am deutlichsten bewusst. Sie spürt die unterschwelligen Aggressionen des Vaters, die Enttäuschung der Mutter über ihren unerfüllten Traum, eine erfolgreiche Musikerin zu werden, und die verzweifelten Rückzüge der Brüder. Am meisten leidet sie unter der jeden wirklichen Kontakt überdeckenden Sprachlosigkeit.

Als die Mutter bei einem unerklärlichen Autounfall stirbt, bricht die Familie sofort auseinander. Weiterhin gefangenen in der Unfähigkeit, über das Geschehene zu reden, sucht jeder seinen Weg, mit dem Verlust fertig zu werden. Doch in dem Zusammenbruch der falschen Welt liegt auch die Chance, sich selbst und seinen Platz im Leben zu finden. Sarahs Weg führt zur ersten Verliebtheit und der Entdeckung ihrer Sexualität. Ihre Liebe zur Folkmusik, zu den Songs von Joni Mitchell, gibt ihr den Mut, eine eigene Gesangskarriere anzusteuern.

Achtzehn Jahre lang hat die für ihre Short Stories ausgezeichnete Jessica Keener an ihrem ersten Roman gearbeitet, und das Resultat ist wirklich lesenswert. Der Autorin ist eine glaubwürdige Geschichte mit gut gezeichneten Charakteren und starken Bildern gelungen, die trotz der Tragik nicht ins Sentimentale abrutscht. „Schwimmen in der Nacht“ fügt dem bekannten Topos der „amerikanischen Vorstadthölle“ eine weitere, spannend zu lesende Facette hinzu.

Ruth Roebke, Frankfurt

Buchempfehlung – Jean-Michel Guenassia „Eine Liebe in Prag“

guenassia

Der jüdische Arztsohn Josef Kaplan – die Namensähnlichkeit mit Kafkas Josef K. ist keineswegs zufällig –, Jahrgang 1910, zieht während seines Medizinstudiums durch das Prager Nachtleben, tanzt begnadet Walzer und Tango, knickt gedankenlos rechts und links die Frauenherzen, schließt sich der sozialistischen Studentenbewegung an und setzt sich zum Ärger seiner Professoren für kostenlose Behandlung der Armen und die Legalisierung der Abtreibung ein. Schließlich macht er sich so unbeliebt, dass der Vater ihn nach Paris schickt, wo er sich zu gleichen Teilen der Forschung, der Revolution, dem Tango und den Frauen widmet. Er bekommt eine Stelle am Institut Pasteur von Algier, versteckt sich vor der nach Hitlers Sieg über Frankreich einsetzenden Judenverfolgung drei Jahre in einer gottverlassene Versuchsstation, wo er an der Entwicklung eines Mittels zur Bekämpfung der Anopheles-Mücke forscht und die elenden arabischen Einheimischen medizinisch betreut, heiratet nach Kriegsende die schöne Schauspielerin Christine und kehrt schließlich mit ihr zurück in die Tschechoslowakei, unternimmt einen kurzen Ausflug in die Politik und landet schließlich als Leiter eines Lungensanatoriums in der Provinz, wohin man ihm eines Tages einen politisch offensichtlich hochwichtigen Patienten schickt, bei dem es sich um keinen anderen als Che Guevara handelt. Damit beginnt eine neue, tragische Liebesgeschichte: Josefs Tochter Helena verliebt sich in Che und einem Happyend steht nichts im Weg – außer den politischen Interessen. Am Ende, nach der friedlichen Revolution und dem Zerfall der Sowjetunion, blickt der hundertjährige Josef in Vergangenheit und Zukunft – und hört Tango auf dem Walkman.

Guenassias schwindelerregender Tour de Force mag die Dichte seines Erstlingswerks, dem „Club der unverbesserlichen Optimisten“ fehlen, dafür ist der gewählte Zeitraum zu groß, sind die Schauplätze zu verschieden. In „Eine Liebe in Prag“ reiht er höchst lebendige Episoden aneinander, bewegt sich sozusagen in Sprüngen durch die Räume und die Zeit, in einem immer aufs neue fesselnden Auf und Ab, und nimmt den Leser so mit auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle, so kafkaesk wie sentimental, so tragisch wie komisch, so ergreifend wie befremdlich. Reisen Sie mit – Sie werden es nicht bereuen.

Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main

 

Buchempfehlung – Katja Petrowskaja „Vielleicht Esther“

Suhrkamp Verlag, 2014 € 19.95
Suhrkamp Verlag, 2014
€ 19.95

Für das titelgebende Kapitel „Vielleicht Esther“ hat Katja Petrowskaja 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten. Damals lobten die Juroren einhellig die Leichtigkeit und sprachliche Schönheit, mit der die Autorin beschrieb, wie ihre jüdische Urgroßmutter im Zuge der großen Säuberung in Kiew erschossen wurde – ohne dass das Geschehen dadurch verharmlost wurde. Soviel vorweg: es ist eine der großen Qualitäten von Petrowskajas Buch, dass sie Ungeheuerliches, Verstörendes, Berührendes, Absurdes mit Leichtigkeit, Klugheit, Komik und Zartheit erzählen kann.

Die Autorin versucht, ihre weitverzweigte jüdische Familie zu rekonstruieren, deren Wurzeln in der Ukraine, in Russland und in Polen liegen. Viele sind bereits tot – verschollen, vertrieben, ermordet. Es gibt Geschichten über sie, aber auch Schweigen, und wie in jeder Familie werden Leerstellen übergangen oder durch Mythen aufgefüllt. Die wenigen Überlebenden des Krieges starben, als sie noch ein Kind war, zu jung, um Fragen zu stellen.

Einen Familienstammbaum wollte sie zeichnen, einen Scherbenhaufen hat sie gefunden, ein Puzzle, dessen Teile sich nicht ineinanderfügen wollten. Denn anders als im Westen Europas hörten die Schrecken nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf. Gab es weiterhin Antisemitismus, war es besser, keine politisch bedenklichen Familienmitglieder zu haben, war ein Erinnern an die Kriegsopfer nur möglich, wenn diese auf der „richtigen“ Seite gestanden hatten.

So erzählt sie Geschichten, die sich zu Kapiteln fügen und letztlich doch ein Ganzes werden. Von ihren Reisen, ihren Recherchen, ihren Erfahrungen und eigenen Erinnerungen. Das fügt sich weder chronologisch aneinander noch inhaltlich stringent zusammen. Ihr Erzählen ist wie das, was sie vorfindet – ein Puzzle, dessen Stücke mal hier, mal dort passen. Einzelne Bilder lassen sich zusammenfügen, andere nicht . Da finden sich Lehrer, die Waisenhäuser für taubstumme Kinder gründen, ein Großonkel, der 1932 ein Attentat auf den deutschen Botschafter in Moskau verübt, ein Großvater, der 41 Jahre nach dem Krieg wieder zu Hause auftaucht, Tanten, Onkel, Urgroßmütter und Anna und Ljolja, die in Babij Jar liegen. Aber in ihrem Netz verfangen sich auch die Geschichten gänzlich fremder Menschen, deren Schicksale sich vielleicht mit denen ihrer Familienmitglieder berührt haben könnten.

Und es gibt „Vielleicht Esther“ die so heißt, weil der Vater sich an den Namen seiner Großmutter nicht mehr erinnern kann, die er immer nur zärtlich Babutschka nannte. Die zu alt war, um auf die Flucht mitgenommen zu werden, als der Aufruf an alle Juden erging, sich zu der totbringenden Schlucht zu begeben, und die, als sie zwei Soldaten nach dem Weg fragte, sofort erschossen wurde.

Es ist die großartige Qualität dieses Buches, dass es nicht von der Last seines eigenen Inhalts erdrückt wird. Petrowskaja hat eine wunderbar klare Sprache, und dass sie noch in weiteren Sprachen zu Hause ist, gibt ihrem Ausdruck eine Bewusstheit und Vielfalt, die man bei jungen deutschen Autoren sonst oft vermisst.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt