Buchempfehlung – Annie Dillard „Pilger am Tinker Creek“

Matthes & Seitz, 22.- €

Lange bevor der jetzige Natur- und Tier-Boom in der Bücher- und TV-Welt ausgebrochen ist, lebte Annie Dillard in den sich nördlich von Oregon erstreckenden Blue Mountains, auf den Spuren von Henry David Thoreaus Walden, aber auch, um die Folgen einer schweren Krankheit auszukurieren. Über diese Zeit hat sie 1974 das Buch Pilgrim at Tinker Creek verfasst, das mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde und 1996 bei Klett Cotta unter dem Titel Der freie Fall der Spottdrossel erschien. Jetzt hat der Matthes & Seitz Verlag es in seiner wunderbaren Reihe Naturkunden mit dem Originaltitel Pilger am Tinker Creek wieder aufgelegt, und ich stelle mit großer Freude fest: es fasziniert mich genauso wie beim ersten Lesen und hat nichts von seiner Frische und sprachlichen Kraft eingebüßt.

Der Text folgt den Jahreszeiten, ist aber letztlich an keine Chronologie gebunden. Dillard verbringt ihre Tage mit langen Wanderungen, beobachtet Tiere und Pflanzen und lässt ihre Gedanken herumstromern. Wissbegierig und mit großer Neugierde beschreibt sie, was ihr begegnet. Assoziativ, aber nie beliebig, fragend und offen für alles, was kommt – was oft zu unerwarteten Erlebnissen führt. Eben noch in die Betrachtung von Schönheit versunken oder erheitert, kann der Text in puren Schrecken kippen. Zum Beispiel als sie erkennt, dass der halb aus dem Wasser lugende Frosch von unten von einer Riesenwanze ausgesaugt wird, bis seine Augen brechen und er als leere Hülle ganz ins Wasser sinkt. Ihre Themen sind so vielfältig wie die Natur in ihrer Umgebung. Dillard hat die Geduld eines Jägers und ist eine Meisterin im Anpirschen, die mit derselben Freude Vögeln, Eichhörnchen, Schildkröten und Bisamratten auflauert, mit der sie mit Staunen und Entsetzen das Fress- und Paarungsverhalten von Insekten beobachtet.

Fragen nach der Sinnhaftigkeit der Schöpfung spürt sie in philosophischen, religiösen und literarischen Texten nach, zitiert Statistiken, befragt das eigene Befinden – alles in einer farbigen, lebendigen, temporeichen, humorvollen Sprache zwischen Poesie und Drastik. Pilger am Tinker Creek geht dabei weit über pure Naturbetrachtungen hinaus. Annie Dillard hat eine Schule des Sehens geschrieben, deren Ziel die Veränderung der alltäglichen Wahrnehmung ist: sehen, beobachten, benennen und sich versenken. Letzteres beschreibt sie als etwas, das nie willentlich herbeizuführen ist, wofür sie nur durch Ausdauer und große Ruhe die Bedingung schaffen kann. Dazu gehört der immer wieder unternommene Versuch, das ewige innere Gerede zum Schweigen zu bringen – dann weitet sich manchmal der Blick, und dieser Augenblick ist die absolute Gegenwart.

1996, beim ersten Erscheinen des Buches in Deutschland, schrieb Thomas Linden in der Berliner Zeitung: „ …die 22 Jahre Verspätung, mit denen ‚Pilgrim at Tinker Creek‘ bei uns eingetroffen ist, haben ihm nichts von seiner Aktualität genommen. Im Gegenteil, in unserer Zeit, in der die Welt der Information die beobachtete Welt zunehmend verdrängt, stellt dieses Buch ein rares Meisterwerk dar, das uns lehrt, über dem geduldigen Schauen wieder Erfahrungen zu machen. Insofern gehört ‚Der freie Fall der Spottdrossel‘ zu jenen Büchern, die man getrost vererben kann, weil ihre Bedeutung in Zukunft noch wachsen wird.“ Dem ist auch 2016 nichts hinzuzufügen.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt am Main