Buchempfehlung

Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete.
Rowohlt Rotfuchs 16,99 €

Stevenson, Robin

Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete

Roman. Aus dem Englischen von Bettina Münch.

 

Gleich mal vorweg: Bienen werden in diesem Buch zwar erstmal nicht gerettet, vielleicht aber der Zusammenhalt einer Familie und die Integrität eines Jungen, der versucht herauszufinden, wer er außer dem verlässlichen großen Bruder und braven Sohn eigentlich sein möchte.

Wolf ist 12 und seine Mutter Jade der Inbegriff einer engagierten Öko-Aktivistin, die sich – nachdem Wolf in der Schule ein Referat über dieses Thema gehalten hatte – so umfassend mit dem Bienensterben befasst, dass aus ihrer Sicht der Kollaps des Ökosystems kurz bevorsteht. Um dem Weltuntergang nicht untätig zuzusehen, bricht sie mit ihrem Mann Curtis alle Zelte ab, gibt das Haus der Familie auf, lagert alle Möbel ein und plant, einen Sommer lang durch Kanada zu ziehen, von Kleinstadt zu Kleinstadt, um die Öffentlichkeit über das bedrohliche Verschwinden der Bienen und seine Konsequenzen zu informieren. Dass sie ihre Kinder aus der Schule und ihrem Umfeld reißt, scheint kein zu hoher Preis zu sein – immerhin geht es doch um deren Zukunft. So sieht das zumindest Jade, die in ihrem Aktivismus völlig aus den Augen verliert, wie es ihren Kindern mit diesen Zukunftsaussichten eigentlich geht.

Jade hat eine Vision, Curtis kümmert sich um den schwarz-gelb gestrichenen und auf Speiseölbetrieb umgerüsteten Ford, Violet, Wolfs 15-jährige Stiefschwester, rebelliert und kämpft darum, sich nicht von ihrem Freund Ty trennen zu müssen, und die 5-jährigen Zwillingsschwestern Saffy und Whisper freuen sich zumindest anfangs an ihren niedlichen Bienenkostümen, in denen sie die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich ziehen sollen.

Wolf steckt mitten drin in den Anfängen der Pubertät und in dieser bunten Patchworkfamilie. Er übernimmt die Verantwortung für die Versorgung seiner kleinen Geschwister, sorgt sich um seine ohnehin stille Schwester Whisper, die seit Beginn der Bienenrettungsreise völlig verstummt ist, und schwankt zunehmend zwischen unbedingter Loyalität gegenüber seiner Mutter und den langsam aufwallenden, eigenen Bedürfnissen. Eigentlich ist es für ihn undenkbar, in einem (zu engen) Bienenkostüm wildfremde Leute auf das Bienensterben anzusprechen oder gar um einen Schlafplatz für sich und seine Familie zu bitten. Er windet sich innerlich, man leidet mit ihm und wünscht ihm so sehr, sich endlich gegen die unbedachten Forderungen seiner Mutter aufzulehnen. Allzu nachvollziehbar ist sein verzweifelter Wunsch nach einem gemütlichen Zuhause, anstatt in einem miefenden, altersschwachen Van zur abstrakten Rettung der Welt auf unbestimmte Zeit durch Kanada zu fahren.

Die quirlige, euphorische Mutter erscheint in ihrem Überschwang auch nicht wirklich unsympathisch, ist aber ein gutes Beispiel dafür, dass der Zweck eben nicht immer die Mittel heiligt. Mit ihren düsteren Beschreibungen einer Welt ohne Bienen versucht sie voller Idealismus, die dringenden gesellschaftlichen Veränderungen anzustoßen. Gleichzeitig bürdet sie aber ihren Kindern die Verantwortung für den Fortbestand der Menschheit auf. Eine Last, die weder Wolf noch seine Schwestern tragen können, oder – wie in Violets Fall – auch gar nicht tragen wollen.

Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete handelt von Loyalitätskonflikten, Patchworkfamilien-Problemen, Pubertätswallungen und Verantwortung. Mit pointiertem Witz, Spannung und Mitgefühl macht die kanadische Autorin Robin Stevenson darauf aufmerksam, dass Eltern nicht immer besser wissen, was gut für ihre Kinder ist, und ermutigt Kinder dazu, sich auf ihr eigenes Gefühl zu verlassen und auch dazu zu stehen.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung – Colson Whitehead „Underground Railroad“

Hanser Verlag 24€

Eine Sklavin zu sein bedeutet nicht nur, nicht gehen zu können, wohin man will, nicht sagen zu können, was man will, zu dienen und zu arbeiten ohne Entlohnung oder Rechte. Sklaverei ist ein umfassender Lebenszustand. Die Menschen in Whiteheads Roman wurden meist bereits in die Sklaverei geboren, oft schon seit mehreren Generationen. Schon die Idee eines anderen Lebens, die Hoffnung auf Flucht liegt für die meisten von ihnen außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Allein an Flucht zu denken gilt als verrückt, geschweige denn, sie auch zu wagen. Und so ist es kein Zufall, dass die Geschichte der Flucht, die Whitehead hier erzählt, auch die Geschichte zweier Außenseiter ist: Caesar, der schon einmal eine Ahnung von einem anderen Leben erhielt, als seine vorherige Herrin ihn das Lesen lehrte und die Freiheit versprach, und Cora, deren Mutter zur Legende wurde, als es ihr gelang, von der Farm zu fliehen, ohne je wieder gesehen zu werden. Zusammen gelingt ihnen die Flucht von der Farm in ein noch unbekanntes anderes Leben. Doch noch unvorstellbarer als die Flucht selbst scheint die reale Möglichkeit dieses anderen Lebens, eines Lebens, das einem, ungeachtet der Hautfarbe, selbst gehört. Auf den unzähligen Etappen ihrer Reise wird deutlich, dass es das große andere, das gänzlich befreite, nicht rassistische Land auf einer imaginierten anderen Seite nicht gibt. Je weiter sich Cora und Caesar vom Süden entfernen, desto leichter fällt es ihnen, an eine befreite Wirklichkeit zu glauben, und desto bitterer ist die Ernüchterung, wenn sich ihre Pläne zerschlagen.

Colson Whitehead erschafft ein Panorama der nordamerikanischen Geschichte zur Zeit der Sklaverei und entfaltet sie entlang von Coras Stationen auf der Underground Railroad. Das historische Untergrundnetzwerk, mit dem weiße Abolitionisten SklavInnen bei der Flucht unterstützten, wird von Whitehead wörtlich genommen und somit zur geheimen Untergrundbahn. Wo sie abfährt, lässt sie für Cora verbrannte Erde zurück, und sie hat immer nur ein Ziel: weg von hier in Richtung eines neuen, unbekannten Ortes und der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch Whiteheads Roman ist nicht nur die spannende Geschichte einer nicht enden wollenden Flucht, er erzählt uns auch sehr viel über das Verhältnis von Sklaverei und Rassismus, darüber, wie sich die Vorstellung, Menschen würden, aus welchen Gründen auch immer, zum Besitz anderer Menschen, auch dort immer wieder einschleicht, wo sie überwunden geglaubt zu sein scheint. Whitehead stellt in sehr klaren Bildern und intensiven Szenen dar, wie Rassismus und Sklaverei als Grundpfeiler für ökonomische wie für soziale Ordnungen funktionieren. Das ist einerseits eine glaubhafte Darstellung struktureller Diskriminierung, bietet ihm aber andererseits auch die Chance, den Figuren in seinem Roman Tiefe zu verleihen.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung – Chris Kraus „I Love Dick“

I Love Dick.
Matthes & Seitz, 22€

Spricht man wohlwollend über Literatur von Autorinnen, fallen nicht selten Sätze wie „Sie schreibt gänzlich unaufgeregt und distanziert“, ganz so, als habe man jede Autorin zunächst gegen ein grundlos wütendes oder rettungslos emotionales Schreckensbild weiblichen Schreibens zu verteidigen. Autorinnen (Leserinnen ebenso) wurde seit jeher vorgeworfen, das Geschriebene zu persönlich zu nehmen, die notwendig distanzierte künstlerische Haltung nicht einnehmen zu können. Mit ihrem Roman schreibt Chris Kraus gegen jegliche aus diesen Vorwürfen resultierende Selbstzügelung an. Ihr Roman ist ebenso persönlich, wie er radikal emotional ist.
Inhaltlich erzählt er von Chris Kraus und ihrem Mann Sylvère Lothringer, für die ein einziges Essen mit Dick, einem Kollegen von Sylvère, zum Ausgangspunkt für eine ebenso spielerische wie aussichtslose und radikale Liebesbesessenheit wird. Dick wird zum Adressaten zahlloser Briefe, die zunächst von dem Paar gemeinsam verfasst werden. Das Briefprojekt füllt bald das gesamte gemeinsame Leben der beiden aus, wird zum Dreh- und Angelpunkt ihre Beziehung zueinander und zur Welt. Dick selbst wird damit als Angesprochener überall präsent, wenn er auch als Person kaum auftaucht. Immer geht es in den Briefen auch darum, einen behaupteten Abstand zwischen künstlerischem Schaffen und Privatheit nicht gelten zu lassen. Chris Kraus kämpft dabei konsequent dagegen an, die Liebe zu Dick, die sie als Kunstwerk betrachtet, deswegen als nicht aufrichtig, als imaginiert bezeichnen zu lassen. Es gibt keine Grenze zwischen der schreibenden, der liebenden und der Autorin Chris Kraus. Notwendigerweise wird so auch Schizophrenie zu einem der großen Themen des Romans. Man könnte ihn als Versuchsanordnung, als Experiment absoluter Distanzlosigkeit bezeichnen, stünde man damit nicht in der Gefahr, gerade die tatsächliche Faktizität der Emotion wieder zu negieren und den Selbstschutz des rein Fiktiven wieder zu errichten. Dieser Roman ist auf allen Ebenen, stilistisch wie inhaltlich, ein Wagnis und unbedingt lesenswert.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung – Manja Präkels „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“

Verbrecher Verlag 20€

Was geschieht, wenn man nach langer Abwesenheit an den Ort seiner Kindheit und Jugend zurückkehrt? Und wenn dieser Ort nicht Unbeschwertheit oder Geborgenheit vermittelt, sondern Angst? Wenn man nach Jahren des Exils zurückkommt und Hitler einem mit einem Mal wieder als der alte Schulfreund erscheint, der er einmal war?

Früher sind Oliver und Mimi oft zusammen angeln gegangen. Obwohl sie wenig miteinander gesprochen haben, bestand doch eine Freundschaft zwischen ihnen. Dann kam die Wende, und aus Oliver wurde Hitler, Anführer einer von zahlreichen Neonazigruppen, die zu dieser Zeit die Kontrolle über das soziale Leben übernahmen, wie Mimi ihre Erinnerungen beschreibt. In ihrer Rückschau auf die Ereignisse, wird der Protagonistin klar, dass diese frühe Freundschaft zu Hitler/Oliver ihr das Leben gerettet haben könnte. Denn mit dem Erstarken der Neonazis wurden sie und ihre Freunde, die „Zecken“, zu Gejagten. Denn der Einfluss der Rechten auf die Gesellschaft scheint übermächtig und allgegenwärtig und wird doch, auch damals schon, totgeschwiegen. Nazis stürmen Diskotheken und Kneipen, die “Zecken” werden verfolgt und verprügelt. Ein Freund überlebt einen dieser Überfälle nicht. Die Täter werden freigesprochen, die Angst wächst, die Übergriffe werden häufiger. Von ihrer Familie wird Mimi Verfolgungswahn vorgeworfen, alles Einbildung, Übertreibung. Es folgt die Flucht nach Berlin, doch der Neuanfang, den die Großstadt verspricht, bleibt aus.

Manja Präkels, die sich mit neonazistischen Gruppierungen und Strömungen auch in ihrer journalistischen Tätigkeit beschäftigt und hier auch ein Stück weit ihre eigene Biografie verarbeitet, schreibt mit einer ungeheuren Sachkenntnis. Dabei gelingt es ihr wie wenigen ihrer journalistischen KollegInnen, sich auf die literarische Form des Romans einzulassen. Durch ihren direkten Erzählstil überträgt sich die beklemmende Stimmung auf die Leserin und sorgt dafür, dass das Buch einen lange beschäftigt.

In Deutschland, in den neuen Bundesländern wie in den alten, wurde und wird rechte Gewalt systematisch geleugnet oder kleingeredet. Mit ihrem Roman wie mit ihrer journalistischen Arbeit leistet Manja Präkels einen wichtigen Beitrag zur Debatte.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co. Frankfurt

Buchempfehlung – Christophe Boltanski „Das Versteck“

Hanser Verlag 23€

Ein Haus in der Pariser Rue de Grenelle, beste Wohnlage in großbürgerlichem Ambiente, bewohnt von der Familie Boltanski, deren Bekanntheitsgrad in Frankreich ungefähr der Bekanntheit der Familie Mann in Deutschland entspricht: Großvater Etienne ist Arzt, Großmutter Marie-Élise schreibt unter dem Pseudonym Annie Lauran erfolgreiche Romane, die Söhne machen Karriere: Jean-Élie als Linguist, Luc als Soziologe und Christian als Installationskünstler und Filmemacher, (Adoptiv-) Tochter Anne als Fotografin. Enkel Christophe schließlich, der diese Familiengeschichte vorlegt, ist Journalist. Wer jetzt aber erwartet, dass hier mal wieder ein Nachgeborener die Familiengeschichte zelebriert, sei es als Lobgesang, sei es als Skandalchronik, der liegt völlig falsch. Denn Das Versteck erzählt weit mehr als die Geschichte einer vor Exzentrik und Widersprüchen nur so strotzenden Familie, nämlich eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, die nicht weniger exzentrisch und widersprüchlich ist.

Im Mittelpunkt steht das Haus in der Rue de Grenelle, dessen Mittelpunkt wiederum Großmutter Mairie-Élise bildet. Sie ist es, die ihre Familie zusammenhält, und das im Wortsinne: In dieser Familie, so der Eindruck, ist praktisch niemand auch nur eine Minute allein. Die schützende Hülle des Hauses wird nur in der kleineren, aber ebenso geschlossenen Hülle des Autos verlassen –einem Fiat 500, auch „Joghurtbecher“ genannt – , den die durch eine Polio-Erkrankung stark gehbehinderte Großmutter mit Hilfe von an den Pedalen angebrachten Stäben steuert und in den neben den Großeltern Sohn Jean-Élie, Tochter Anne und Enkel Christophe gepfercht werden. Geparkt wird stets so, dass der Zwischenraum zwischen der Wagentür und dem Eingang des jeweiligen Zielorts möglich klein ist. Das Haus und seine Verlängerung, das Auto, bilden in der Erinnerung des Erzählers ein Raumschiff, das man nur selten verlässt, um sich nicht allzu lange als Alien zu fühlen.

Das Zentrum des Hauses wiederum bildet das Schlafzimmer, in dem die gesamte Familie schläft, die Großeltern im Bett, Söhne und Enkel in Schlafsäcken auf dem Fußboden, während im Fernsehen alte Western ohne Ton ein flackerndes Licht verbreiten. Im Widerspruch zu dieser beklemmend wirkenden Enge, die mehr an ein Gefängnis als ein Heim erinnert, steht die geistige Freiheit in diesem Haus, die der Autor, der mit dreizehn Jahren auf eigenen Wunsch hin zu den Großeltern zieht, so beschreibt: „Ich bin nie so frei und glücklich gewesen wie hier. Dieser unglaubliche Lebenshunger, die Momente der Trunkenheit, ja der Euphorie. Die Möglichkeit, fast alles zu sagen. Das Licht trotz der Finsternis.“

Aber das ist nur einer der Widersprüche, die sich durch das Buch ziehen. So hält zum Beispiel der Großvater, immerhin Facharzt für Hygiene, Waschen für ungesund, die Großmutter, die von ihrer Adoptivmutter ein großes Anwesen in der Bretagne geerbt hat, samt Schloss und riesigen Ländereien, verteilt Sonntags im Viertel das Wochenblättchen der Kommunisten; man führt ein gastfreies Haus, in dem jeder willkommen ist, aber so gut wie nichts zu essen und zu trinken angeboten wird, weil eben niemand einkauft. Und trotz der „Möglichkeit, fast alles zu sagen“, stellt der Enkel nach dem Tod der Großeltern fest, dass er nur wenig über deren Herkunft und Schicksal weiß.

Die Spuren ihrer Geschichte findet er im Haus, dessen Grundriss der Roman auch formal folgt. Die Kapitel tragen Titel wie „Küche“, „Arbeitszimmer“, „Salon“. Man folgt ihm durch die Räume, die die Geschichte der jüdischen Emigration aus Osteuropa, der beiden Weltkriege, des Holocausts und des Algerienkrieges in sich bergen, und erreicht schließlich das titelgebende „Versteck“, in dem der – jüdische – Großvater die Verfolgung überlebt hat. Und man lacht, weint, erschrickt und freut sich an all den wunderbar komischen, tragischen, absurden Geschichten, die in jedem Zimmer stecken. Es wundert nicht, dass das Buch den Prix Femina erhalten hat und in Frankreich zum Bestseller geworden ist. Man kann diese großartige Entdeckungsreise durch das Haus in der Rue de Grenelle nur wärmstens empfehlen.

Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main

 

Das Leben der Freiheit und die Abschaffung der Freiheit

Thomas Khurana und Frank Ruda im Gespräch mit Dirk Setton

Buchvorstellung und Diskussion

Freitag, 14. Juli 2017, 20 Uhr

Es scheint unmöglich, gegen die Freiheit zu sein. Wenn es einen Wert gibt, der in den politischen Philosophien der Gegenwart unumstritten ist – gleich ob sie sich nun anarchistisch, libertär, liberalistisch, republikanisch oder kommunitaristisch verstehen –, dann ist es die Freiheit. Die Fraglosigkeit und die inflationäre Bestätigung der Freiheit sollten dabei jedoch misstrauisch machen: Da kann etwas nicht stimmen.

Die beiden Bücher, die an diesem Abend zur Diskussion stehen, fragen danach, was mit den beiden dominanten Freiheitskonzeptionen der Gegenwart nicht stimmt: mit der Idee der Wahlfreiheit und der Idee der vernünftigen Selbstbestimmung. Während Frank Ruda zeigt, dass die Freiheit der Wahl uns weder Freiheit ermöglicht noch die Wahl lässt, zeichnet Thomas Khurana eine grundlegende Paradoxie nach, nach der im Inneren der Autonomie Willkür und Zwang wiederzukehren drohen.

Frank Ruda schlägt vor diesem Hintergrund vor, die Freiheit abzuschaffen und sich in einem neuen Fatalismus zu üben: Nur derjenige, der einsieht, dass er keine Wahl hat, kann sich von der Freiheitsillusion befreien. Thomas Khurana schlägt vor, die Idee der Selbstbestimmung so neu zu verstehen, dass sich die inneren Spannungen der Autonomie entfalten statt bloß verdecken lassen. Die Frage ist, in welchem Verhältnis diese beiden Versuche eigentlich stehen: Wie steht das Vorhaben, die Freiheit abzuschaffen, zu dem, sie zu beleben?

Thomas Khurana ist Lecturer of Philosophy an der University of Essex. Er arbeitet gegenwärtig an einem Projekt zur Kunst der zweiten Natur und zum Verhältnis von Selbstbewusstsein und Vergegenständlichung.

Frank Ruda ist Vertretungsprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Gegenwärtig arbeitet er an einem Projekt zum Begriff des Muts.

Dirk Setton ist Postdoktorand am Cluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Thomas Khurana. Das Leben der Freiheit.
Form und Wirklichkeit der Autonomie. Berlin: Suhrkamp 2017

Frank Ruda. Abolishing Freedom: A Plea for a Contemporary Use of Fatalism.
Lincoln/London: University of Nebraska Press 2016

Die Demokratie und ihre Leidenschaften – Zur Aktualität von Alexis de Tocqueville

Judith Mohrmann und Johannes Völz im Gespräch mit Felix Trautmann

Montag, 26. Juni 2017, 20 Uhr

Prismen – Institut für Sozialforschung bei Marx & Co

Betrachtet man aktuelle politische Krisendiagnosen, so fällt auf, dass diese selten ohne den Verweis auf die entsprechende Gefühlslage der politischen Subjekte auskommen. Mal sind diese enttäuscht, verdrossen oder apathisch, mal wütend, rasend oder sogar von Hass erfüllt. Diese Rolle von Leidenschaften und Affekten in der Politik wird allerdings meist mit Sorge betrachtet: sie scheinen unkontrollierbar und irrational. Dass Politik jedoch nicht ohne Affekte und insbesondere nicht ohne eine Leidenschaft für die Politik auskommt, behauptet bereits Anfang des 19. Jahrhunderts Alexis de Tocqueville. Ihm zufolge lässt sich die Demokratie als eine soziale Lebensform verstehen, in der bestimmte emotionale und affektive Verhaltensweisen gleichermaßen positive wie negative Auswirkungen auf die demokratische Freiheit und Gleichheit haben können. Anhand verschiedener Affekte veranschaulicht er die inneren Widersprüche der demokratischen Ideale.
Mit Blick auf die aktuellen politischen Verhältnisse, die von sozialer Ungleichheit, einem schwindenden Vertrauen in politische Parteien und Institutionen sowie der populistischen Mobilisierung geprägt sind, stellen sich diese Fragen erneut: wie lässt sich die Rolle von Affekten in der Demokratie verstehen? Welche von ihnen werden in der Politik zur Gefahr für andere und wann sind Affekte gerade das Antidot einer drohenden Entpolitisierung?

Über diese und weitere Fragen diskutieren die Philosophin Judith Mohrmann vom Institut für Sozialforschung und Johannes Völz, Heisenberg-Professor für Amerikanistik an der Goethe-Universität Frankfurt, mit Felix Trautmann (Institut für Sozialforschung). Hintergrund der Diskussion bildet der Themenschwerpunkt „Alexis de Tocqueville und die Paradoxien der Gleichheit“ in WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 1/2017.

Judith Mohrmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung im Rahmen des Forschungsprojekts „Verhandlungsformen normativer Paradoxien“. Sie promovierte 2013 an der Goethe-Universität Frankfurt mit einer Arbeit über die Rolle der Affekte in der Französischen Revolution sowie im Denken von Hannah Arendt und Immanuel Kant. In ihrer aktuellen Forschungsarbeit befasst sie sich mit der Rolle des guten Lebens im Kapitalismus.

Felix Trautmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung. Seine 2015 abgeschlossene Promotion behandelt die von Machiavelli und La Boétie formulierte Diagnose einer ‚freiwilligen Knechtschaft‘ und erweitert diese für demokratische Gesellschaften. Aktuell arbeitet er in einem Forschungsprojekt mit dem Titel „Paradoxien der Gleichheit. Die Demokratie und ihre Kulturindustrie“.

Johannes Völz ist Heisenberg-Professor für Amerikanistik mit dem Schwerpunkt „Demokratie und Ästhetik“ an der Goethe-Universität Frankfurt. In seinen jüngsten Buchpublikationen befasst er sich mit den Themen Angst, Sicherheit und Ungewissheit in der amerikanischen Literatur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. In einem weiteren Forschungsprojekt untersucht er den Wandel von Privatheitsheitsvorstellungen in der amerikanischen Gegenwartsliteratur.

Buchempfehlung – Daniel Schreiber „Zuhause“

Hanser, 18.- €

Im Vergleich zu noch gar nicht so lange zurückliegenden Zeiten sind wir ungeheuer mobil geworden. Reisen in andere Länder, ob beruflich oder in den Ferien, absolvieren wir mit der gleichen Nonchalance, mit der wir die Bahn in die nächste Stadt nehmen. Übers Wochenende zum Shoppen nach London fliegen – ziemlich normal. Für den Job die Stadt oder gar das Land wechseln – eine spannende neue Erfahrung. Und doch scheint ein ganz altmodisches Gefühl in uns zu schlummern, das sich völlig unvorbereitet Bahn brechen kann mit der Frage: Wo bin ich eigentlich zu Hause? Und vielleicht noch: was ist das eigentlich, wonach ich mich plötzlich sehne?

War „Zuhause“ einst das, wo man herkam – das Land, die Region, der Ort, die Menschen, die Sprache – richtet sich dieses Gefühl heute eher auf einem imaginären Ort in der Zukunft. War es früher an einen geographischen Platz gebunden, ist es heute eher ein Zustand geworden, der für jeden mit anderen Inhalten gefüllt sein kann. Aber irgendwann scheint die Suche nach dem, wo man sich Zuhause fühlt, für viele wichtig zu werden. So auch für Daniel Schreiber, der nach einer Trennung in eine Krise gerät, in der das Thema der Zugehörigkeit existentiell wichtig wird. So beginnt er sich zu fragen, was das eigentlich ist, ein „Zuhause“. Worin unterscheidet es sich von „Heimat“? Wie haben sich die Begriffe im Laufe der Zeit verändert? Dem spürt in der eigenen Familiengeschichte nach, die, wie bei vielen, von Verlusterfahrungen durch Vertreibung und Flucht geprägt ist, und taucht in die eigene Biografie ein. Er erinnert sich an seine unbehauste Kindheit als schwuler Junge in der DDR, denkt über seine Freundschaften und Beziehungen nach. Liest soziologische, philosophische und psychologische Literatur und umkreist das Thema auf vielfältige, zumeist sehr persönliche Weise. Dabei kommt er zu immer neuen Definitionen. Mir hat am besten gefallen: „Das Zuhause ist kein Paradies, aus dem wir vertrieben wurden. Dieses Paradies hat nie existiert. Sich ein Zuhause zu suchen bedeutet nicht, nach einer besseren Stadt Ausschau zu halten, nach einem schöneren Landstrich, einem anderen Land. Sich ein Zuhause zu suchen bedeutet, einen Ort in der Welt zu finden, an dem wir ankommen – und dieser Ort wird zuallererst ein innerer Ort sein, ein Ort, den wir uns erarbeiten müssen.“

Daniel Schreiber ist mit Zuhause ein kluges, erhellendes und unterhaltsames Buch gelungen, in dem wahrscheinlich jeder Leser den einen oder anderen Aspekt finden wird, in dem er sich wiederfindet.

Ruth Roebke, autorenbuchhandlug marx & co, Frankfurt

Die Gegenwart der Homophobie

Volker M. Heins im Gespräch mit Sophinette Becker und Bernd Simon

Montag, 24. April 2017, 20 Uhr

Prismen – Institut für Sozialforschung bei Marx & Co

Vieles spricht dafür, den Kampf um die rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Akzeptanz von nicht-heterosexuellen Menschen als eine große Erfolgsgeschichte zu erzählen. Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender sind in einer Weise rechtlich, medial und sozial aufgewertet worden, wie man es noch in den 1960er Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Dennoch stellt sich bei näherem Hinsehen eine Vielzahl von Fragen: Was sind die Gründe für die wachsende Akzeptanz von Schwulen und Lesben? Wie stabil oder brüchig ist dieser Trend? Lässt er sich globalisieren? Wie verhält sich eine progressive Gesetzgebung zum Abbau von gruppenbezogenen Vorurteilen? Vor allem: Was bedeutet eigentlich »Anerkennung« in diesem Zusammenhang?

Über diese und weitere Fragen diskutieren der Kieler Psychologe Bernd Simon und die Frankfurter Psychoanalytikerin Sophinette Becker. Moderieren wird Volker M. Heins vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Den Hintergrund bildet der Themenschwerpunkt »Die Gegenwart der Homophobie« in WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2/2016.

Sophinette Becker ist Psychoanalytikerin. Sie leitete bis 2011 die Sexualmedizinische Am­bulanz der Uniklinik Frankfurt. Die Psychotherapeutin und Sexualwissenschaftlerin ist seit vielen Jahren auf Transsexualität und andere Besonderheiten der Geschlechteridentität, aber auch auf den kulturellen Wandel der Sexualität spezialisiert. Sie war lange Zeit Mitherausge­berin der renommierten Zeitschrift für Sexualforschung.

Volker M. Heins ist Permanent Fellow und Leiter des Forschungsbereichs Interkultur am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Er ist Mitglied der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum sowie Leiter des Forschungsbereichs »Globale Kul­turkonflikte und transkulturelle Kooperation« am Centre for Global Cooperation Research / Käte Hamburger Kolleg in Duisburg.

Bernd Simon ist Professor für Sozialpsychologie und Politische Psychologie am Institut für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Identitäts-und Gruppenforschung unter besonderer Berücksichtigung von Beziehungen zwi­schen Minoritäten und Majoritäten, Politisierungsprozessen, Macht, Respekt und Toleranz.

Jörg Später. Siegfried Kracauer. Eine Biographie

Suhrkamp, 39.95 €

Detlev Claussen spricht mit Jörg Später über seine Kracauer Biographie

Mittwoch, 29.03.2017, 20 Uhr

Siegfried Kracauer (* 1889 Frankfurt am Main – † 1966 New York) war Journalist und Soziologe, Filmwissenschaftler und Romancier. Er war Teil des philosophischen Quartetts mit Adorno, Benjamin und Bloch. Als Jude und politisch Linker musste er 1933 aus Deutschland fliehen.

Kracauers soziologische und filmtheoretische Studien zu den Angestellten, zum Ornament der Masse und Von Caligari zu Hitler gelten heute noch als Meilensteine – erstaunlich genug, dass es über ihn, den „wunderlichen Realisten“ (Adorno), bis heute keine große Biographie gegeben hat. Eine Lücke, die der Historiker Jörg Später schließt und erfreulicherweise Kracauers Tugenden fortsetzt: leichte Lesbarkeit mit tiefsinnigen Einsichten zu verknüpfen. Dabei entfaltet Später nicht nur das ganze Panorama von Kracauers Leben, sondern auch das einer ganzen Generation und Epoche.

Jörg Später, geboren 1966, studierte Politikwissenschaft, Islamwissenschaft und Neuere und Neueste Geschichte. Der promovierte Historiker ist Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg.

Detlev Claussen, geboren 1948, studierte Philosophie, Soziologie, Literatur und Politik in Frankfurt am Main, u.a. bei Adorno, und lehrte als Professor für Gesellschaftstheorie, Kultur- und Wissenschaftssoziologie an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover.

Utopie und Gewalt – Andrej Platonov „Die Baugrube“

Suhrkamp Verlag, 24 €

Die Übersetzerin Gabriele Leupold im Gespräch mit Manfred Sapper

Dienstag 21. Februar 2017, 20 Uhr

Andrej Platonov (1899–1951) ist ein Schriftsteller vom literarischen Rang eines James Joyce, Robert Musil oder Franz Kafka. Doch sein Werk ist bis heute weithin unbekannt. Sein Schreiben steht quer zu den literarischen, ästhetischen und ideologischen Konventionen seiner Zeit. Seine wichtigsten Romane konnten zu seinen Lebzeiten nicht erscheinen und seine hochkomplexe Sprache macht ihn zu einem Autor für anspruchsvolle Leser.

Nun liegt Platonovs Schlüsselwerk „Die Baugrube“ (1930) in einer neuen Übersetzung von Gabriele Leupold vor. Platonov erweist sich darin als literarischer Chronist und unbestechlicher Beobachter der frühen Sowjetunion. Er ist als Klassiker der Moderne zu entdecken, dessen Texte der gnadenlosen Kausalität von Utopie und Gewalt unvergleichliche Prägnanz und Ausdruckskraft verliehen haben.

Gabriele Leupold ist Übersetzerin aus dem Russischen (u.a. Michail Bachtin, Vladimir Sorokin, Michail Ryklin). Sie erhielt 2002 den Celan Preis für die Übersetzung von Andrej Belyjs Petersburg, sowie 2012 den Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung.

Manfred Sapper leitet als Redakteur die Zeitschrift OSTEUROPA, deren letzter Band „Utopie und Gewalt“ Andrej Platonov gewidmet ist.
In Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO), Berlin