Buchempfehlung

Fernando Aramburu – Patria

Rowohlt Verlag, 25 €
978-3-498-00102-5

ETA, IRA und RAF – der Terror, der von europäischen Terrorzellen ausging, ist im kollektiven Gedächtnis zurückgetreten hinter die Nachrichten über den internationalen Terror seit dem 11. September 2001. Und doch ist das alles gerade erst gewesen. Erst dieses Jahr hat die ETA offiziell ihre Auflösung bekanntgegeben. Zwar war es mittlerweile um die ETA so still geworden, dass niemand mehr eine wirkliche Bedrohung in ihr sah, aber die Meldung erinnert wie Fernando Aramburus Roman Patria an andere Zeiten, in denen die Zahlen der jährlichen Anschläge und Todesopfer in Westeuropa im Schnitt tatsächlich weitaus höher lagen als in den letzten zwanzig Jahren.

Aramburus preisgekrönter Roman Patria ist in Spanien ein Bestseller, geschrieben von einem Autor, der zwar Spanier bzw. Baske ist, mittlerweile aber in Deutschland lebt und damit zusätzlich zur zeitlichen auch noch die räumliche Distanz nutzt, um auf die Hochzeit der ETA-Bewegung zu blicken. Patria beschreibt nicht vornehmlich die Ideen oder die Ziele der ETA, sondern besonders eindrücklich den schleichenden Mechanismus, mit dem eine terroristische Gruppierung den Alltag unterwandert, Ausgrenzungen betreibt, Familienleben und Freundschaften zerstört, und wie aus kleinen Jungs, die eben noch Kleine-Jungs-Streiche machten, Terroristen werden – beinahe übergangslos geht das, beinahe gedankenlos.

Schauplatz des Geschehens ist ein kleines Dorf im Baskenland, in dem der Fabrikbesitzer Txato an einem verregnetem Nachmittag nach seinem Mittagsschläfchen auf dem Weg zur Arbeit auf offener Straße erschossen wird. Txato wird schon lange bedroht und öffentlich diffamiert, hat schon lange Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, er tut sein Bestes, um in seinem Alltag nicht vorhersehbar zu sein, wechselt Wege und Autos, die Tochter wird weit weg zum Studieren geschickt, und mit Geld versucht er die ETA zu beruhigen und beruhigt doch vor allem sich selbst.

Gut war dieses Leben schon lang nicht mehr, die Familie hat im Dorf keine Freunde mehr, und gerade die engsten, die liebsten haben sich abgewandt: Joxian und Txato stiegen jeden Sonntag gemeinsam aufs Rennrad, die Ehefrauen Miren und Bittori kannten sich seit Kindertagen. Aber just der Sohn von Miren und Joxian geht zur ETA – hat er Txato getötet? Nach dem Mord an ihrem Mann verlässt Bittori das Dorf, sie wird von ihren Kinder nach San Sebastián gebracht, aber das Haus behält sie über all die Jahre der Abwesenheit.

Aramburus Roman beginnt in jenem Moment, als sich Bittori dem Dorf und ihrem Haus langsam wieder nähert und, ebenfalls mit zeitlichen Abstand, zu verstehen versucht, was eigentlich passiert ist.

Patria ist zu gleichen Teilen ein Roman über den Terror der ETA und ein Familien- und Freundschaftsroman, ein Ehe- und Liebesroman – ein wahnsinnig gut geschriebenes, vielstimmiges Buch, das man wie eine gute Serie einfach nicht abschalten kann. Unbedingt lesen.

Ines Lauffer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt