Buchempfehlung

Éric Vuillard – Die Tagesordnung

Matthes&Seitz Verlag, 18 €
978-3-95757-576-0

Vierundzwanzig Industrielle waren es, die am 20. Februar 1933 von Hitler zur Kasse gebeten wurden, um die letzte Phase des Wahlkampfs der Nationalsozialisten zu finanzieren. Keiner muckte auf, alle entrichteten ihren Obolus, war ihnen doch die Befreiung vom Übel des Kommunismus versprochen worden, die Abschaffung der Gewerkschaften und das uneingeschränkte Führertum im eigenen Unternehmen. Die besten Prämissen für gesicherten Gewinn, und das über Jahrzehnte.

Mit Österreich verfuhr Hitler anders als mit dem Klerus der Großindustrie, er setzte Bundekanzler Schuschnigg massiv unter Druck. Aber letztendlich reagierte dieser ähnlich: Er beugte sich dem Bluff. Der Triumph des rätselhaften Respekts vor der Lüge, das ist es, was Vuillard hier seziert, der Triumph der Machenschaften über die Tatsachen. Mit diesem literarischen Meisterwerk gewann der Autor in Frankreich die höchste literarische Auszeichnung, den Prix Goncourt. Neben der ihm entgegengebrachten Wertschätzung ist ihm auch Überheblichkeit vorgeworfen worden. Nun, Satire arbeitet mit gespitztem Bleistift. Und natürlich ist es leichter, aus der Distanz von Jahrzehnten darüber zu urteilen, wie dilettantisch Hitlers erste Schritte in der Politik de facto waren, wie leicht die Industrie und die anderen Großmächte seinen politischen Parolen auf den Leim gingen. Aber spätestens jetzt müssten im Publikum die Alarmglocken läuten. Warum? „Man stürzt nicht zweimal in denselben Abgrund. Aber man stürzt immer auf dieselbe Weise, in einer Mischung aus Lächerlichkeit und Entsetzen.“

Wenn Geschichte so erzählt wird, wie Vuillard zu erzählen vermag, begreift man das ganze Ausmaß ihrer Ungeheuerlichkeit. Und das gilt für gestern wie auch für heute. „Die größten Katastrophen kommen oft auf leisen Sohlen.“ Das sollte uns zu denken geben.

Susanne Rikl, München