Buchempfehlung

Jens Rehn – Nichts in Sicht

Schöffling & Co, 20 €
978-3-89561-149-0

Der gleichgültige Ozean, wie mit dem Rasiermesser glattgezogen, die steinkalte Ewigkeit des Universums darüber. Ein Wohin gibt es hier nicht. Und was war gleich noch die Bedeutung der Zeit? „Gekrümmter Raum? Gekrümmte Zeit? Gekrümmter Mensch?“ In ewigem Gleichtakt versinkt die Sonne und steigt wenig später wieder auf. Tagein, tagaus. Und in der Zwischenzeit verfault der Mensch.

Es ist 1943, Weltenbrand. Ein amerikanischer Flieger und ein deutscher U-Bootfahrer hocken zusammen auf einem Schlauchboot irgendwo im Mittelatlantik. Einer fiel vom Himmel, einer wurde aus dem Meer gezogen. Mit an Bord des Rettungsbootes: Eine Flasche Whiskey, Zigaretten und Kaugummis. Für ein paar Tage reicht diese Ration, dann würde Rettung kommen müssen. Der Amerikaner hat zudem bei seinem Absturz einen Arm verloren, ist nun septisch und deliriert seinem Ende entgegen. Dabei erzählt er dem Deutschen aus seinem Leben, von seiner Liebe, wird zornig, höhnisch und verstummt schließlich endgültig.

„Der Andere“, wie der Deutsche nur genannt wird, treibt nun alleine auf dem Schlauchboot seinem Schicksal entgegen und ist dabei seinen weit ausgreifenden Gedanken völlig ausgeliefert.

Mors omnia aequat, heißt es. Der Tod macht alles gleich. Das ist richtig, denkt man sich, wenn man Jens Rehns Debütroman liest, der 1954 erstmals erschien und gerade von Schöffling neu aufgelegt wurde. Auch schon die Aussicht auf den baldigen Tod schleift alle Unterschiede ab. Freund und Feind, Krieg und Frieden – was sind das schon für Kategorien, wenn man auf die letzten Dinge zutreibt? Was ist Besitz und Geld? Was für einen Sinn hat noch abstrakte Philosophie?

„Klein-Ließchen-Müller-Gedanken“, sagte er wieder laut. „Die Auslassungen der Philosophen aller Zeiten sind nichts anderes!“ Er sprach immer lauter. „Die umschreiben es nur anders und denken konsequenter darüber nach und schriftstellern mit vielen Fremdworten das, was sie auch nicht wissen. Homo singularis vis-à-vis der Größe X. Na also. Es ist immer dasselbe. Immer. Unendlich wiederholt. Im Grunde ist alles dasselbe.“

Nichts in Sicht ist ein Roman, der dem Leser in die Knochen fährt: Was Rehn hier auf wenigen Seiten mit Hilfe eines minimalistischen Settings beschreibt, ist nichts weniger als das langsame Sterben eines Menschen. Es ist eine lange, meisterhaft arrangierte Folge von hochtrabenden Gedanken, Abschweifungen in die Vergangenheit, Verhöhnungen und Verzagtheiten, die mit der stummen Gleichgültigkeit des Ozeans kontrastiert.

Und damit schafft Rehn ein gestochen scharfes Bild für das große Dilemma der Menschheit: Schlussendlich, nach allen Erklärungs- und Konstruktionsversuchen, ist der Mensch doch nur ausgeliefert. Der Ozean, die Natur, das All schweigen. Immer bleibt es bei der harten Feststellung, die sich, wie ein Motiv durch den gesamten Roman zieht: Nichts in Sicht.

Kühl, entschlackt und bar jeden stilistischen Ornats ist die Sprache, in der die endlos kreisenden Gedankengänge des „Anderen“ beschrieben werden, und genial ist die Konstruktion dieses Romans, dem es gelingt, die Grundfragen des Seins zu stellen – und als bloße Ideen wieder zu verwerfen. Grandios!

Johannes Fischer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt