Zusammen
aufgewachsen in einem abseitigen Viertel einer deutschen Stadt, sehen
sich die drei Kameradinnen Saya, Kasih und Hani im zweiten Roman von
Shida Bazyar nach Jahren des Getrenntseins wieder. Saya ist zu Besuch,
extra aus der Ferne herbeigeflogen – eine gemeinsame vierte Freundin
hatte zu ihrer Hochzeit geladen. Mit bringt Saya ihren Zorn über
Ausgrenzung, Alltagsrassismen, Diskriminierung und Vorurteile, denen die
drei in einer weißen Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt sind. Neben ihrer
gemeinsamen Herkunft eint die drei vor allem auch dies: Keinen rechten
Platz in dieser Gesellschaft zu finden, immer wieder darauf
zurückgeworfen zu sein, als anders wahrgenommen zu werden, bedroht zu
werden und Angst zu haben.
Solcherlei schwingt bei den Situationen, die die drei in
den wenigen Tagen des Wiedersehens, die Shida Bazyar hier schildert,
stets mit. Ob beim ausgelassenen Plaudern auf dem Dach eines
Mehrfamilienhauses, ob bei einer Party oder auch beim notgedrungenen
Besuch des Arbeitsamtes, zu dem Saya Kasih begleitet: Nie können sich
die drei sicher fühlen, aufgehoben, angekommen. Am wenigsten dann, wenn
die Bedrohung plötzlich ganz nahe kommt. Auf ihrem Flug zu den
Freundinnen sitzt ein Nazi neben ihr. Später wird das Haus dieses Nazis
abbrennen wird. Eine Tat, für die Saya ins Gefängnis kommt …
Unter den vielen Titeln, die momentan unter dem
sogenannten Label der „post-migrantischen Literatur“ laufen, sticht
Shida Bazyars sicherlich heraus. Mit virtuosem Furor schreibt sie an
gegen die vermeintlichen Aporien identitätspolitischer Anliegen in einer
Gesellschaft, die seit Rostock, Mölln, Halle oder Hanau zwar stets
wiederholt, dass sich solcherlei nicht wiederholen darf, ihr Versprechen
aber nie einzulösen vermag. Die Prosa, die sie dabei als Form ihres
Beitrages zu diesem Diskurs wählt, erscheint als Glücksfall.
Sie hat damit ein Medium gewählt, dass es dem als Teil
der weißen Mehrheitsgesellschaft angenommenen Leser ermöglicht,
gleichsam ausschnittsweise mitzufühlen mit den drei Protagonistinnen des
Romans. Die Lektüre wird ausdrücklich empfohlen.
Max Eisenbarth, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt
ich möchte mich verabschieden und danke sagen. Ende Juni gehe ich in den „Ruhestand“. Es wird Zeit für den Generationswechsel im Projekt „Autorenbuchhandlung Marx & Co“. Und so habe ich entschieden, mit 68 in den Ruhestand zu gehen. Meine Kolleginnen Bettina Raue, Ines Lauffer, Larissa Siebicke, Theresa Mayer, Andrea Schulz und der Kollege Max Eisenbarth werden unsere Buchhandlung bestimmt gut weiterführen.
Es fällt mir nicht
leicht, dieses „Arbeits“leben zu verlassen. Mein gesamtes
Erwachsenenleben habe ich in Projekten gearbeitet, die letzten
20 Jahre in dieser Buchhandlung. Ich war gerne hier, froh und
zufrieden mit den Büchern, mit meinen Kolleg:innen und der
Kundschaft, die diesen unseren Ort schätzt.
Vor allem die
Gespräche mit Euch werden mir fehlen: über Bücher und über das,
was gerade in der Welt passiert, die gemeinsamen Versuche zu
verstehen und dafür Bücher empfehlen zu können, die die eigene
Sicht erweitern und schärfen können. Wie vergnüglich und
anregend waren diese Gespräche, sie haben mich froh und wach
gemacht. So viel Anerkennung habe ich bekommen für passende
Lektüreempfehlungen.
Ich bin gespannt, was mich in meinem neuen Leben treffen wird und werde meine Augen und Ohren offen halten.
Der Roman
beginnt im Jahr 1972 in Berlin. Die namenlose Ich-Erzählerin, Studentin
der Berliner Filmakademie, reist von Berlin nach London, weil sie der
Überwachung durch die bundesrepublikanische Polizei entkommen will. Nach
dem Verschwinden ihres Freundes Philip S., der aus ihrem Leben
„verschwunden und mit falschen Papieren untergetaucht ist“, will die
Erzählerin nur raus aus der eingemauerten Stadt. In London lernt sie
„den Engländer“ kennen und lieben, von ihm ist im weiteren Verlauf des
Romans fast ausschließlich die Rede.
In knappen Sätzen wird die politisch aufgeheizte
Situation der 70ger Jahre geschildert. Der Roman spielt in besetzten
Häusern, in deren Wohngemeinschaften politisch debattiert wird;
Flugblätter werden verfasst gegen Ausbeutung, gegen den Kapitalismus und
den Imperialismus. Er berichtet von den Bombenanschlägen der IRA
und der Angry Brigade, einer anarchistischen Gruppe, die Bomben auf
Eigentum geworfen hat, aber keine Menschen töten wollte. Hier beschreibt
Ulrike Edschmid eine grundlegende Differenz zu den deutschen
politischen Kämpfen gegen „das System“. Gemeinsam mit anderen verfolgen
die Ich-Erzählerin und der Engländer den Prozess gegen acht Anarchisten
im Gerichtssaal des Old Bailey. Die Angeklagten erhalten drakonische
Strafen. Das Paar erkundet London mit dem Bus, er zeigt ihr die Orte, an
denen er aufgewachsen ist.
Sie leben gemeinsam in Berlin, danach in Frankfurt. Edschmid erzählt ihre Liebesgeschichte als Teil der politischen Bewegungsgeschichte der 70er Jahre: die Frankfurter Häuserkämpfe, die „politische Fabrikarbeit“ (der Engländer arbeitet zwei Jahre bei Degussa), die Nelkenrevolution in Portugal, Flugblattaktionen gegen Francos Diktatur in Spanien. Das Paar trennt sich, aber sie bleiben in Freundschaft tief verbunden.
Dann beginnt ein ganz anderer Teil dieses Romans. Die
Ich-Erzählerin ist nicht mehr agierender Teil der Erzählung. Sie erzählt
das weitere Leben „des Engländers“: Er macht eine erstaunliche Karriere
als Regisseur, wird später Professor für Theaterwissenschaft. Sehr spät
wird er von einem Teil seiner Familie entdeckt, die er nicht kannte. Er
wusste, dass er Jude ist, aber das spielte bisher nur eine Rolle zur
Erklärung seiner Heimatlosigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. So wie seine
Mutter ihm prophezeite: „Du wirst nie dazugehören. Du bist Jude und
wirst es immer bleiben.“ Das lebenslange Schweigen seines Vaters über
die Geschichte seiner Herkunftsfamilie erweist sich im Nachhinein als
ein völlig anderes und viel gewichtigeres Motiv für sein
Nirgends-Dazugehören, Nicht-Sesshaft werden Können.
Nun sucht der Engländer nach seiner Familiengeschichte und findet eine
Tragödie. Sie beginnt im frühen 20. Jahrhundert und handelt von einem
Patriarchen und von einem großen Betrug, dessen Opfer der eine Sohn wird
– der Großvater „des Engländers“. Der Urgroßvater hat einen
Versicherungsbetrug begangen, sein Sohn Jacob musste die Schuld seines
Vaters auf sich nehmen. Jacob wird in einem Gerichtsverfahren, das – wie
das Verfahren gegen die Anarchisten – im Old Bailey stattfindet, zu
einer Gefängnisstrafe mit Zwangsarbeit verurteilt. Er stirbt an den
Folgen. Er selbst und seine Nachkommen, der Ginger Joe genannte Sohn
Joseph und dessen Sohn, „der Engländer“, werden aus der Familie
ausgestoßen und aus der Familiengeschichte getilgt. Die Familie des
„Engländers“ überlebt in großer Armut, während der andere Teil der
Familie reich und erfolgreich weiter leben kann. Der Vater „des
Engländers“ hat sein Leben lang über seine Herkunft aus dem reichen
Bürgertum und über das Schicksal des Großvaters geschwiegen. Es gab nie
eine Entschuldigung und auch keine späte Wiedergutmachung.
Beim Lesen entsteht für die deutsche Leserin eine
Erwartung, ein Grundgefühl des Grauens. Sie rechnet mit einem Schicksal
von Verfolgung in der Schoa, sobald dieses Drama der jüdischen Familie
auftaucht. Das ist im Blick auf die Erzählung eine falsche Erwartung,
aus der die Lektüre allerdings ihre Spannung bezieht. Sehr lesenswert.
Barbara Determann, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt
Wer hat sich beim Lesen eines Buches, einer Erzählung
oder eines Gedichts nicht schon gefragt, warum ein Text berührt,
amüsiert, in Bann schlägt oder langweilt? Natürlich gibt es neben den
persönlichen Vorlieben auch etwas darüber hinaus, und das hat mit den
Mitteln zu tun, mi denen ein Autor eine bestimmte Wirkung erzielt und
wie souverän er sie handhabt – also mit dem Stil.
Aber was ist Stil in der Literatur und vor allem, was ist
guter Stil? Auf über 500 Seiten (den Anhang nicht mitgezählt) erkundet
der Germanist und Literaturkritiker Michael Maar dieses Thema auf
unterschiedlichen Ebenen: Wortwahl, Syntax, Einsatz von Satzzeichen,
Metaphern und was noch alles daran beteiligt ist, einen Text in
Literatur zu verwandeln. Die Beispiele, die der Autor dazu heranzieht,
stammen aus der Prosa wie der Lyrik, reichen von Goethes Wahlverwandtschaften über Keuns Das kunstseidene Mädchen bis Herrndorfs Tschick.
In den ersten drei Abschnitten des Buches geht Maar
anhand von Beispielen verschiedenen Stilelementen nach. Im dritten, dem
längsten Abschnitt, stellt er einzelne Autoren und deren Stilmerkmale
vor. Abschnitt fünf befasst sich mit Lyrik, Abschnitt sechs mit
erotischer Literatur.
Bei aller formalen Kritik, der Maar die jeweiligen Werke unterzieht, betont er aber immer wieder, dass es den EINEN
guten Stil nicht gibt und die Grenzen zwischen Kunst und Kitsch,
zwischen souverän gebauten Sätzen und verschachtelten Bandwurmgebilden,
zwischen originellen Bildern und quietschenden Metaphern oft sehr dünn
ist. Maar ist in seinen Beurteilungen nicht zimperlich und stößt schon
mal von mir persönlich geschätzte AutorInnen vom Sockel. Aber er
verhehlt auch seine eigenen Stilvorlieben – Distanz, Ironie und Humor –
nicht und räumt ein, dass der persönliche Geschmack bei der Bewertung
von Texten durchaus sein Recht hat.
Meine persönliche Meinung zu Die Schlange im Wolfspelz
ist: Wer es wie der Autor schafft, so viel überbordendes Material, so
viel Wissen so souverän und unterhaltsam an den Leser zu bringen,
schreibt mit Sicherheit einen guten Stil und ist nicht grundlos auf der
Liste der für den Sachbuchpreis 2021 nominierten Autoren. Vergnüglicher
als mit diesem Buch lässt sich jedenfalls das eigene Wissen, warum –
jenseits persönlicher Vorlieben – ein Buch gefällt oder missfällt, nicht
erweitern.
Die meisten LeserInnen der Kommbuch-Empfehlungen erwarten
wohl vor allem Orientierung im Dickicht literarischer Neuerscheinungen
und Hinweise auf das politisch und gesellschaftlich relevante Sachbuch.
Dass die heutige Entdeckung sich auf den ersten Blick als ungewöhnlicher
„Gartenratgeber“ tarnt, weckt hoffentlich Neugier. Hinter dem Titel Urban Farming
der zwei Frankfurter Autorinnen Juliane Ranck und Laura Setzer steckt
nämlich viel mehr: Es geht um nicht weniger als unser aller Zukunft, um
das Miteinander von Mensch und Natur, um Alternativen zum Ressourcen
vernichtenden Raubbau unserer überkommenen kapitalistischen Lebensform,
um Ökosysteme, um Klimawandel und vor allem um sehr konkrete Vorschläge,
was wir direkt vor unserer Haustür anders machen können, um ihn
aufzuhalten.
Vom „Urban Gardening“ haben viele von uns schon mal
gehört: kleine Parzellen in großen Städten, auf denen ein paar
ambitionierte, alternative Freizeitgärtner dem städtischen Grau trotzen.
Was aber ist Urban Farming? Was kann man sich unter
Ernährungssouveränität vorstellen? Und was genau verbirgt sich hinter
der seit den 1970er Jahren existierenden Idee der Permakultur (permanent
(agri)culture)?
Ranck und Setzer haben in ihrem Buch historische und
internationale Beispiele zusammengetragen, in denen Menschen alternative
Formen des Gemüseanbaus gesucht, gefunden und weiterentwickelt haben,
um viele Menschen unabhängig von langen Lieferwegen satt zu kriegen.
Diese Beispiele reichen von den Pariser Marktgärtnern im 19. Jahrhundert
über Rob Hopkins und seine Transition-Town-Bewegung bis zum Incredible
Edible-Phänomen von Mary Clear in der kleinen britischen Textilstadt
Todmorden.
Mit den theoretischen Grundlagen geben sich die
Autorinnen jedoch nicht zufrieden, sondern initiierten und beschreiben
nun eine ganz eigene Bewegung mit gemeinschaftlichem, ertragreichen
Gemüseanbau in einer Großstadt wie Frankfurt. Kooperation statt
Konkurrenz ist ein zentraler Permakultur-Satz. Und wenn man das Buch der
sogenannten „GemüseheldInnen“ in den Händen hält, die Bilder der
vormals zugemüllten Brachflächen, die zu blühenden Gemüsebeeten werden,
betrachtet, keimen fast automatisch eigene Bilder auf und eine Vision,
wie unsere Zukunft auch aussehen könnte.
Juliane Ranck, Laura Setzer und mit ihnen viele weitere
GemüseheldInnen und vernetzte Organisationen, die sich in ihrem Buch
auch vorstellen, haben eine gemeinsame Vision! In einer Zeit, in der es
in den Medien immer wieder um die nur scheinbar unlösbare Frage geht,
wie der menschengemachte Klimawandel aufzuhalten sein könnte, machen
sich hier Menschen „einfach“ an die Arbeit. Statt abzuwarten, was die
Politik beschließt, liefern sie einer Stadt und ihrer Region konkrete
Vorschläge, die dann mit Fördermitteln zur Nachhaltigkeit nur noch
umgesetzt werden müssen.
Vielleicht sind sie ein bisschen größenwahnsinnig,
vielleicht aber auch nur realistisch. Denn wenn wir etwas ändern wollen,
dann jetzt! In ihrem Vorwort fassen sie ihren Plan so zusammen: „Wir
wollen Frankfurt essbar machen und damit dem Klimawandel entgegenwirken,
gemeinsam etwas bewegen, uns gesund ernähren, naturnah leben und
gärtnern – und das alles mitten im Großstadtdschungel“
Wenn nun die Sommerferien vor der Tür stehen und die
sinkenden Infektionszahlen endlich wieder den Blick auf andere Themen
freigeben, ist es vielleicht der ideale Zeitpunkt, ein kleines Stückchen
Erde und Gleichgesinnte zu finden: Menschen mit Lust auf Veränderung,
Spaß am Organisieren, Buddeln oder Gemüsepflänzchen vorziehen, die
handwerklich, sprachlich oder politisch versiert sind, mit Kindern oder
ohne. Denn in dieser Form der gelebten Permakultur ist jede Neigung und
jedes Talent gefragt. Egal ob in Frankfurt, Berlin oder Köln, die
Veränderungen hin zu nachhaltigem, lokalem Gemüseanbau können vielleicht
von den Städten eher ausgehen als vom ländlichen Raum, wo
konventionelle Landwirtschaft nur langsam umgebaut werden kann.
Urban Farming ist Sachbuch, Nachschlagewerk und
Inspirationsquelle und wird ab seinem Erscheinungstermin, dem 24. Juni,
hoffentlich bei vielen LeserInnen das Gleiche auslösen wie in mir:
unbändige Lust, Teil einer aktiven, visionären gesellschaftlichen
Bewegung zu werden, dabei zu sein, wenn gemeinschaftlich Zukunft
gestaltet wird!
So werden vielleicht private, permakulturelle Initiativen noch in diesem Sommer möglich, nicht nur in Frankfurt!
Charles, eine der beiden Protagonistinnen des Romans, ist
im andauernden Krisenbewältigungsmodus. Zuletzt lieferte sie sich mit
ihrem Vater, der nackt ein Pappmaché-Imitat vom Kopf seines Verlegers
schwenkt, eine wilde Verfolgungsjagd durch die Straßen der Hauptstadt.
Doch als die Eltern beschließen, in eine Kommune nach Hildesheim zu
ziehen, kapituliert sie. In Berlin hatte sie zumindest ihren besten
Freund Georg, der ihr half, den Wahnsinn ihrer Eltern, einem
Künstlerpaar, im Rahmen und sich selbst auf Distanz zu halten. In
Hildesheim hingegen fühlt sich Charles ihrer Selbstständigkeit beraubt
oder, schlimmer noch: es gibt nichts, was sie damit anfangen könnte.
Schon in diesem Erzählstrang entfaltet sich das Hauptthema des Romans:
das Lebensgefühl einer neuen Generation, die ihre politischen Ambitionen
durch die grandios gescheiterten Ideale der Eltern gedeckelt oder
verworfen hat und deren Widerstand Eskapismus und Resilienz bedeutet.
Den Konterpart zu der lauten Charles ist Gwen, kurz für
Gwendolin, Tochter reicher Eltern. Sie entflieht dem bis in die
Karikatur getriebenen Snobismus und der Oberflächlichkeit ihres
Elternhauses, um sich mit Jungs aus der Vorstadt zu prügeln. Anders als
Charles fehlt es Gwen an einem Haltepunkt außerhalb ihrer selbst,
weswegen sie nur um sich selbst kreisen kann. Die Ablehnung des
Materialismus ihrer Eltern gipfelt in Tinderdates, die sie gezielt nach
Unausstehlichkeit aussucht und bestiehlt, um dann das Geld eher wahllos
weiter zu verschenken. Ob dabei nicht der zerstörerische Akt der
sexuellen Selbstausbeutung eigentlich im Mittelpunkt steht, bleibt
offen. Erst in der Begegnung mit Charles findet Gwen einen Zugang zu
sich selbst und ihrer Selbstwirksamkeit.
Der Roman ist somit zum einen eine neue Spielart vom
Topos der lebensverändernden Liebe, die hier vollkommen asexuell
erscheint, zwischen zwei Freundinnen, die sich in ihrer
Gegensätzlichkeit zueinander retten. Zum anderen aber auch ein
Generationenportrait, das zeigt, dass es im Spätkapitalismus vor allem
ums Überleben geht, wenn auch weniger physischen als im psychischen
Sinne. Was in der Handlung schon anklingt, wird von Krusche auf
bemerkenswerte Weise ästhetisch und poetisch zu Ende gedacht. Ihre
Bilder sind voller Sirup, Melonenkaugummis und freilaufenden
Haustierponys. Während Gwen zu weiten Teilen die Repräsentation
herkömmlicher jugendlichen Eskapismus ist – Alkoholismus und harter,
liebloser Sex – entwirft der Roman eine andere Form von
Coping-Strategie, die ihre Anleihen aus dem magischen Realismus zieht.
Im Grund hat die vielbesungene Ironie der Popromane hier ausgedient. Wie
schon bei Joshua Groß wird die emotionale Distanz und physische
Distanzlosigkeit abgelöst durch eine kindlich und utopisch konnotierte
Zärtlichkeit: Anarchistische Herzen eben.
Im Dezember
1961 reist die sechzehnjährige Rita Hellberg von Stade nach Kairo, wo
ihre Eltern bereits mit “Pünktchen”, der jüngeren Schwester, leben. Der
ältere Bruder Kai bleibt in Deutschland. Ritas Vater, ein
Flugzeugingenieur, ist einem verlockenden Angebot von Ägyptens Präsident
Nasser gefolgt, der entschlossen ist, in seinem Land eine eigene
Rüstungsindustrie aufzubauen und dafür Raketenforscher und
Flugzeugingenieure aus Deutschland anwirbt. Friedrich Hellberg ist mit
seinem neuen Arbeitsumfeld sehr zufrieden. Man bewohnt ein großes Haus
in einem Villenviertel, bleibt in Clubs und exklusiven Hotels unter
sich, genießt als “Experte” einen Sonderstatus und könnte ein bequemes
Leben haben.
Ritas Mutter kann sich jedoch mit den neuen Verhältnissen
nicht abfinden. War sie schon in Deutschland zwanghaft putzwütig,
befürchtet sie nun Schmutz und Keime in jedem Essen und auf jeder
Oberfläche. Rita, die in Deutschland gerade von der Schule geflogen ist
und die ihr zugedachte Rolle als Helferin der Mutter nicht annehmen
will, bekommt einen Job als Sekretärin in der “Fabrik 333”. Sie beginnt,
ihr neues Leben voller Luxus und Exotik als selbständige junge Frau in
einem fremden Land zu genießen. Aber nach und nach erkennt sie, dass sie
in einem brisanten Umfeld lebt. Nicht wenige der “Experten” haben im
NS-Deutschland wichtige Rollen in der Rüstungsindustrie bekleidet.
Während Ägypten stolz seine Raketen zur Schau stellt (auch schon mal mit
Attrappen) und klar ist, dass das Rüstungsprojekt – trotz anderer
Verlautbarungen – eine akute Bedrohung für Israel darstellt, verschanzt
sich die deutsche Außenpolitik hinter der Position, “das Feld nicht den
Russen” überlassen zu wollen und deshalb nicht einzugreifen.
Geheimdienste versuchen Einfluss auf das Geschehen zu nehmen, Bomben
werden geworfen, und in Ritas unmittelbarer Umgebung werden Menschen
verletzt und sterben. Rita merkt, dass sie die Augen vor der Realität
nicht verschließen kann – zumal ihr Bruder Kai, mit dem sie in regem
Kontakt steht, sich in Deutschland kritisch mit den politischen
Verhältnissen, in denen die Familie lebt, auseinandersetzt.
Fünf Jahre lang hat Merle Kröger an diesem Buch, das sie
einen “dokumentarischen Roman” nennt, gearbeitet. Sie hat den
Familiennachlass ihrer Freundin Stefanie Schulte Strathaus, deren
Großvater einer der “Experten” war, gesichtet und sich mit einigen
“Expertenkindern” getroffen. Sie hat in Kairo recherchiert, im BND-Archiv
geforscht, Biografien und Autobiografien einschlägiger Personen
gelesen. Lebendig und fesselnd zeichnet sie ein atmosphärisch dichtes
Bild der frühen 1960er Jahre in Deutschland und Ägypten. Bruchlos wird
Realität und Fiktion verschränkt, gleitet Romanhandlung über in BND-Akten,
Gerichtsprotokolle, Zeitungsartikel; nahtlos wechseln die Orte und
Personen, ohne dass man den Faden verliert oder sich unterbrochen fühlt.
Mit Die Experten hat Merle Kröger die fesselnde Geschichte des
politischen Erwachens einer jungen Frau in ein reales, genau
recherchiertes Umfeld eingebettet und einen Thriller mit wahrem
historischen Hintergrund geschrieben, den man atemlos verschlingt.
Yasmina gehört zu den Büchern, die Kinder und
Erwachsene mit Gewinn und Lust lesen und anschauen und darin sehr
Verschiedenes erkennen können. Der Comic liefert dabei eine kritische
Analyse unserer Konsumgesellschaft. Moral ist hier durchaus ein Thema,
verliert sich aber nicht in belehrenden Exkursen, sondern bleibt nah an
der sympathischen Heldin. Und das ist die Schülerin Yasmina – ein
Energiebündel mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Ganz in der
Tradition der frankobelgischen Comic-Helden sehen wir sie in den immer
gleichen Kleidern – ein bewährtes Mittel zur Identifikation mit der
Protagonistin. Unter der großen Kochmütze kommen zwei energische Zöpfe
hervor, Schürze und Kochkittel verweisen keineswegs auf ein
traditionelles Rollenklischee, sondern unterstreichen die
Entschlossenheit, mit der Yasmina die Welt zu verbessern gedenkt – mit
gutem, gesundem Essen.
Dass die Zukunft auch von der Tatkraft der jungen
Generation abhängt, wird in der Figur des Vaters anschaulich. Er
arbeitet in einer Pommesbude, jeden Abend zieht Frittenduft durch das
Mietshaus (visuell wunderbar eingefangen). Das mit ungesundem Essen
verdiente Geld reicht kaum zum Leben. Also hilft Yasmina nicht nur mit
selbst organisiertem Gemüse aus, sondern macht damit dem Vater auch noch
köstliche vegetarische Pausensnacks, die seine übergewichtigen Kollegen
wiederum nur mit Kopfschütteln begutachten.
Konditionierter Geschmack, so könnte man die These des
Buches formulieren, macht uns Menschen zu Pawlowschen Hunden. Der
belgische Zeichner Wauter Mannaert aber hat kein illustriertes Manifest
erschaffen, sondern einen Ökothriller, der sich mit großer Lust auch der
Mittel des Genres bedient. Der Bösewicht (Tom de Perre) ist wirklich
böse, und sein Plan, die Menschheit durch Geschmack zu manipulieren,
wäre einem Gegenspieler James Bonds würdig.
Entsprechend abwechslungsreich sind auch die Szenarien,
die Mannaert entwirft: der alternative Gemüsegarten, die
furchteinflößende Fabrik, in der die Kartoffeln genmanipuliert werden,
Yasminas Wohnhaus mit dem geheimnisvollen Dachgarten. Immer wieder gibt
es seitenlange Passagen, die mit wenig oder gar keinem Text auskommen;
ein Augenschmaus, möchte man hier unbedingt sagen. Das gilt besonders
für die ganzseitigen Bilder, an denen man sich kaum satt sehen kann. Der
klassische Ligne-Claire Stil eines Hergé ist vor allem im gut
unterscheidbaren Personal durchaus erkennbar. Aber Mannaert öffnet die
Bilder, und das nicht nur durch den Verzicht auf Bildrahmen. Die
Darstellung der Verwandlung von Menschen und Tieren durch manipulierte
Nahrung inszeniert er virtuos in Slapstick Manier.
Das große, temporeiche Abenteuer von Yasmina ist für
Kinder ab 10 empfehlenswert, die Rezepte im Anhang sind zwar
anspruchsvoll, aber man sollte sie unbedingt probieren.
Nach der
regelrechten Flut an Nasen-Literatur im 19. Jahrhundert scheint die Nase
„nicht nur als Sinnesorgan, sondern auch als Körperteil einer Verarmung
ihrer Bedeutung zu unterliegen“ – dabei wurden an der Nase über
Jahrhunderte hinweg Identitätsprobleme verhandelt und Identitäten
festgemacht! 2021 scheint jetzt aber zum naso-literarischen Ausnahmejahr
zu werden. Nicht nur fragt der Schweizer Autor Thomas Meyer Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein?, sondern auch der österreichische BahoeVerlag hat mit Bruno Jasieńskis Die Nase
einen Titel publiziert, der die Nasenliteratur erweitert, auch wenn
dieser Text nicht zum ersten Mal das Licht der Welt erblickt, denn
Jasieński schrieb die Novelle schon 1936. Nun also ist der Text von
Elisabeth Namdar neu übersetzt und erstmals als Einzelpublikation
veröffentlicht worden: Ein wahrer Glücksfall, hat doch Jasieński seine
Zeit mit so viel Weitblick und Scharfsinn beobachtet und die Schriften
der 1920er und frühen 30er Jahre rezipiert, dass daraus eine bitterböse
Satire auf den Rassenwahn der Nationalsozialisten entstanden ist, in der
er den Wahnwitz der Zuschreibung von Identität über scheinbare
Rassenmerkmale aufzeigt.
Im Zentrum der kurzen Novelle Die Nase steht
Otto Kallenbruck, seines Zeichens Professor für Eugenik, vergleichende
Rassenkunde und Rassenpsychologie. Kurz vor der Veröffentlichung seines
neuesten Buches – , Kallenbruck geht nochmals die Fahnen durch – tritt
er zur Vermessung der eigenen Nase vor den Spiegel und erschaudert: Wo
bisher eine arische Nase, „tadellos gerade“, wenn auch „ein wenig
fleischig und an der Spitze leicht verdickt“ zu sehen war, prangt nun
ein erschreckender „Höcker“. Wie kann das sein? Verwirrt und erschüttert
begleitet ihn sein Freund Theodor in den neu eröffneten genealogischen
Garten in Berlin. Hier kann er zu seinem eigenen Erstaunen den
Familienstammbaum als wirklichen Baum umkreisen. Die Vorfahren hängen
als Miniaturpuppen illuminiert wie in einem Weihnachtsbaum an den Ästen.
Kallenbruck entdeckt Onkel Gregor, den „unverbesserlichen Junggesellen,
mager, mit einem riesigen Kopf“, die „steife Tante Gertrude“, und, ja,
auch eine ganze „Girlande kleiner Juden“. Muss er nun, der eigenen Logik
gehorchend und die „germanische Rasse“ rettend, Selbstmord begehen?
Skurril, böse und erhellend ist diese Novelle, in der
Jasieński die Debatten der 1930er Jahre verarbeitet und seinen Professor
auf „Studienreise“ durch die Konzentrationslager schickt. Eine wahre
Entdeckung, ein futuristisches Fundstück der Übersetzerin Elisabeth
Namdar mit einem literarhistorischen, aktuellen Nachwort von Vladimir
Vertlib sowie einem passenden Cover, das von Umberto Boccionis Gemälde
Stati della mente verziert wird. Klug, erschreckend und absolut
lesenswert.