Buchempfehlung

Bruno Jasieński

Die Nase

bahoe books
16 €

Nach der regelrechten Flut an Nasen-Literatur im 19. Jahrhundert scheint die Nase „nicht nur als Sinnesorgan, sondern auch als Körperteil einer Verarmung ihrer Bedeutung zu unterliegen“ – dabei wurden an der Nase über Jahrhunderte hinweg Identitätsprobleme verhandelt und Identitäten festgemacht! 2021 scheint jetzt aber zum naso-literarischen Ausnahmejahr zu werden. Nicht nur fragt der Schweizer Autor Thomas Meyer Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein?, sondern auch der österreichische BahoeVerlag hat mit Bruno Jasieńskis Die Nase einen Titel publiziert, der die Nasenliteratur erweitert, auch wenn dieser Text nicht zum ersten Mal das Licht der Welt erblickt, denn Jasieński schrieb die Novelle schon 1936. Nun also ist der Text von Elisabeth Namdar neu übersetzt und erstmals als Einzelpublikation veröffentlicht worden: Ein wahrer Glücksfall, hat doch Jasieński seine Zeit mit so viel Weitblick und Scharfsinn beobachtet und die Schriften der 1920er und frühen 30er Jahre rezipiert, dass daraus eine bitterböse Satire auf den Rassenwahn der Nationalsozialisten entstanden ist, in der er den Wahnwitz der Zuschreibung von Identität über scheinbare Rassenmerkmale aufzeigt.

Im Zentrum der kurzen Novelle Die Nase steht Otto Kallenbruck, seines Zeichens Professor für Eugenik, vergleichende Rassenkunde und Rassenpsychologie. Kurz vor der Veröffentlichung seines neuesten Buches – , Kallenbruck geht nochmals die Fahnen durch – tritt er zur Vermessung der eigenen Nase vor den Spiegel und erschaudert: Wo bisher eine arische Nase, „tadellos gerade“, wenn auch „ein wenig fleischig und an der Spitze leicht verdickt“ zu sehen war, prangt nun ein erschreckender „Höcker“. Wie kann das sein? Verwirrt und erschüttert begleitet ihn sein Freund Theodor in den neu eröffneten genealogischen Garten in Berlin. Hier kann er zu seinem eigenen Erstaunen den Familienstammbaum als wirklichen Baum umkreisen. Die Vorfahren hängen als Miniaturpuppen illuminiert wie in einem Weihnachtsbaum an den Ästen. Kallenbruck entdeckt Onkel Gregor, den „unverbesserlichen Junggesellen, mager, mit einem riesigen Kopf“, die „steife Tante Gertrude“, und, ja, auch eine ganze „Girlande kleiner Juden“. Muss er nun, der eigenen Logik gehorchend und die „germanische Rasse“ rettend, Selbstmord begehen?

Skurril, böse und erhellend ist diese Novelle, in der Jasieński die Debatten der 1930er Jahre verarbeitet und seinen Professor auf „Studienreise“ durch die Konzentrationslager schickt. Eine wahre Entdeckung, ein futuristisches Fundstück der Übersetzerin Elisabeth Namdar mit einem literarhistorischen, aktuellen Nachwort von Vladimir Vertlib sowie einem passenden Cover, das von Umberto Boccionis Gemälde Stati della mente verziert wird. Klug, erschreckend und absolut lesenswert.

Ines Lauffer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt