Buchempfehlung

Lisa Krusche

Unsere anarchistischen Herzen

S. Fischer
23 €

Charles, eine der beiden Protagonistinnen des Romans, ist im andauernden Krisenbewältigungsmodus. Zuletzt lieferte sie sich mit ihrem Vater, der nackt ein Pappmaché-Imitat vom Kopf seines Verlegers schwenkt, eine wilde Verfolgungsjagd durch die Straßen der Hauptstadt. Doch als die Eltern beschließen, in eine Kommune nach Hildesheim zu ziehen, kapituliert sie. In Berlin hatte sie zumindest ihren besten Freund Georg, der ihr half, den Wahnsinn ihrer Eltern, einem Künstlerpaar, im Rahmen und sich selbst auf Distanz zu halten. In Hildesheim hingegen fühlt sich Charles ihrer Selbstständigkeit beraubt oder, schlimmer noch: es gibt nichts, was sie damit anfangen könnte. Schon in diesem Erzählstrang entfaltet sich das Hauptthema des Romans: das Lebensgefühl einer neuen Generation, die ihre politischen Ambitionen durch die grandios gescheiterten Ideale der Eltern gedeckelt oder verworfen hat und deren Widerstand Eskapismus und Resilienz bedeutet.

Den Konterpart zu der lauten Charles ist Gwen, kurz für Gwendolin, Tochter reicher Eltern. Sie entflieht dem bis in die Karikatur getriebenen Snobismus und der Oberflächlichkeit ihres Elternhauses, um sich mit Jungs aus der Vorstadt zu prügeln. Anders als Charles fehlt es Gwen an einem Haltepunkt außerhalb ihrer selbst, weswegen sie nur um sich selbst kreisen kann. Die Ablehnung des Materialismus ihrer Eltern gipfelt in Tinderdates, die sie gezielt nach Unausstehlichkeit aussucht und bestiehlt, um dann das Geld eher wahllos weiter zu verschenken. Ob dabei nicht der zerstörerische Akt der sexuellen Selbstausbeutung eigentlich im Mittelpunkt steht, bleibt offen. Erst in der Begegnung mit Charles findet Gwen einen Zugang zu sich selbst und ihrer Selbstwirksamkeit.

Der Roman ist somit zum einen eine neue Spielart vom Topos der lebensverändernden Liebe, die hier vollkommen asexuell erscheint, zwischen zwei Freundinnen, die sich in ihrer Gegensätzlichkeit zueinander retten. Zum anderen aber auch ein Generationenportrait, das zeigt, dass es im Spätkapitalismus vor allem ums Überleben geht, wenn auch weniger physischen als im psychischen Sinne. Was in der Handlung schon anklingt, wird von Krusche auf bemerkenswerte Weise ästhetisch und poetisch zu Ende gedacht. Ihre Bilder sind voller Sirup, Melonenkaugummis und freilaufenden Haustierponys. Während Gwen zu weiten Teilen die Repräsentation herkömmlicher jugendlichen Eskapismus ist – Alkoholismus und harter, liebloser Sex – entwirft der Roman eine andere Form von Coping-Strategie, die ihre Anleihen aus dem magischen Realismus zieht. Im Grund hat die vielbesungene Ironie der Popromane hier ausgedient. Wie schon bei Joshua Groß wird die emotionale Distanz und physische Distanzlosigkeit abgelöst durch eine kindlich und utopisch konnotierte Zärtlichkeit: Anarchistische Herzen eben.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt