Georgien, Ehrengast der Buchmesse 2018, erstreckt sich vom Kaukasus bis ans Schwarze Meer. Das mythologische Land der Kolchis ist Heimat der Medea und kann auf eine 1500-jährige Literaturgeschichte zurückblicken. Dennoch ist georgische Literatur hierzulande weitgehend unbekannt. Zu Recht? Ist es die kleine Literatur einer kleinen Nation oder doch Weltliteratur? Wie beeinflusst war die georgische Literatur von der russischen? Was bestimmt die Romane seit der Unabhängigkeit Georgiens 1991? Welche Gegenwartsromane machen in Tiflis Furore?
Um über die spannendsten Neuerscheinungen zu diskutieren, haben wir den Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili und den Moderator Ruthard Stäblein eingeladen, zwei herausragende Kenner der georgischen Literatur, Kultur und Politik. Besprochen werden unter anderem Archil Kikodzes Südelefant, Tamta Melaschwilis Abzählen und Nino Haratischwilis neuer Roman Die Katze und der General.
Dr. Zaal Andronikashvili studierte Germanistik, Geschichte und Archäologie in Georgien und Deutschland und beendete sein Studium mit der Dissertation über Die Erzeugung des dramatischen Textes, ein Beitrag zur Theorie des Sujets an der Universität Göttingen. Seit 2006 forscht er am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) in Berlin mit einem Arbeitsschwerpunkt zur Kulturgeschichte Georgiens, des Kaukasus, des Schwarzmeerraumes und der Sowjetunion.
Ruthard Stäblein studierte in Deutschland und Frankreich Germanistik, Romanistik, Komparatistik und Philosophie und beendete sein Studium mit einer Arbeit über Benjamin und Baudelaire an der Sorbonne. Seit 1998 ist er Redakteur für Literatur beim Hessischen Rundfunk und ist u.a. für eine Vielzahl an Hörbuchfassungen verantwortlich – zuletzt für Nino Haratischwilis neuen Roman Die Katze und der General.
Feuilletons für die Frankfurter Zeitung. Reportagen und Erzählungen aus der Sowjetunion (1928 – 1936).
Herausgegeben von Gesine Bey, Foto(s) von Margarete Steffin
Die 2010 wiederentdeckte Autorin Angela Rohr emigrierte nach ihrem Studium der Medizin und Psychoanalyse nach Moskau. Dort wurde sie 1941 verhaftet und kehrte erst 1957 aus der Verbannung zurück in die Stadt. Ihre großartigen Erzählungen über ihre Zeit im Gulag sind unter dem Titel Der Vogel bereits bei Basisdruck erschienen, genauso wie ihr Roman Lager. Mit Zehn Frauen am Amur erhalten wir nun einen Einblick in ihr literarisches Schaffen aus ihrer frühen Zeit in Moskau. Ihre genaue Beobachtungsgabe und ihr empathisches Gespür machen ihre Erzählungen zu einem literarischen MeisterInnenwerk.
Das Interesse an Reportagen aus Sowjet-Russland war in den 20er Jahren groß, und so hatten sie einen festen Platz in den Feuilletons der großen deutschen Zeitungen dieser Zeit. Eine der KorrespondentInnen dieser Zeit war Angela Rohr, die nach ihrem Studium der Medizin und Psychoanalyse 1925 nach Russland emigrierte. Von ihren zahlreichen KollegInnen unterscheidet sie nicht nur die Tatsache, dass sie eine der ersten weiblichen Korrespondenten war, sondern auch, dass sie Moskau und die zahlreichen anderen Städte und Regionen, die sie besuchte, nicht als Reisende und Gast beschrieb und wahrnahm. Vielmehr erhalten wir eine Art Innensicht auf das Wesen und vielleicht auch die Struktur der Orte. Rohrs Reportagen sind nicht zuletzt deshalb so lesenswert, weil sie nicht versuchen, ihre LeserInnen mitzunehmen, für sie Reisende und Berichtende zu sein, sondern weil die Autorin sich selbst als Teil des Ortes begreift, von „unserer Stadt“ spricht.
Das Moskau der späten 20er und frühen 30er Jahre wird uns
nicht anhand der politischen und geschichtlichen Ereignisse dieser Zeit
nahe gebracht, auch das gesellschaftliche Leben und die sozialen
Umstände werden nicht dargestellt. Und doch scheint all das in den
Erzählungen Rohrs auf. So ist das, was die Autorin in ihrer ersten
Erzählung als charakteristisch für Moskau benennt, nicht etwa der
Winter, den sie fast ironisch ins Bild bringt, sondern die Verwendung
und der Verkauf künstlicher Blumen. Gepflogenheiten und teils skurrile
Anstandsregeln sind in ihren Erzählungen häufig Thema. Ein anderes
wiederkehrendes Thema ist die Architektur. In einer der besten
Erzählungen des Buches richtet Rohr den Blick auf einen Milizionär und
sein aussichtsloses Unterfangen, die Straßen Moskaus zu überblicken. Das
Bewusstsein der Arbeitsklasse erkennt Rohr im Umgang in der Straßenbahn
und im Warten im Schuhgeschäft. Rohrs Figuren sind oft von einer
tragisch-komischen, immer aber aufrichtigen Färbung. In ihnen gelingt es
Rohr, im Kleinen das Ganze aufscheinen zu lassen, ohne dass man genau
sagen könnte, was dieses Große sein sollte oder sein könnte.
Die Aufteilung dieses Sammelband nach Reportagen, geordnet nach den Schauplätzen, und Erzählungen ist hilfreich, weil sich die Betrachtungen zu einem Ort wie Schichten übereinanderlegen und so das Bild vertiefen. Es wäre jedoch falsch zu glauben, die Reportagen stünden den Erzählungen an literarischer Tiefe nach. In ihrer genauen Betrachtung des Alltäglichen erinnern sie nicht nur an die berühmte Berliner Kindheit um 1900 von Walter Benjamin, sondern auch an die ebenfalls zuerst im Feuilleton erschienenen Erzählungen Die Gelbe Straße von Veza Canetti.
Tanja hat
eine neue Jacke, und die ist wirklich supercool. Dachte sie. Bis sie auf
dem Schulhof von einem anderen Kind ausgelacht wird. Eine Situation,
wie sie wohl jede*r schon erlebt hat. Doch Tanja gibt nicht klein bei,
sondern beschließt, etwas „noch viel krasseres zu machen“. Mit dieser
Ankündigung ist ihr natürlich die gesamte Aufmerksamkeit des Schulhofes
sicher. Als der nächste Tag kommt und Tanja ohne die Unterstützung ihrer
besten Freundin Kristina in die Klasse muss, verlässt sie ein bisschen
der Mut, und sie behält ihr Geheimnis – eine neue Kurzhaarfrisur –
lieber noch etwas für sich. In der großen Pause schließlich und mit
Kristina an ihrer Seite schafft es Tanja doch noch, ihre Angst zu
überwinden, und nimmt ihren Helm ab. „Mir doch egal was die denken. Sind
doch meine Haare.“ Und so viel Mut wird schließlich auch von ihren
Mitschüler*innen anerkannt, denn Tanjas neue Frisur ist nicht nur
supercool, sondern auch total mutig.
Eschs reduzierte Filzstiftzeichnungen passen ebenso gut
zu der Grundschulatmosphäre wie ihr unaufgeregter Erzählstil. Am
wichtigsten sind in ihren Zeichnungen die Mimik und die Körpersprache
der Figuren, die sehr einfühlsam ihre Gefühlswelt wiederspiegeln. Dabei
ist es ein großes Glück, dass Esch nicht beschönigt oder moralisiert,
sondern sehr genau zeigt, dass jede*r erst einmal Angst hat, bevor er
oder sie mutig sein kann. supercool bringt Kindern die
Erfahrungen näher, für sich selbst einzustehen und sich nicht
kleinkriegen zu lassen. Denn auch wenn es wohl nie stimmt, dass es einem
egal ist, was die anderen denken, so ist doch am wichtigsten, welches
Bild wir selbst von uns haben.
Der gleichgültige Ozean, wie mit dem Rasiermesser
glattgezogen, die steinkalte Ewigkeit des Universums darüber. Ein Wohin
gibt es hier nicht. Und was war gleich noch die Bedeutung der Zeit?
„Gekrümmter Raum? Gekrümmte Zeit? Gekrümmter Mensch?“ In ewigem
Gleichtakt versinkt die Sonne und steigt wenig später wieder auf.
Tagein, tagaus. Und in der Zwischenzeit verfault der Mensch.
Es ist 1943, Weltenbrand. Ein amerikanischer Flieger und
ein deutscher U-Bootfahrer hocken zusammen auf einem Schlauchboot
irgendwo im Mittelatlantik. Einer fiel vom Himmel, einer wurde aus dem
Meer gezogen. Mit an Bord des Rettungsbootes: Eine Flasche Whiskey,
Zigaretten und Kaugummis. Für ein paar Tage reicht diese Ration, dann
würde Rettung kommen müssen. Der Amerikaner hat zudem bei seinem Absturz
einen Arm verloren, ist nun septisch und deliriert seinem Ende
entgegen. Dabei erzählt er dem Deutschen aus seinem Leben, von seiner
Liebe, wird zornig, höhnisch und verstummt schließlich endgültig.
„Der Andere“, wie der Deutsche nur genannt wird, treibt
nun alleine auf dem Schlauchboot seinem Schicksal entgegen und ist dabei
seinen weit ausgreifenden Gedanken völlig ausgeliefert.
Mors omnia aequat, heißt es. Der Tod macht alles gleich.
Das ist richtig, denkt man sich, wenn man Jens Rehns Debütroman liest,
der 1954 erstmals erschien und gerade von Schöffling neu aufgelegt
wurde. Auch schon die Aussicht auf den baldigen Tod schleift alle
Unterschiede ab. Freund und Feind, Krieg und Frieden – was sind das
schon für Kategorien, wenn man auf die letzten Dinge zutreibt? Was ist
Besitz und Geld? Was für einen Sinn hat noch abstrakte Philosophie?
„Klein-Ließchen-Müller-Gedanken“, sagte er wieder laut.
„Die Auslassungen der Philosophen aller Zeiten sind nichts anderes!“ Er
sprach immer lauter. „Die umschreiben es nur anders und denken
konsequenter darüber nach und schriftstellern mit vielen Fremdworten
das, was sie auch nicht wissen. Homo singularis vis-à-vis der Größe X.
Na also. Es ist immer dasselbe. Immer. Unendlich wiederholt. Im Grunde
ist alles dasselbe.“
Nichts in Sicht ist ein Roman, der dem Leser in
die Knochen fährt: Was Rehn hier auf wenigen Seiten mit Hilfe eines
minimalistischen Settings beschreibt, ist nichts weniger als das
langsame Sterben eines Menschen. Es ist eine lange, meisterhaft
arrangierte Folge von hochtrabenden Gedanken, Abschweifungen in die
Vergangenheit, Verhöhnungen und Verzagtheiten, die mit der stummen
Gleichgültigkeit des Ozeans kontrastiert.
Und damit schafft Rehn ein gestochen scharfes Bild für
das große Dilemma der Menschheit: Schlussendlich, nach allen Erklärungs-
und Konstruktionsversuchen, ist der Mensch doch nur ausgeliefert. Der
Ozean, die Natur, das All schweigen. Immer bleibt es bei der harten
Feststellung, die sich, wie ein Motiv durch den gesamten Roman zieht:
Nichts in Sicht.
Kühl, entschlackt und bar jeden stilistischen Ornats ist
die Sprache, in der die endlos kreisenden Gedankengänge des „Anderen“
beschrieben werden, und genial ist die Konstruktion dieses Romans, dem
es gelingt, die Grundfragen des Seins zu stellen – und als bloße Ideen
wieder zu verwerfen. Grandios!
Johannes Fischer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt
Die Geschichte beginnt – wie der Titel sagt – mit einem Sprung. In die Universität von Teheran, in der sich Studenten im Widerstand gegen das zunehmend repressive Chomeini-Regime verschanzt haben, sind Milizen eingedrungen und veranstalten ein unglaubliches Blutbad. Maryam Madjidis Mutter, im sechsten Monat schwanger, versucht, vor ihnen zu fliehen, und am Ende bleibt ihr nur der Sprung aus einem Fenster im zweiten Stock. Dieser Sturz ist für die Erzählerin das Sinnbild ihres Lebens. Die Eltern bleiben ihren kommunistischen Überzeugungen treu. Um geheime Schriften zu befördern, werden die Windeln des Säuglings benutzt, der dafür auch schon mal an andere ausgeliehen wird. Später muss das Kind, von Verwandten und besonders der geliebten Großmutter verwöhnt, seine vielen Spielsachen an die armen Kinder des Viertels verschenken, um zu lernen, sich nicht an Eigentum zu binden. Als die Verhältnisse für die Eltern immer bedrohlicher werden, flieht die Mutter mit ihr aus dem Iran nach Frankreich, wo der Vater bereits lebt.
Was für die Eltern die Hoffnung auf Sicherheit bedeutet, ist für das das Mädchen die völlige Entwurzelung. In der ärmlichen Behausung – 15 Quadratmeter im 6. Stock eines Pariser Mietshauses –, in der neuen Sprache, ohne Freunde, ohne die geliebte Großmutter fühlt sie sich allein und verloren. Sie verweigert sich dem für ihren Geschmack ekligen und faden französischen Essen und der neuen Sprache, bis ihr unbändiger Lebenswille siegt und die äußeren Schwierigkeiten schwinden. Zum Sinnbild für die von der Gesellschaft geforderte Anpassung an die neue Umgebung wird der „Kampf“ zwischen der alten und der neuen Sprache, den die neue gewinnt. Damit drehen sich die Verhältnisse. Das Kind, nun eifrig darum bemüht, so zu sein wie alle anderen, schämt sich der Eltern, denen der Aufstieg in die französische Gesellschaft weder materiell noch ideell gelingt. Sie wird eine gute Schülerin, gewinnt Freunde, beginnt ein Studium. Aber die innere Fremdheit bleibt und begleitet sie für lange Jahre, auch in ihren Beziehungen zu Männern, denen sie virtuos die Rolle der geheimnisvollen Orientalin vorspielt und die sie mit Zitaten der persischen Lyrik verführt. Das Exil ist in ihr und bleibt, sie spürt, wie sie sich selbst fremd wird. Und wie zuvor schon in für sie existentiell wichtigen Situationen imaginiert sie ihre Großmutter, die ihr rät, ihre Masken fallen zu lassen und sich der Wahrheit zu stellen.
So einfach die Geschichte erscheint, so kunstvoll sind die Stilmittel: Was das Buch, für das Maryam Madjidi 2017 den “Prix Goncourt” für den besten Debütroman erhalten hat, zu einer ganz außergewöhnlichen Lektüre macht, ist seine Form und die Sprache. Der Text ist eine Mischung aus Realismus, Poesie und Fantasie, geschrieben in einer lebendigen, nuancenreichen, kunstvoll komponierten Sprache, die dem Thema Flucht, Migration, Exil völlig neue Facetten abgewinnt. Die Autorin bedient sich unterschiedlichster Stilmittel, um Stimmungen und Personen nicht nur zu beschreiben, sondern ihnen einen eigenen Ausdruck zu verleihen. Das Buch ist eine Studie zur Identitätsfindung, die an die Stelle von Land, Ort und Sprache die Poesie setzt, die zur inneren Heimat wird. Das Beste an diesem Roman ist jedoch, dass er sich nicht im Artifiziellen verliert. Du springst, ich falle liest sich packend, humorvoll und zart zugleich und ist zur Lektüre wärmstens zu empfehlen.
Erinnerungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Nicole Henneberg
Erinnerungen hat Gabriele Tergit ihr Buch Etwas Seltenes überhaupt genannt und nicht Autobiographie.
Und in der Tat ist ihr Buch keine chronologische Erzählung ihres
Lebens. Es sind Schilderungen dessen, was ihr Leben am meisten prägte –
und das ist mehr als genug. Aber letztlich führt alles, was sie erzählt,
immer wieder zu den entscheidenden Fragen: „Warum, wieso, weshalb
Hitler?“.
1894 wurde sie unter dem Namen Elise Hirschmann in eine
jüdische Fabrikantenfamilie geboren. Nach einer Ausbildung an der
Sozialen Frauenschule von Alice Salomon holte sie das Abitur nach und
studierte Geschichte, Soziologie und Philosophie. Vor und während des
Studiums publizierte sie Artikel in unterschiedlichen Zeitschriften.
Während der Weimarer Republik war Tergit Deutschlands erste
Gerichtsreporterin. Mit wachem Blick nahm sie nicht nur die
kriminalistische Seite der Fälle, wahr, die sie beobachtete, ihr
Augenmerk galt besonders deren sozialem und politischen Hintergrund. Vor
allem dem zuerst schleichenden, dann immer deutlicher zu Tage tretenden
Einfluss der erstarkenden nationalsozialistischen Bewegung und der –
auch schon vor deren Wahlsieg – immer größer werden Willfährigkeit der
Justiz, die das Recht in deren Sinne beugte. Mit Käsebier erobert den Kurfürstendamm hatte sie 1931 großen Erfolg als Romanautorin.
Als Jüdin, die in dem unter den Nazis als linksliberal
verschrieenen “Berliner Tageblatt” schrieb, hatte sie ein sicheres
Gefühl für das, was sich in Deutschland zusammenbraute. Als kurz nach
der Machtergreifung der Nationalsozialisten ein SA-Trupp versuchte, ihre
Wohnung zu stürmen, floh sie am nächsten Tag über die tschechische
Grenze. Sie ging mit Mann und Kind ins Exil, zuerst nach Israel, dann
nach England, wo sie 1982 starb. 1948 reiste sie erstmals wieder nach
Deutschland, weitere Reisen folgten. Die Erfahrungen von politischem
Terror, Rassismus und Verfolgung prägen ihre Erinnerungen, sie sind die
Folie, vor der sie ihr Leben beschreibt. Das gilt nicht nur vor und
während der NS-Zeit, mit wachem Blick sieht sie auch nach Ende des
Krieges, dass es in Deutschland keine „Stunde Null“ gab und
Antisemitismus und rechtes Gedankengut mit dem verlorenen Krieg nicht
verschwunden waren.
Wie vielen Exilanten war es auch ihr nicht möglich, an
ihren früheren Erfolg anzuknüpfen. Erst ab 1977, als sie im Rahmen der
Berliner Festwochen „wiederentdeckt“ wurde, erschienen einzelne ihrer
Werke erneut. Ihre Erinnerungen kamen ein Jahr nach ihrem Tod heraus und
wurden, wie dem informativen Nachwort der Herausgeberin Nicole
Henneberg zu entnehmen ist, vom Verlag vielfach gekürzt und inhaltlich
entstellt.
Etwas Seltenes überhaupt ist ein prall gefülltes
Buch. Eine große Anzahl Portraits von Freunden und Kollegen,
Reiseberichte, Erinnerungen an ihren Mann und den früh verstorbenen
Sohn, Anekdoten, Schilderungen der erlebten Gerichtsverhandlungen und
Berichte aus dem Nachkriegsdeutschland sind atmosphärisch ungeheuer
dicht und temporeich. Ihr flott dahineilender, lebendiger Schreibstil,
manchmal vom Hölzchen aufs Stöckchen kommend, manchmal mit eigenwilligen
Formulierungen und typisch berlinerischer Lakonie, ist – trotz oder
gerade – wegen seiner Leichtigkeit ernsthaft und tiefgründig. Ein
ungemein fesselndes, hellsichtiges, lebendig geschriebenes Buch, das auf
bestürzende Weise zeigt, wie eine zunehmende sprachliche Verrohung in
Gesellschaft und Politik den Weg für ebensolche Taten ebnet. Das ist
zeitgeschichtlich erhellend und stellenweise erschreckend aktuell. Jetzt
sind Gabriele Tergits Erinnerungen ein zweites Mal zu entdecken – es
lohnt sich!
1968 – das Jahr der Studentenrevolte – begann mit dem »Prager Frühling« in der Tschechoslowakei. Doch die Reformversuche der Partei- und Staatsführung endeten am 21. August mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes.
Sibylle Plogstedt, als Studentin in der Opposition gegen den Einmarsch aktiv, wird 1969 von der Staatssicherheit der Tschechoslowakei verhaftet. Sie ist zu dem Zeitpunkt 24 Jahre alt und verbringt eineinhalb Jahre Haft in Ruzyně. Erst Jahrzehnte später kann sie ihre politische Gefangenschaft in diesem Buch aufarbeiten.
Sibylle Plogstedt schlägt anhand der eigenen Biografie ein zentrales Kapitel osteuropäischer und bundesdeutscher Vergangenheit auf – vom Prager Frühling und dessen Niederschlagung über die Aktionen der westdeutschen Linken bis hin zum erwachenden Feminismus.
Sibylle Plogstedt
wurde in Berlin geboren, absolvierte dort ein Studium der Sozialwissenschaften und war von 1965 bis 1969 Mitglied im SDS. 1969 geriet sie in Prag in politische Haft. An der Freien Universität in Berlin wurde sie von 1974 bis 1976 mit Berufsverbot belegt. Sibylle Plogstedt hat 1976 die feministische Zeitschrift »Courage« mit gegründet und bis 1984 herausgegeben. Von 1986 bis 1989 war sie Redakteurin beim Vorwärts, danach freie Journalistin für verschiedenen Fernseh-, Hörfunk- und Internetredaktionen. Sie lebt als freie Autorin im Wendland.
Ilse Lenz
ist Professorin em. für Soziologie (Geschlechter- und Sozialstrukturforschung) an der Ruhr-Universität-Bochum. Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind u.a. Globalisierung, Geschlecht und Arbeit, Frauenbewegungen im internationalen Vergleich; komplexe soziale Ungleichheiten (Klasse, Ethnizität, Geschlecht).
Eine Veranstaltung in Kooperation mit der HEINRICH BÖLL STIFTUNG HESSEN e.V.
Das Gerücht und der Ruhm werden in der römischen
Mythologie von ein und derselben Göttin verwaltet. Ein geflügeltes Wesen
mit tausenden Augen, Mündern und Ohren, rast sie über das Land,
verbreitet sowohl Wahrheit als auch Lüge unter den Menschen und ist
dabei blind für die Konsequenz. In Vergils Aeneis fällt dieser
gewaltigen Klatschtante göttlichen Ursprungs unter anderem die
karthargische Königin Dido zum Opfer: Der düpierte Nebenbuhler erfährt
von dem Techtelmechtel zwischen ihr und Aeneas, klagt sein Leid dem
Jupiter, der Aeneas eigentlich mit einer ganz anderen Mission als einer
Heirat betraut hatte, und nach einer Intervention des Göttervaters nimmt
das Schicksal der liebeskranken Dido seinen tragischen Lauf.
Dass die Fama, wie diese tratschende Göttin heißt, auch
für den Ruhm zuständig ist, nimmt eigentlich nicht weiter Wunder: Das
gezielt gestreute Gerücht, die perfide ausgetüftelte Schmutzkampagne
haben schon so manchen Machtkampf entschieden, und auch im politischen
Betrieb unserer Zeit scheint das fleißige Verwischen der Grenze zwischen
Fakt und Fiktion wieder Konjunktur zu haben.
Fernando Rovira, politisch ambitionierter Bauunternehmer
und Gründer der aufstrebenden Partei „Pragma“, ist ein Charismatiker:
adrett, sportlich, immer ausgeschlafen und eloquent. Mit sicherer Hand
lenkt er die Geschicke seiner Partei, führt sie von Sieg zu Sieg und
schreitet ihr als politische Lichtgestalt, als Selfmademan, voran. Das
Ziel: Die Provinz Buenos Aires teilen, das Leben für alle verbessern und
anschließend, klar, die Präsidentschaft von Argentinien.
Unnötig zu sagen: Mit schillernden Inszenierungen verhält
es sich wie mit Magneten: Sie üben eine immense Anziehungskraft aus.
Und schon bald geraten auch die beiden Studenten Román Sabaté und sein
Freund Sebastián in den Bann von Roviras Partei und bewerben sich
schließlich um eine Position im Team des großen Mannes.
Doch da geschieht Unerwartetes: Nicht der
hochintelligente Sebastián, der sich mit Leib und Seele dem Programm
Roviras verschrieben hat und vor Tatendrang zu platzen droht, wird
genommen, vielmehr bekommt sein ungleich weniger tatkräftige Freund
Román den Zuschlag für den Posten und steigt auch gleich zum
Privatsekretär und Personaltrainer Roviras auf. Und noch während sich
Román selbst über seinen rasanten Aufstieg in der Partei wundert, wird
er immer weiter in ein Netz aus Lügen, Mythen und grausigen Geheimnissen
verstrickt, das Rovira abseits der Öffentlichkeit knüpft. Der
Hoffnungsschimmer am sich stetig verdüsternden Horizont: Die junge
Journalistin Valentina Sureda, genannt China, die an einem Buch über den
Einfluss des Fluches der Tolosana auf die Politik Fernando Roviras
arbeitet. Jener sagenhafte Fluch besagt, dass kein Gouverneur der
Provinz Buenos Aires je Präsident Argentiniens werden kann. Dabei kommt
sie unliebsamen Wahrheiten auf die Spur und befindet sich bald selbst in
höchster Gefahr.
Welche faktische Kraft können ausgewiesene Mythen
entwickeln? Welche politische Durchschlagskraft hat die gut arrangierte
Story? Und: Ist nicht das wahr, was der Mensch beschließt, als wahr
anzunehmen?
Claudia Piñeiros Politthriller Der Privatsekretär
liest sich wie eine spannende Abhandlung dieser brandaktuellen Fragen.
Einerseits verfolgt der Leser die immer wahnwitziger werdenden
Entwicklungen um Román Sabaté, andererseits schaut er Valentina Sureda
über die Schulter, wie sie Fragment um Fragment für ihr Buch
zusammenträgt und dabei in die Geschichte des Landes und der Provinz
Argentiniens eintaucht. Die Sprache ist, dem Plot und dem Genre
angemessen, klar und präzise, und das Spiel der Autorin mit historisch
verbürgten Fakten und freier Erfindung reflektiert das Thema des Buches
auch auf formaler Ebene.
Wer sich im gerade so glorios anhebenden Sommer spannende
Unterhaltung mit politisch relevanter Thematik genehmigen möchte,
angereichert mit einem halbfiktionalen Exkurs in die jüngere
argentinische Geschichte, ist mit diesem Buch hervorragend bedient.
Johannes Fischer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt
Ayelet
Gundar-Goshen versteht es, eine pure, herrliche Sommerlektüre zu
schreiben, die zugleich klug und erhellend in aktuelle Debatten
eingreift.
Ort und Zeit des Geschehens: Tel Aviv, die letzten Wochen
der Sommerferien. Die Hitze steht in den Straßen, die junge
sommersprossige Nuphar eilt zu ihrem Ferienjob in die Eisdiele. Sie ist
mit ihren 17 Jahren noch so uneins mit sich und ihrem Körper, wie man es
nur sein kann, wenn man den Schönheitsidealen permanent ausgesetzt ist,
ihnen aber nicht entspricht. Da ist ihre vom Glück geküsste jüngere
Schwester Maya, der alles mühelos zufliegt, da sind Mutter und Vater und
der Junge Lavie, den sie zu lieben beginnt – und schließlich die alte
Raymonde, die im Seniorenheim lebt. Zwischen diesen beiden Polen, der
alten Raymonde und der jungen Nuphar, spannt Gundar-Goshen ihre
Geschichte auf.
Die junge und die alte Frau verstricken sich unabhängig
voneinander und eher zufällig in eine Lügengeschichte, die sie befreit
und ihnen eine Stimme verleiht. Endlich werden sie gehört, endlich wird
ihnen Aufmerksamkeit geschenkt. Dass das just in dem Moment geschieht,
als sie nicht von sich erzählen, sondern sich die Geschichten anderer
einverleiben, zeigt das moralische Dilemma der Figuren, das überaus
erhellend beschrieben und amüsant erzählt wird.
Im Fall der jungen Nuphar ist es die erfundene
Vergewaltigung – der abgehalfterte Medienstar Avishai Milner fährt der
jungen unscheinbaren Eisverkäuferin Nuphar dermaßen überheblich über den
Mund, dass sie weinend und schreiend in den Hinterhof flieht. Die
zufällig vorbeikommenden Polizisten hören das Mädchen, folgen den
Schreien und stellen ihm Fragen, auf die Nuphar kaum mit einem Nicken
antworten muss – und sofort wird sie als das Opfer angesehen, wird im
Polizeipräsidium befragt, in Talkshows eingeladen, wird für ihren Mut
gelobt und endlich wahrgenommen.
Im Fall der alten Raymonde handelt es sich um eine Lüge,
die schwerer wiegt, denn Raymondes Lüge hat das Zeug, die Leiden eines
ganzen Volkes zu verhöhnen. Als ihre Mitbewohnerin, eine
Schoah-Überlebende, stirbt, schlüpft sie im wahrsten Sinne des Wortes in
deren Kleider und erzählt statt ihrer von den Schrecken in den
Konzentrationslagern.
Es ist ein wirkliches Glanzstück, das Gundar-Goshen
gelingt, denn in keiner Sekunde werden die Leiden der wirklichen Opfer
in Frage gestellt oder entwürdigt – im Fall der alten Raymonde erscheint
es sogar als Ehre und Auszeichnung, das Leben der Freundin
weiterzuführen, und als eine historische Notwendigkeit, als lebender
Zeuge den Besuchern der Gedenkstätten erzählen zu können. Im Fall der
jungen Nuphar ist der me-too-Ruf der Umweg, den sie gehen muss, um sich
selbst anzunehmen. Endlich blüht sie auf und passt in die Kleider der
strahlenden jüngeren Schwester. Auf diese Weise erzählt Gundar-Goshen,
wie sprachliche Strukturen und Erzählmuster zur Befreiung für die
Individuen und vom Individuum werden können. Aber: Lügen darf man nicht!
Robert Seethaler hat die große Fähigkeit, fesselnde und
berührende Romane über gänzlich unspektakuläre Menschen zu schreiben.
Seine Protagonisten sind keine strahlenden Helden, keine Gefallenen, sie
erleben keine schicksalsträchtigen Dramen, keine Liebespassionen, haben
aber mit dem, was ihnen das Leben zumutet, genug zu tun. Sie leben ihr
Leben, und der staunende Leser ist zutiefst beglückt, ihnen dabei folgen
zu dürfen. Sein neuer Roman hat nicht einmal mehr eine Hauptperson.
Hier kommen Menschen zu Wort, die zumeist wenig miteinander verbindet –
außer dem Ort, an dem sie oder zumindest ihre Körper sich befinden: dem
ältesten Teil des Paulstädter Friedhofs, „das Feld“ genannt.
Hierhin kommt jeden Tag ein Mann, läuft zwischen den
Gräbern umher, setzt sich auf eine Bank und hört ihre Stimmen.
Neunundzwanzig Tote, dreißig Stimmen. Denn der Erzähler lebt, und die
Toten erzählen aus ihrem Leben: eine kurze Begebenheit, einen Moment des
Glücks, Leid, Schicksalsschläge. Eine ganze Erzählung oder einen Absatz
lang, einmal auch nur ein Wort. Manche kannten sich näher, manche nur
vom Sehen, einige waren Paare, andere stehen gänzlich für sich. Einer
erlebt, dass man auch als Toter noch verlassen werden kann. Eine Frau
erzählt von der siebenundsechzig Tage währenden Freundschaft zu der
uralten Henriette, der sie nur sechsundzwanzig Tage später in den Tod
folgt. Ein Pfarrer spricht darüber, wie eine Berufung zum Fluch wird,
ein Vater gibt seinem Sohn aus dem Grab heraus (gute?) Ratschläge. Ein
Briefträger erinnert sich an seine Tour, ein Bürgermeister schwadroniert
von seinen (Un-) Taten. Nach und nach verdichten ihre Erzählungen sich
zu einem vielfältigen Chor, in dem jede Stimme ihre eigene Melodie
singt, alle zusammen sich dennoch zu einem Ganzen vereinigen – einem
Chor der Toten, die das Leben erzählen. Das schrammt auch schon mal hart
am Kitsch vorbei, aber Seethalers unnachahmlich lakonischer Tonfall
verhindert zuverlässig ein Abrutschen.
Dieses Buch liest man nicht an einem Stück durch und ist
dann fertig. Manchmal reicht ein kurzer Absatz, der noch lange
nachklingt, eine überraschende Wendung lässt innehalten und das Buch
erst einmal hinlegen. Aber anders als bei Erzählungen, bei denen es oft
unbefriedigend ist, wenn man die gerade gelesene mit der nächsten gleich
wieder wegwischt, entsteht hier eine Verbindung zwischen den Personen.
Man begegnet den gleichen Namen öfter, immer in anderen Zusammenhängen,
und es entsteht eine Vertrautheit, die sich im Laufe der Lektüre
verstärkt. Obwohl jede Erzählstimme aus dem Totenreich kommt, ist Das Feld
kein trauriges oder niederdrückendes Buch – es ist das pralle Leben. Es
ist so, wie der Erzähler im Buch sagt: „dass der Mensch vielleicht dann
erst endgültig über sein Leben urteilen konnte, wenn er sein Sterben
hinter sich gebracht hatte.“
Lisa-Marie Klose und Benno Hafeneger im Gespräch mit Heike Ließmann
Montag, 25. Juni 2018, 20 Uhr
Europaweit beschäftigen rechtspopulistische Parteien die Menschen, die Medien und nach dem Einzug jener Parteien in die Parlamente auch den politischen Alltag.
Benno Hafeneger, Hannah Jestädt, Lisa-Marie Klose und Philine Lewek haben sich in einer umfangreichen Studie mit den ersten parlamentarischen Aktivitäten der AfD in kommunalen Parlamenten in Hessen und Niedersachsen sowie im Landtag von Rheinland-Pfalz beschäftigt. Sie beleuchten u.a. die Wahrnehmung der etablierten Parteien von und den diffizilen Umgang mit der AfD. Die Untersuchung versteht sich als ein aufklärender Beitrag über die AfD mit Blick auf ihre parlamentarischen Aktivitäten und zugleich als Anregung für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der AfD im Parlamentsbetrieb.
Neben dieser bereits veröffentlichten Studie werden die Autoren im Gespräch mit Heike Ließmann auch die Ergebnisse einer weiteren Studie zu „AfD – Jugend, Jugendarbeit, Jugendpolitik“ thematisieren.
Lisa-Marie Klose, M.A. Politikwissenschaft, Philipps-Universität Marburg; ab SS 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiterin in der vergleichenden Politikwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt.
Benno Hafeneger, Dr. phil., Prof.(em) am Institut für Erziehungswissenshaften der Philipps-Universität Marburg.
Heike Ließmann, Redakteurin in der Redaktion Bildung und Wissenschaft bei hr Info.