Buchempfehlung

Kübra Gümüsay

Sprache und Sein

Hanser Verlag
18 €

Die Sprache, in der wir aufwachsen, formt unser Denken, bestimmt, was wir benennen können, gibt vor, welche Gefühle wir ausdrücken und welche Lebensbereiche kulturell relevant sind, denn nur dann werden in einer Sprache dafür überhaupt Ausdrucksmöglichkeiten geschaffen. Wir sehen nicht, wir fühlen und wissen nicht, was alles außerhalb unseres Denkrahmens denkbar wäre.

Mit Sprache und Sein stellt uns Kübra Gümüşay den Blick der Mehrsprachigen zur Verfügung. Sie ist eine Autorin, die nicht nur zwischen Lyrik und Prosa wechselt, sondern sich nach ihrer Muttersprache, dem Türkischen, auch das Deutsche und Englische so zu eigen gemacht hat, dass sie darin all das zum Ausdruck bringen kann, was ihr wichtig ist. Die Erfahrung, dass sich manche Begriffe nicht übersetzen lassen, weil weder Wörterbücher noch Online-Übersetzer Bedeutungen und semantische Feinheiten abbilden können, haben vermutlich die meisten von uns schon mal gemacht. Und dass ein Wort nur selten ein Wort ohne unscharfe Randbereiche ist, in dem sich durch Kontext oder Betonung Untertöne mit transportieren lassen, wissen wir nicht erst, seitdem wir auch gesellschaftlich wieder über die Verrohung und Entgrenzung von Sprache diskutieren müssen.

Kübra Gümüşay denkt über Sprache und Sprechen nach, wendet sich aber auch dem Sagbaren zu, also Themen, die aus einer tabuisierten Grauzone des Unausgesprochenen langsam ans Licht kommen „Das Internet hat neue Perspektiven aus der Stille zur Sprache gebracht.“ Digitale Diskursräume ermöglichen es Betroffenen, überhaupt Worte zu finden, zum Beispiel für sexualisierte Gewalt im Rahmen der #MeToo-Bewegung. Dass Harvey Weinstein in der vergangenen Woche zu 23 Jahren Haft verurteilt wurde, ist auch als Sieg der Sprache zu sehen, des Ausgesprochenen über das Schweigen. Zeitgleich müssen wir uns mit einer Enthemmung und Entgrenzung der Sprache auseinandersetzen, also dem Gegenteil des reflektierten Schweigens. Das Totschlagargument rechtsgerichteter und fremdenfeindlicher Gesprächspartner ist häufig, „man könne hier ja nicht mal seine Meinung offen äußern“, wenn es um eine vermeintliche Bedrohung durch unterschiedliche Kulturen oder Religionen geht. Michel Friedman sagte hierzu in einem Radio-Interview kurz nach dem Anschlag in Hanau, dass die gesellschaftliche Vereinbarung, nicht alles und sofort auszusprechen, was uns durch den Kopf geht, einen wichtigen Namen trägt, nämlich: Zivilisation. Es gilt heute also mehr denn je, umsichtig abzuwägen, in welchen Bereichen zu viel und in welchen zu wenig gesagt wird.

In Sprache und Sein schult die Autorin darüber hinaus unsere Wahrnehmung der Ent-Individualisierung von Mitmenschen anderer Herkunft. Sie trägt Beispiele aus eigener Erfahrung und denen anderer kulturell oder politisch aktiver Musliminnen dafür zusammen, wie stark sie als „Kopftuchträgerin“ oder als junge Frau mit Migrationshintergrund wahrgenommen werden und wie selten als Person. Journalist*innen befragen sie als muslimische Frau, anhand derer zu verstehen versucht wird, wie alle anderen funktionieren. „Und jedes Exemplar der Spezies Muslim*innen ist wie das andere. Ob jung, alt, queer, weiß, schwarz, of Color, mit oder ohne Behinderung, geflüchtet, Arbeiter*innen, Akademiker*innen – sie alle werden ihrer Stimme und Sichtbarkeit beraubt.“

Unsere kultur- und sprachbedingte Klassifizierung der Welt in Schubladen und Stereotype gilt es wahrzunehmen, aufzubrechen und bestenfalls abzulegen. Kübra Gümüşay veröffentlicht hierzu nicht nur regelmäßig Kolumnen (https://kubragumusay.com/kolumnen/), sondern hat mit wachem und kenntnisreichen Blick ein wichtiges und unbedingt lesenswertes Buch geschrieben!

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt