Was lieben wir? Was fürchten wir? Illustriert von Susan Schädlich. Ab 12 Jahre
Europa! Alle sprechen immer darüber, doch was ist das
eigentlich? Was versuchen wir da eigentlich immer vor Populismus und
Nationalismus zu schützen? Natürlich ist Europa der Kontinent, auf dem
wir leben, keine Frage, doch ist Europa nicht noch viel mehr? Steht
dieser Kontinent, dieser Zusammenschluss der Länder, nicht auch für
Frieden, Gleichheit und Menschenrechte? Und was wissen wir eigentlich
über die EU? Klar, irgendwie bestimmt die EU unseren Alltag, doch die
meisten Menschen wissen nicht wie. All diese Fragen und noch einige mehr
werden in dem Buch Fragen an Europa geklärt. Man wird mit
einigen Grundinformationen, die auch schon sehr interessant sind, in das
Buch eingeführt. Weißt du zum Beispiel, wie viele Menschen in Europa
leben und wie viele Sprachen in Europa gesprochen werden? Und ist dir
eigentlich klar, dass es nicht nur eine, sondern viele verschiedene
Definitionen von Europa gibt?
Das Buch kommt mit 60 Fragen an und über
Europa daher. Einige sind eher allgemein gehalten, zum Besipiel was
eigentlich Populismus oder Pluralismus sind, andere sind sehr spezifisch
auf Europa bezogen, wie zum Beispiel, welche besonderen Zugstrecken
durch Europa verlaufen. Alles wird mit Hilfe sehr einfacher und doch
aufschlussreicher Schaubilder illustriert, die sehr nett gestaltet sind,
wie bei Frage 32: „Wer hatte die Idee für die EU? Meilensteine in
Bildern“. Die Absicht des Buches ist es, junge Menschen zum Nachdenken
über Europa anzuregen, und laut den Autoren hat man das Buch nur dann
wirklich verstanden, wenn man mit mehr Fragen aus dem Leseerlebnis
herausgeht als man vorher hatte. Ihr Wunsch ist es natürlich, dass
Menschen durch dieses Buch Europa lieben lernen, wie sie es tun, da es
offensichtlich viele Menschen gibt, die vergessen haben, was wir an
Europa eigentlich haben.
Mir hat das Buch sehr gut gefallen, da es ein für mich
sehr interessantes Thema vorstellt. Außerdem gehen die Autorinnen auf
einen der wichtigsten Punkte ein, die für ein funktionierendes Europa
eigentlich nötig und die Gegenbewegung zum Rechtsruck in Europa wäre:
Pluralismus! Er ist wahrscheinlich eine der wenigen Chancen, die wir
noch gegen den Gedanken des Nationalstaates haben. Also lasst uns diese
ergreifen, um dem fortschreitendem Populismus die Stirn zu bieten.
Anfangen sollten wir damit, uns gut über Europa und die EU zu
informieren und Möglichkeiten zur positiven Veränderung zu entwerfen.
Genau dafür ist dieses Buch perfekt.
Kronos‘ Kinder
ist die Geschichte der Recherche des Historikers Kirill zu seinen
deutschen Vorfahren, von denen der erste 1830 aus Leipzig ins Russische
Kaiserreich gekommen ist. Leitmotiv ist die Erinnerung Kirills an einen
Vorfall, den er in seiner Kindheit beobachtet hat. In dem russischen
Dorf, in dem seine Großmutter lebt, beobachtet das Kind, wie ein
invalider Veteran des Zweiten Weltkriegs, nachdem er sich am Jahrestag
seiner Verwundung betrunken hat, eine Schar Gänse niederschießt und sie
dabei als deutsche Feinde wahrnimmt. Für Kirill spricht diese Szene für
das besondere Verhältnis zwischen Russen und Deutschen, das er dann auch
in der Geschichte seiner deutschen Vorfahren immer wieder zu erkennen
glaubt.
Erzählt wird die von Lebedews eigener Familiengeschichte
inspirierte Geschichte aus Kirills Perspektive in der dritten Person. Er
fährt zu den historischen Schauplätzen seiner Familiengeschichte, nach
Leipzig, Halle, Münster und Zarizyn/Stalingrad/Wolgograd und denkt sich
hinein in seine Vorfahren, deren Perspektive dann ab und zu durch die
seine hindurchscheint. Es bleibt aber deutlich, dass es stets Kirills
Imaginationen sind, die hier sprechen, sodass die Perspektivenvielfalt
eine scheinbare bleibt.
Es ist Kirills Großmutter Lina, die den Ausschlag für
seine Recherche gibt, als sie ihm sagt, dass sie als Karolina Schwerdt
geboren wurde und ihre Vorfahren Deutsche gewesen seien. Sie nimmt
Kirill früh mit auf den sogenannten „Deutschen Friedhof“ in Moskau und
öffnet ihm dadurch einen in der Sowjetunion unerwarteten Blick auf die
fremde Welt seiner Vorfahren. Im Zuge seiner Recherchen stößt Kirill auf
die Geschichte von Balthasar, einem Homöopathen, der 1830 nach Russland
ging. Kirill folgt der männlichen Linie der Schwerdts, Ärzte und
Ingenieure, bis zu der Geschichte seiner Großmutter. Dabei interessiert
ihn stets, welche Rolle das Deutschtum für seine Vorfahren und ihre
Schicksale gespielt hat. Hätte seine Großtante die Blockade von
Leningrad überlebt, wenn sie keine Deutsche gewesen wäre? Hätte seine
Großmutter auch den zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit überlebt,
wenn sie nicht die Möglichkeit gehabt hätte, durch ihre Heirat mit einem
Russen den deutschen Namen abzulegen?
Kirill, dem der Leser bei der Rekonstruktion seiner
Familiengeschichte folgt, stellt Spekulationen über die Ansichten und
Beweggründe seiner Vorfahren an, ist ständig bemüht, aus den Ereignissen
auf sein eigenes Leben zu schließen, und versucht, transhistorische
Konstanten auszumachen, die er „Algorithmen“, „Lebensmuster“ oder „Reime
des Schicksals“ nennt und die ihn nicht selten zu pauschalen Urteilen
verleiten. Seine Schlussfolgerungen zu den Beweggründen historischer
Figuren scheinen aber nicht nur die Darstellung zu beeinflussen, sondern
auch die Ereignisse in der Vergangenheit selbst. Wie ein Gott greift er
ein, zieht Vergleiche, setzt Verhältnisse und ordnet damit alles neu.
Seine Rolle ist ihm dabei bewusst wenn es heißt, „er war derjenige, der
alles sah“ (245).
Vor dem Hintergrund der großartigen, bereits ins Deutsche übersetzten Romane Lebedews, Der Himmel auf ihren Schultern (2013) und Menschen im August
(2015), ist dieses Buch deshalb zunächst ärgerlich: Es ist ermüdend,
den Spekulationen Kirills über die Beweggründe seiner Vorfahren zu
folgen, die ihn dann wie von Zauberhand auf die richtige Spur lenken.
Die Methode des Erzählers, intuitiv historische Zusammenhänge zu
erkennen, wird hier nicht nur exzessiv und mit scheinbar
selbstverständlichen Erfolgen verfolgt, sie wird auch explizit benannt.
Mit fortschreitender Lektüre aber wird deutlich, dass dieses
Thematisieren und Ausreizen nicht einfach Kitsch ist, sondern vielmehr
neue Bereiche poetischer Opazität öffnet. Denn dieser Roman hat ein ganz
anderes Thema als die vorhergehenden, in denen es um die Vergangenheit
bzw. das Fortleben der Vergangenheit in der Gegenwart ging. Hier geht es
um Kirill, seine Recherche und darüber, wie eine Erzählung entsteht.
Die Rekonstruktion der Vergangenheit und das Verfassen des Buchs darüber
wird für Kirill zu einem einzigen Vorgang: Das Nachdenken über den
möglichen Fortgang der Erzählung fällt in eins mit dem Auffinden neuer
Verbindungsstücke in der Geschichte seiner Vorfahren. Kronos‘ Kinder ist damit ein unfertig wirkender Metaroman mit all der Sperrigkeit und Unabgeschlossenheit, die diesem Genre eignen kann.
Was diesen Metaroman trotz dieser Sperrigkeit zu einem
Genuss macht, sind die so wundervollen Beschreibungen, für die Lebedew
bekannt ist. Dazu gehören zum Beispiel Kirills feinsinnige Beobachtungen
bei der Lektüre des mehrsprachigen Tagebuchs seines Großvaters und die
atmosphärische Beschreibung eines Sommergewitters im Dorf der Großmutter
ganz zu Anfang des Romans. Diese Szenen, in denen der Lesende das
Gefühl absoluter Unmittelbarkeit bekommt, ergänzen die methodischen
Reflexionen des Protagonisten erstaunlich gut.
Als
Albertine Sarrazin mit 29 Jahren starb, hatte sie einen Großteil ihres
Lebens hinter Gittern verbracht. Ihre Romane hatten für ein Aufsehen
gesorgt, das sie in ganz Frankreich und über seine Grenzen hinaus
bekannt machte. Die Neuübersetzung von Der Ausbruch durch Claudia Steinitz ist dazu angetan dieses großartige Buch erneut ins Gespräch zu bringen.
Anick Damien, die Protagonistin des Romans, sitzt (nicht zum ersten Mal) wegen Juwelendiebstahls und Hehlerei hinter Gittern. Der Ausbruch
stellt ihre Aufzeichnungen während eines Teils dieser Haftzeit dar. Sie
erzählen von den Verhältnissen, Freund- und Feindschaften im Gefängnis
und vor Gericht. Die Arbeit an diesem Roman wie an all ihren anderen hat
Albertine Sarrazin selbst im Gefängnis begonnen. Ob man darin den Grund
für seine Tiefe und brutale Ehrlichkeit sehen will, bleibt den
LeserInnen selbst überlassen.
Anick schreibt nicht zum Zeitvertreib, nicht um die
Haftzeit zu verkürzen oder sie für sich nutzbar zu machen. Ihr Schreiben
ist an sich schon ein Ausbruch, ein Widerstand. Doch ist es kein
eskapistischer Akt: Ihre ausufernden Sprachbilder täuschen nicht über
die Trostlosigkeit und die Brutalität des Knastes hinweg, sondern
arbeiten sich an ihr ab, sind vielleicht der Versuch, die
Gefängnismauern aufzulösen. So wie ihre Ausbruchspläne sich
ausschließlich auf die Dicke der Gitterstäbe, die Höhe der Wände und die
Scherben auf der Außenmauer konzentrieren, so konzentriert sich auch
das Schreiben im Gefängnis auf nichts als das Eingeschlossensein, das
Limitierte, auf den Alltag im Knast. Woraus kann ich mir eine Pinzette
formen, und wo verwahre ich sie so, dass sie nicht entdeckt und
konfisziert wird? Wie kann ich mich gegen meine Mitgefangenen in dem
nervenzerreißenden Spiel zwischen Unterwürfigkeit und Selbstbehauptung
durchsetzen?
Anicks Schreiben und ihre immer wieder neuen Pläne, dem
Gefängnis zu entkommen, sind zwei der drei großen Freiräume im Dasein
der Gefangenen. Der dritte ist die Liebe, denn Der Ausbruch ist
auch ein Liebesroman. So unbeschränkt und radikal wie der Wille der
Protagonistin ist ihre Liebe zu ihrem Freund Zizi. Und immer wieder
scheint auch das Bedürfnis nach Nähe und engster Freundschaft zwischen
ihr und ihren Mitgefangenen auf.
Der alles bestimmende Ausbruch meint zugleich das
Entkommen aus den Mauern des Gefängnisses und den Ausbruch des Vulkans,
der zum Bruch mit den Verhältnissen führt, verweist auf die Einbrüche,
die Anick und Zizi in den Knast gebracht haben, und auf die schmerzenden
Knochenbrüche, die Anick jeden Tag an ihre Flucht vom Tatort erinnern.
Hier muss auf die hervorragende übersetezerische Leistung von Claudia
Steinitz hingewiesen werden, denn Sarrazins Sprache ist durchdrungen von
feingesponnen Bildern und Metaphern, die nicht selten und nicht
zufällig von der Mythologie ausgehen, aber auch, durch Sprachcodes und
Decknamen – Anleihe an die omnipräsente Zensur, die Kontrolle, an den
heimlichen Kassiber-Austausch –, sehr verdunkelt. Das Schreiben setzt
der Profanität des Gefängnisalltags eine Üppigkeit entgegen, die dennoch
keinen anderen Gegenstand haben kann als eben diese Profanität, diese
Kargheit, diesen Überfluss des Mangels, diese Grenzenlosigkeit des
Gefängnisses.
Motor der Geschichte ist der italienische Kolonialismus,
genauer, Mussolinis Eroberungsfeldzug in Äthiopien, der 1935 begann und
fünf Jahre währte. Sangue giusto, Richtiges Blut,
heißt der Roman im Italienischen und verweist damit schon im Titel auf
den faschistischen Rassenwahn und das System strikter Rassentrennung,
das das Regime in Äthiopien installierte. Bis zu zehn Prozent der
Bevölkerung fielen diesem Krieg zum Opfer, den Hungerlagern,
Massenhinrichtungen und Senfgaseinsätzen. Von einem „vergessenen
Völkermord“ spricht der Historiker Aram Mattioli – vergessen, weil ins
Abseits der Erinnerungskultur Italiens geschoben, wo nie eine
glaubwürdige Aufarbeitung der Vergangenheit stattgefunden hat. Die an
der Bevölkerung verübten Gewalttaten der deutschen Besatzer ab 1943
überschatteten die Tätervergangenheit des Landes, es konnte sich fortan
als Opfer sehen oder als antifaschistische Partisanen gegen die deutsche
Besatzung. So überdauerte bis heute in weiten Teilen der Bevölkerung
ein unvollständiges und allzu nachsichtiges Bild des Faschismus.
Francesca Melandri destruiert dieses Bild in ihrem Roman radikal.
„Italien war ein ausgenüchterter Alkoholiker, der wie jeder Verfechter
der Abstinenz nichts von seinem Verhalten während des letzten schlimmen
Rausches wissen will“, schreibt die römische Autorin, die als
Drehbuchautorin und Dokumentarfilmerin bekannt wurde und nun ihren
dritten Roman vorlegt, nach Eva schläft, einem Roman über die
Zwangsitalianisierung Südtirols, und Über Meereshöhe, dessen Thema der
italienische Terrorismus ist.
Die Handlung setzt ein im Jahr 2010, noch regiert
Berlusconi. Ilaria Profeti, Mitte vierzig, Lehrerin und kinderlos, eine
der Hauptfiguren des Romans, ist eine mehr oder weniger typische
Vertreterin des linksliberalen Milieus in Italien: Desillusioniert durch
die fortwährende Untergrabung der Demokratie durch die rechte
Regierung, ist sie gleichwohl als Lehrerin noch immer sehr engagiert.
Alle außer ihr sind korrupt, bigott und unmoralisch. Was sie nicht daran
hindert, eine – verheimlichte – sexuelle Beziehung zu Piero einzugehen,
einem Jugendfreund aus vermögender Familie, der in Berlusconis Partei
Karriere gemacht hat und damit politisch genau das Gegenteil ihrer
Überzeugungen vertritt. Ilaria glaubt, ihr Leben im Griff zu haben, ihre
Familie zu kennen. Bis etwas geschieht, das sie in ihrer Grundfesten
erschüttert: Eines Abends , Ilaria kommt vom römischen Alltag abgekämpft
nach Hause, sitzt auf der Treppe ihrer Wohnung im sechsten Stock eines
Miethauses ein abgerissener junger Mann, dem Aussehen nach ein
Äthiopier, eindeutig ein Geflüchteter; wie sich herausstellt, ein
regimekritischer junger Lehrer, der, um sich der Verfolgung durch das
postkoloniale Regime zu entziehen, „raus musste“ und nach jahrelanger
Flucht durch die Wüste und libysche Lager in Italien landete, wo sein
Asylantrag binnen weniger Minuten abgelehnt wurde. Und dieser junge
Mann, der nun illegal in Land lebt, erklärt Ilaria in perfektem
Italienisch: „Ich heiße Shimeta Ietmgeta Attilioprofeti“. Der Beweis:
sein Pass. Ietmgeta sei der Name seines verstorbenen Vaters, Attilio
Profetis Sohn. Attilio Profeti, das ist Ilarias Vater. Ein Vater, den
sie liebt. Der einst der heranwachsenden Ilaria beichtete, er habe noch
eine zweite Familie, eine Frau, Anita, die er nach der Scheidung von
Ilarias Mutter heiratet, und einen Sohn namens Attilio, nach dem Vater
benannt . Die Erzählung nimmt Fahrt auf. Den hochbetagten Vater kann
Ilaria nicht mehr befragen. Er ist dement. Die Suche nach der Wahrheit
hinter der Behauptung des Jungen, sie sei seine Tante, führt Ilaria
zurück in die italienische Provinz zur Zeit des Faschismus, zur Herkunft
ihres Vaters, und weiter über Rom nach Äthiopien. Denn der Vater hatte
mehr zu verbergen als eine zweite Familie: Er, der vorgegeben hatte,
Partisan gewesen zu sein, entpuppt sich als überzeugter Faschist, der
sich freiwillig für den Abessinien-Feldzug meldete, als Assistent eines
Rassenforschers arbeitete, an Feldzügen und Massakern teilnahm und in
Äthiopien einen Sohn zeugte, den er nie anerkannte. Attilio Profeti ist
eine der wichtigsten Figuren der Erzählung, charmant, liebenswert,
skrupellos, vielschichtig gezeichnet, glaubwürdig, so wie andere
Handlungsträger auch. Flankiert werden sie von zahlreichen Nebenfiguren,
die leider öfter zu Schablonen geraten sind. Die Stofffülle ist immens,
doch der Autorin ist es gelungen, die Zeitsprünge, den häufigen Wechsel
der Perspektiven und Schauplätzen in den einzelnen Erzählsträngen
stimmig ineinander zu binden.
Zehn Jahre hat Francesca Melandri an diesem Roman
gearbeitet, in Archiven geforscht und in Äthiopien Orte der Handlung
aufgesucht, dort nach noch lebenden Zeitzeugen gesucht. Einprägsam sind
viele Szenen, etwa der Angriff auf widerständige Äthiopier, die mit
Senfgas aus ihrem Felsenversteck getrieben und getötet werden. Fast
schon satirisch die Beschreibung von Gaddafis berühmten Besuch in Rom,
der die Stadt in einen Ausnahmezustand versetzte. Gleichwohl seien
manche stilistische Entgleisungen erwähnt, etwa wenn es heißt, “die
Hochebene des Wollo und des Shoa” seien “so ausgetrocknet wie die Knie
von Hundertjährigen”. Auch die Übersetzung hätte bisweilen ein
sorgfältigeres Lektorat verdient. Das ist schade, keine Frage. Aber es
ändert nichts daran, dass Francesca Melandri ein weiterer Roman gelungen
ist, dessen Stärke darin liegt, historisch fundiert zu entwickeln,
warum das heutige Italien ist, wie es ist.
Als „Ethnologin ihrer selbst“ geht Annie Ernaux in ihrem
neuen Roman zurück in das Jahr 1958, in dem sie sich als knapp
18-jährige zum ersten Mal von ihrem moralisch beengenden Elternhaus
entfernt, um in einem Feriencamp als Betreuerin zu arbeiten. Die
erhoffte Romanze mit einem älteren Betreuer gerät zu einer fast brutalen
ersten sexuellen Erfahrung, die Ernaux im Rückblick als prägend für ihr
ganzes Leben entschlüsselt.
Behutsam, aber in vertraut distanziertem Ton, überführt
die Autorin einen inneren Zustand der Bilder und Gefühle in einen
Zustand der Wörter. Sie erinnert sich an die Demütigung durch ihre
Altersgenoss*innen, an die tief empfundene Scham und ringt mit der
Frage, die sich vermutlich fast alle Mädchen in dieser Zeit stellten,
nämlich der, wie man sich „richtig“ verhält. Erst einige Jahre später
wird sie in ihrem Philosophiestudium bei Simone de Beauvoir die Antwort
finden, dass sie sich auch als Frau als freies Subjekt bewegen darf.
Die Ehrlichkeit, mit der Annie Ernaux ihren Selbsthass,
ihre beginnende Essstörung und den Versuch der Vertuschung ihrer
kleinbürgerlichen Herkunft beschreibt, hat eine gleichermaßen
beklemmende wie befreiende Wirkung auf den Leser. Oder in diesem Fall
vielleicht nur auf die Leserin? Auch 20 oder 30 Jahre später haben
Frauen noch immer mit denselben Zweifeln angesichts der Frage gerungen,
was wohl ein angemessenes, weibliches Verhalten sei.
Ernaux beschreibt in ihrer Rückschau, wie sie als junge
Frau den Weg der Verwandlung einschlug. Sie wollte ungeschehen machen,
was ihr so viel Schmerz bereitet hatte, versuchte, ihren Körper in den
einer Anderen zu verwandeln, in den Körper einer Frau, die begehrt statt
abgewiesen wird. Anstatt sich von der männlichen Dominanz zu befreien,
hatte sie ihr ganzes Sein darauf ausgerichtet, „ihn“ irgendwann doch für
sich gewinnen zu können.
Auf den einschneidenden Sommer im Feriencamp folgt der
Beginn einer Ausbildung an einer Fachschule für Lehrerinnen. Diese Zeit
in einer autarken Gemeinschaft mit durchorganisiertem Alltag, der für
die junge Frau „weich wie ein Kissen“ war, würde die Autorin später in
ihrer Auseinandersetzung mit politischen Fragen das sowjetische System
verstehen lassen und noch später die Sehnsucht der Russen nach der guten
alten Zeit. Erst später wird sich Annie Ernaux das vollkommene Fehlen
eines pädagogischen Talents eingestehen und einen anderen Weg
einschlagen, der sie aus der zwar strengen, aber doch behüteten
Gemeinschaft herausführen wird.
„…im Prinzip gibt es nur zwei Arten von Literatur, die
nacherzählende und die suchende…“ schreibt Ernaux. In Erinnerungen eines
Mädchens vereint die Autorin beides miteinander. Indem sie nacherzählt
und sich, ähnlich wie in ihrem letzten Roman Die Jahre, an
Erinnerungsstücken, Briefen und Fotos entlang hangelt, versucht sie sich
der jungen Frau – die sie jetzt nicht mehr ist – zu nähern. Die Frage,
wie wir zu der Person wurden, die wir heute sind, fasziniert vermutlich
nicht nur Annie Ernaux. Mit dieser Frage bleibt man auch zurück, wenn
man die letzte der 164 Seiten ihres Buchs gelesen hat, und wird sich im
besten Fall auf die Suche nach der eigenen Vergangenheit begeben.
„Die Arnolfini-Hochzeit“, ein Bild, so bekannt wie
rätselhaft: Ein Mann und eine Frau, offenbar wohlhabend, stehen in der
Mitte eines opulent eingerichteten Raumes und halten sich an den Händen.
Die Frau wirkt schwanger (was aber bei van Eyck keineswegs bedeuten
muss, dass sie auch schwanger ist), der Mann ist blass, sehr ernst und
hält die rechte Hand wie zum Schwur erhoben. Das Paar blickt sich nicht
an; beide Blicke gehen nach unten. „Wenn wir es betrachten, sind wir in
der Situation eines Lesers, der einen rätselhaften Krimi liest, dem das
letzte Kapitel fehlt“ (S. 15), meint der Autor, für den aber auch alles
da ist, um das Rätsel zu lösen, sofern man hinter das blickt, was er als
„mit unübertrefflichem Geschick platzierte Täuschungsmanöver“
bezeichnet. Wie Sherlock Holmes, dessen Verfasser bekanntlich ebenfalls
Art zwar, müssen wir die Lupe in die Hand nehmen und dem Motto des
Buches folgen: „Hinsehen und noch einmal hinsehen und immer wieder
hinsehen, und so gelingt es uns, zu sehen.“
Und so folgen wir fasziniert und mit immer größer
werdenden Augen den Spuren, die uns der Autor mit so viel Charme wie
Akribie zeigt, indem er, wie er sagt, die „Methoden aufmerksamer
klinischer Beobachtung auf ein Werk der Malerei“ anwendet. Er beginnt
mit der Provenienz und den verschiedenen Namen des Bildes sowie der
rätselhaften Signatur, stolpert dann über eine rätselhafte Leerstelle:
der kleine Hund, der zwischen den beiden Figuren sitzt, ist im Spiegel
nicht zu sehen – ein Fehler des Malers? Kaum anzunehmen. Die
rätselhaften Flecken, die mit Hilfe der Lupe auf der Hand des Mannes im
Spiegel erkennbar werden, bieten Anlass zu einem Ausflug in die
Religionsgeschichte. Die Symbolik der Farben und Stoffe wird
entschlüsselt, aus der Anordnung der Figuren, Möbel und Pantoffeln
ergeben sich Buchstaben und Wörter, die weitere Indizien für die Lösung
des „Falls“ ergeben. Wie bei einem Krimi dürfen die Einzelheiten
natürlich nicht verraten werden, aber wie beim Krimi fehlt natürlich
auch die überraschende Wendung am Schluss nicht. Ob Postels
Schlussfolgerungen richtig sind oder nicht, darüber mögen sich die
Kunsthistoriker streiten. Für mich jedenfalls sind sie so logisch,
spannend und einleuchtend wie die Geschichten von Sherlock Holmes.
Der Fall Arnolfini ist ein ganz
außergewöhnliches Buch, so vergnüglich wie lehrreich, so spannend wie
charmant, vor allem aber ein Buch, das seine Wirkung als „Augenöffner“
bei zukünftigen Museumsbesuchen mit Sicherheit nicht verfehlen wird.
Feuilletons für die Frankfurter Zeitung. Reportagen und Erzählungen aus der Sowjetunion (1928 – 1936).
Herausgegeben von Gesine Bey, Foto(s) von Margarete Steffin
Die 2010 wiederentdeckte Autorin Angela Rohr emigrierte nach ihrem Studium der Medizin und Psychoanalyse nach Moskau. Dort wurde sie 1941 verhaftet und kehrte erst 1957 aus der Verbannung zurück in die Stadt. Ihre großartigen Erzählungen über ihre Zeit im Gulag sind unter dem Titel Der Vogel bereits bei Basisdruck erschienen, genauso wie ihr Roman Lager. Mit Zehn Frauen am Amur erhalten wir nun einen Einblick in ihr literarisches Schaffen aus ihrer frühen Zeit in Moskau. Ihre genaue Beobachtungsgabe und ihr empathisches Gespür machen ihre Erzählungen zu einem literarischen MeisterInnenwerk.
Das Interesse an Reportagen aus Sowjet-Russland war in den 20er Jahren groß, und so hatten sie einen festen Platz in den Feuilletons der großen deutschen Zeitungen dieser Zeit. Eine der KorrespondentInnen dieser Zeit war Angela Rohr, die nach ihrem Studium der Medizin und Psychoanalyse 1925 nach Russland emigrierte. Von ihren zahlreichen KollegInnen unterscheidet sie nicht nur die Tatsache, dass sie eine der ersten weiblichen Korrespondenten war, sondern auch, dass sie Moskau und die zahlreichen anderen Städte und Regionen, die sie besuchte, nicht als Reisende und Gast beschrieb und wahrnahm. Vielmehr erhalten wir eine Art Innensicht auf das Wesen und vielleicht auch die Struktur der Orte. Rohrs Reportagen sind nicht zuletzt deshalb so lesenswert, weil sie nicht versuchen, ihre LeserInnen mitzunehmen, für sie Reisende und Berichtende zu sein, sondern weil die Autorin sich selbst als Teil des Ortes begreift, von „unserer Stadt“ spricht.
Das Moskau der späten 20er und frühen 30er Jahre wird uns
nicht anhand der politischen und geschichtlichen Ereignisse dieser Zeit
nahe gebracht, auch das gesellschaftliche Leben und die sozialen
Umstände werden nicht dargestellt. Und doch scheint all das in den
Erzählungen Rohrs auf. So ist das, was die Autorin in ihrer ersten
Erzählung als charakteristisch für Moskau benennt, nicht etwa der
Winter, den sie fast ironisch ins Bild bringt, sondern die Verwendung
und der Verkauf künstlicher Blumen. Gepflogenheiten und teils skurrile
Anstandsregeln sind in ihren Erzählungen häufig Thema. Ein anderes
wiederkehrendes Thema ist die Architektur. In einer der besten
Erzählungen des Buches richtet Rohr den Blick auf einen Milizionär und
sein aussichtsloses Unterfangen, die Straßen Moskaus zu überblicken. Das
Bewusstsein der Arbeitsklasse erkennt Rohr im Umgang in der Straßenbahn
und im Warten im Schuhgeschäft. Rohrs Figuren sind oft von einer
tragisch-komischen, immer aber aufrichtigen Färbung. In ihnen gelingt es
Rohr, im Kleinen das Ganze aufscheinen zu lassen, ohne dass man genau
sagen könnte, was dieses Große sein sollte oder sein könnte.
Die Aufteilung dieses Sammelband nach Reportagen, geordnet nach den Schauplätzen, und Erzählungen ist hilfreich, weil sich die Betrachtungen zu einem Ort wie Schichten übereinanderlegen und so das Bild vertiefen. Es wäre jedoch falsch zu glauben, die Reportagen stünden den Erzählungen an literarischer Tiefe nach. In ihrer genauen Betrachtung des Alltäglichen erinnern sie nicht nur an die berühmte Berliner Kindheit um 1900 von Walter Benjamin, sondern auch an die ebenfalls zuerst im Feuilleton erschienenen Erzählungen Die Gelbe Straße von Veza Canetti.
Tanja hat
eine neue Jacke, und die ist wirklich supercool. Dachte sie. Bis sie auf
dem Schulhof von einem anderen Kind ausgelacht wird. Eine Situation,
wie sie wohl jede*r schon erlebt hat. Doch Tanja gibt nicht klein bei,
sondern beschließt, etwas „noch viel krasseres zu machen“. Mit dieser
Ankündigung ist ihr natürlich die gesamte Aufmerksamkeit des Schulhofes
sicher. Als der nächste Tag kommt und Tanja ohne die Unterstützung ihrer
besten Freundin Kristina in die Klasse muss, verlässt sie ein bisschen
der Mut, und sie behält ihr Geheimnis – eine neue Kurzhaarfrisur –
lieber noch etwas für sich. In der großen Pause schließlich und mit
Kristina an ihrer Seite schafft es Tanja doch noch, ihre Angst zu
überwinden, und nimmt ihren Helm ab. „Mir doch egal was die denken. Sind
doch meine Haare.“ Und so viel Mut wird schließlich auch von ihren
Mitschüler*innen anerkannt, denn Tanjas neue Frisur ist nicht nur
supercool, sondern auch total mutig.
Eschs reduzierte Filzstiftzeichnungen passen ebenso gut
zu der Grundschulatmosphäre wie ihr unaufgeregter Erzählstil. Am
wichtigsten sind in ihren Zeichnungen die Mimik und die Körpersprache
der Figuren, die sehr einfühlsam ihre Gefühlswelt wiederspiegeln. Dabei
ist es ein großes Glück, dass Esch nicht beschönigt oder moralisiert,
sondern sehr genau zeigt, dass jede*r erst einmal Angst hat, bevor er
oder sie mutig sein kann. supercool bringt Kindern die
Erfahrungen näher, für sich selbst einzustehen und sich nicht
kleinkriegen zu lassen. Denn auch wenn es wohl nie stimmt, dass es einem
egal ist, was die anderen denken, so ist doch am wichtigsten, welches
Bild wir selbst von uns haben.
Der gleichgültige Ozean, wie mit dem Rasiermesser
glattgezogen, die steinkalte Ewigkeit des Universums darüber. Ein Wohin
gibt es hier nicht. Und was war gleich noch die Bedeutung der Zeit?
„Gekrümmter Raum? Gekrümmte Zeit? Gekrümmter Mensch?“ In ewigem
Gleichtakt versinkt die Sonne und steigt wenig später wieder auf.
Tagein, tagaus. Und in der Zwischenzeit verfault der Mensch.
Es ist 1943, Weltenbrand. Ein amerikanischer Flieger und
ein deutscher U-Bootfahrer hocken zusammen auf einem Schlauchboot
irgendwo im Mittelatlantik. Einer fiel vom Himmel, einer wurde aus dem
Meer gezogen. Mit an Bord des Rettungsbootes: Eine Flasche Whiskey,
Zigaretten und Kaugummis. Für ein paar Tage reicht diese Ration, dann
würde Rettung kommen müssen. Der Amerikaner hat zudem bei seinem Absturz
einen Arm verloren, ist nun septisch und deliriert seinem Ende
entgegen. Dabei erzählt er dem Deutschen aus seinem Leben, von seiner
Liebe, wird zornig, höhnisch und verstummt schließlich endgültig.
„Der Andere“, wie der Deutsche nur genannt wird, treibt
nun alleine auf dem Schlauchboot seinem Schicksal entgegen und ist dabei
seinen weit ausgreifenden Gedanken völlig ausgeliefert.
Mors omnia aequat, heißt es. Der Tod macht alles gleich.
Das ist richtig, denkt man sich, wenn man Jens Rehns Debütroman liest,
der 1954 erstmals erschien und gerade von Schöffling neu aufgelegt
wurde. Auch schon die Aussicht auf den baldigen Tod schleift alle
Unterschiede ab. Freund und Feind, Krieg und Frieden – was sind das
schon für Kategorien, wenn man auf die letzten Dinge zutreibt? Was ist
Besitz und Geld? Was für einen Sinn hat noch abstrakte Philosophie?
„Klein-Ließchen-Müller-Gedanken“, sagte er wieder laut.
„Die Auslassungen der Philosophen aller Zeiten sind nichts anderes!“ Er
sprach immer lauter. „Die umschreiben es nur anders und denken
konsequenter darüber nach und schriftstellern mit vielen Fremdworten
das, was sie auch nicht wissen. Homo singularis vis-à-vis der Größe X.
Na also. Es ist immer dasselbe. Immer. Unendlich wiederholt. Im Grunde
ist alles dasselbe.“
Nichts in Sicht ist ein Roman, der dem Leser in
die Knochen fährt: Was Rehn hier auf wenigen Seiten mit Hilfe eines
minimalistischen Settings beschreibt, ist nichts weniger als das
langsame Sterben eines Menschen. Es ist eine lange, meisterhaft
arrangierte Folge von hochtrabenden Gedanken, Abschweifungen in die
Vergangenheit, Verhöhnungen und Verzagtheiten, die mit der stummen
Gleichgültigkeit des Ozeans kontrastiert.
Und damit schafft Rehn ein gestochen scharfes Bild für
das große Dilemma der Menschheit: Schlussendlich, nach allen Erklärungs-
und Konstruktionsversuchen, ist der Mensch doch nur ausgeliefert. Der
Ozean, die Natur, das All schweigen. Immer bleibt es bei der harten
Feststellung, die sich, wie ein Motiv durch den gesamten Roman zieht:
Nichts in Sicht.
Kühl, entschlackt und bar jeden stilistischen Ornats ist
die Sprache, in der die endlos kreisenden Gedankengänge des „Anderen“
beschrieben werden, und genial ist die Konstruktion dieses Romans, dem
es gelingt, die Grundfragen des Seins zu stellen – und als bloße Ideen
wieder zu verwerfen. Grandios!
Johannes Fischer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt
Die Geschichte beginnt – wie der Titel sagt – mit einem Sprung. In die Universität von Teheran, in der sich Studenten im Widerstand gegen das zunehmend repressive Chomeini-Regime verschanzt haben, sind Milizen eingedrungen und veranstalten ein unglaubliches Blutbad. Maryam Madjidis Mutter, im sechsten Monat schwanger, versucht, vor ihnen zu fliehen, und am Ende bleibt ihr nur der Sprung aus einem Fenster im zweiten Stock. Dieser Sturz ist für die Erzählerin das Sinnbild ihres Lebens. Die Eltern bleiben ihren kommunistischen Überzeugungen treu. Um geheime Schriften zu befördern, werden die Windeln des Säuglings benutzt, der dafür auch schon mal an andere ausgeliehen wird. Später muss das Kind, von Verwandten und besonders der geliebten Großmutter verwöhnt, seine vielen Spielsachen an die armen Kinder des Viertels verschenken, um zu lernen, sich nicht an Eigentum zu binden. Als die Verhältnisse für die Eltern immer bedrohlicher werden, flieht die Mutter mit ihr aus dem Iran nach Frankreich, wo der Vater bereits lebt.
Was für die Eltern die Hoffnung auf Sicherheit bedeutet, ist für das das Mädchen die völlige Entwurzelung. In der ärmlichen Behausung – 15 Quadratmeter im 6. Stock eines Pariser Mietshauses –, in der neuen Sprache, ohne Freunde, ohne die geliebte Großmutter fühlt sie sich allein und verloren. Sie verweigert sich dem für ihren Geschmack ekligen und faden französischen Essen und der neuen Sprache, bis ihr unbändiger Lebenswille siegt und die äußeren Schwierigkeiten schwinden. Zum Sinnbild für die von der Gesellschaft geforderte Anpassung an die neue Umgebung wird der „Kampf“ zwischen der alten und der neuen Sprache, den die neue gewinnt. Damit drehen sich die Verhältnisse. Das Kind, nun eifrig darum bemüht, so zu sein wie alle anderen, schämt sich der Eltern, denen der Aufstieg in die französische Gesellschaft weder materiell noch ideell gelingt. Sie wird eine gute Schülerin, gewinnt Freunde, beginnt ein Studium. Aber die innere Fremdheit bleibt und begleitet sie für lange Jahre, auch in ihren Beziehungen zu Männern, denen sie virtuos die Rolle der geheimnisvollen Orientalin vorspielt und die sie mit Zitaten der persischen Lyrik verführt. Das Exil ist in ihr und bleibt, sie spürt, wie sie sich selbst fremd wird. Und wie zuvor schon in für sie existentiell wichtigen Situationen imaginiert sie ihre Großmutter, die ihr rät, ihre Masken fallen zu lassen und sich der Wahrheit zu stellen.
So einfach die Geschichte erscheint, so kunstvoll sind die Stilmittel: Was das Buch, für das Maryam Madjidi 2017 den “Prix Goncourt” für den besten Debütroman erhalten hat, zu einer ganz außergewöhnlichen Lektüre macht, ist seine Form und die Sprache. Der Text ist eine Mischung aus Realismus, Poesie und Fantasie, geschrieben in einer lebendigen, nuancenreichen, kunstvoll komponierten Sprache, die dem Thema Flucht, Migration, Exil völlig neue Facetten abgewinnt. Die Autorin bedient sich unterschiedlichster Stilmittel, um Stimmungen und Personen nicht nur zu beschreiben, sondern ihnen einen eigenen Ausdruck zu verleihen. Das Buch ist eine Studie zur Identitätsfindung, die an die Stelle von Land, Ort und Sprache die Poesie setzt, die zur inneren Heimat wird. Das Beste an diesem Roman ist jedoch, dass er sich nicht im Artifiziellen verliert. Du springst, ich falle liest sich packend, humorvoll und zart zugleich und ist zur Lektüre wärmstens zu empfehlen.
Erinnerungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Nicole Henneberg
Erinnerungen hat Gabriele Tergit ihr Buch Etwas Seltenes überhaupt genannt und nicht Autobiographie.
Und in der Tat ist ihr Buch keine chronologische Erzählung ihres
Lebens. Es sind Schilderungen dessen, was ihr Leben am meisten prägte –
und das ist mehr als genug. Aber letztlich führt alles, was sie erzählt,
immer wieder zu den entscheidenden Fragen: „Warum, wieso, weshalb
Hitler?“.
1894 wurde sie unter dem Namen Elise Hirschmann in eine
jüdische Fabrikantenfamilie geboren. Nach einer Ausbildung an der
Sozialen Frauenschule von Alice Salomon holte sie das Abitur nach und
studierte Geschichte, Soziologie und Philosophie. Vor und während des
Studiums publizierte sie Artikel in unterschiedlichen Zeitschriften.
Während der Weimarer Republik war Tergit Deutschlands erste
Gerichtsreporterin. Mit wachem Blick nahm sie nicht nur die
kriminalistische Seite der Fälle, wahr, die sie beobachtete, ihr
Augenmerk galt besonders deren sozialem und politischen Hintergrund. Vor
allem dem zuerst schleichenden, dann immer deutlicher zu Tage tretenden
Einfluss der erstarkenden nationalsozialistischen Bewegung und der –
auch schon vor deren Wahlsieg – immer größer werden Willfährigkeit der
Justiz, die das Recht in deren Sinne beugte. Mit Käsebier erobert den Kurfürstendamm hatte sie 1931 großen Erfolg als Romanautorin.
Als Jüdin, die in dem unter den Nazis als linksliberal
verschrieenen “Berliner Tageblatt” schrieb, hatte sie ein sicheres
Gefühl für das, was sich in Deutschland zusammenbraute. Als kurz nach
der Machtergreifung der Nationalsozialisten ein SA-Trupp versuchte, ihre
Wohnung zu stürmen, floh sie am nächsten Tag über die tschechische
Grenze. Sie ging mit Mann und Kind ins Exil, zuerst nach Israel, dann
nach England, wo sie 1982 starb. 1948 reiste sie erstmals wieder nach
Deutschland, weitere Reisen folgten. Die Erfahrungen von politischem
Terror, Rassismus und Verfolgung prägen ihre Erinnerungen, sie sind die
Folie, vor der sie ihr Leben beschreibt. Das gilt nicht nur vor und
während der NS-Zeit, mit wachem Blick sieht sie auch nach Ende des
Krieges, dass es in Deutschland keine „Stunde Null“ gab und
Antisemitismus und rechtes Gedankengut mit dem verlorenen Krieg nicht
verschwunden waren.
Wie vielen Exilanten war es auch ihr nicht möglich, an
ihren früheren Erfolg anzuknüpfen. Erst ab 1977, als sie im Rahmen der
Berliner Festwochen „wiederentdeckt“ wurde, erschienen einzelne ihrer
Werke erneut. Ihre Erinnerungen kamen ein Jahr nach ihrem Tod heraus und
wurden, wie dem informativen Nachwort der Herausgeberin Nicole
Henneberg zu entnehmen ist, vom Verlag vielfach gekürzt und inhaltlich
entstellt.
Etwas Seltenes überhaupt ist ein prall gefülltes
Buch. Eine große Anzahl Portraits von Freunden und Kollegen,
Reiseberichte, Erinnerungen an ihren Mann und den früh verstorbenen
Sohn, Anekdoten, Schilderungen der erlebten Gerichtsverhandlungen und
Berichte aus dem Nachkriegsdeutschland sind atmosphärisch ungeheuer
dicht und temporeich. Ihr flott dahineilender, lebendiger Schreibstil,
manchmal vom Hölzchen aufs Stöckchen kommend, manchmal mit eigenwilligen
Formulierungen und typisch berlinerischer Lakonie, ist – trotz oder
gerade – wegen seiner Leichtigkeit ernsthaft und tiefgründig. Ein
ungemein fesselndes, hellsichtiges, lebendig geschriebenes Buch, das auf
bestürzende Weise zeigt, wie eine zunehmende sprachliche Verrohung in
Gesellschaft und Politik den Weg für ebensolche Taten ebnet. Das ist
zeitgeschichtlich erhellend und stellenweise erschreckend aktuell. Jetzt
sind Gabriele Tergits Erinnerungen ein zweites Mal zu entdecken – es
lohnt sich!
Das Gerücht und der Ruhm werden in der römischen
Mythologie von ein und derselben Göttin verwaltet. Ein geflügeltes Wesen
mit tausenden Augen, Mündern und Ohren, rast sie über das Land,
verbreitet sowohl Wahrheit als auch Lüge unter den Menschen und ist
dabei blind für die Konsequenz. In Vergils Aeneis fällt dieser
gewaltigen Klatschtante göttlichen Ursprungs unter anderem die
karthargische Königin Dido zum Opfer: Der düpierte Nebenbuhler erfährt
von dem Techtelmechtel zwischen ihr und Aeneas, klagt sein Leid dem
Jupiter, der Aeneas eigentlich mit einer ganz anderen Mission als einer
Heirat betraut hatte, und nach einer Intervention des Göttervaters nimmt
das Schicksal der liebeskranken Dido seinen tragischen Lauf.
Dass die Fama, wie diese tratschende Göttin heißt, auch
für den Ruhm zuständig ist, nimmt eigentlich nicht weiter Wunder: Das
gezielt gestreute Gerücht, die perfide ausgetüftelte Schmutzkampagne
haben schon so manchen Machtkampf entschieden, und auch im politischen
Betrieb unserer Zeit scheint das fleißige Verwischen der Grenze zwischen
Fakt und Fiktion wieder Konjunktur zu haben.
Fernando Rovira, politisch ambitionierter Bauunternehmer
und Gründer der aufstrebenden Partei „Pragma“, ist ein Charismatiker:
adrett, sportlich, immer ausgeschlafen und eloquent. Mit sicherer Hand
lenkt er die Geschicke seiner Partei, führt sie von Sieg zu Sieg und
schreitet ihr als politische Lichtgestalt, als Selfmademan, voran. Das
Ziel: Die Provinz Buenos Aires teilen, das Leben für alle verbessern und
anschließend, klar, die Präsidentschaft von Argentinien.
Unnötig zu sagen: Mit schillernden Inszenierungen verhält
es sich wie mit Magneten: Sie üben eine immense Anziehungskraft aus.
Und schon bald geraten auch die beiden Studenten Román Sabaté und sein
Freund Sebastián in den Bann von Roviras Partei und bewerben sich
schließlich um eine Position im Team des großen Mannes.
Doch da geschieht Unerwartetes: Nicht der
hochintelligente Sebastián, der sich mit Leib und Seele dem Programm
Roviras verschrieben hat und vor Tatendrang zu platzen droht, wird
genommen, vielmehr bekommt sein ungleich weniger tatkräftige Freund
Román den Zuschlag für den Posten und steigt auch gleich zum
Privatsekretär und Personaltrainer Roviras auf. Und noch während sich
Román selbst über seinen rasanten Aufstieg in der Partei wundert, wird
er immer weiter in ein Netz aus Lügen, Mythen und grausigen Geheimnissen
verstrickt, das Rovira abseits der Öffentlichkeit knüpft. Der
Hoffnungsschimmer am sich stetig verdüsternden Horizont: Die junge
Journalistin Valentina Sureda, genannt China, die an einem Buch über den
Einfluss des Fluches der Tolosana auf die Politik Fernando Roviras
arbeitet. Jener sagenhafte Fluch besagt, dass kein Gouverneur der
Provinz Buenos Aires je Präsident Argentiniens werden kann. Dabei kommt
sie unliebsamen Wahrheiten auf die Spur und befindet sich bald selbst in
höchster Gefahr.
Welche faktische Kraft können ausgewiesene Mythen
entwickeln? Welche politische Durchschlagskraft hat die gut arrangierte
Story? Und: Ist nicht das wahr, was der Mensch beschließt, als wahr
anzunehmen?
Claudia Piñeiros Politthriller Der Privatsekretär
liest sich wie eine spannende Abhandlung dieser brandaktuellen Fragen.
Einerseits verfolgt der Leser die immer wahnwitziger werdenden
Entwicklungen um Román Sabaté, andererseits schaut er Valentina Sureda
über die Schulter, wie sie Fragment um Fragment für ihr Buch
zusammenträgt und dabei in die Geschichte des Landes und der Provinz
Argentiniens eintaucht. Die Sprache ist, dem Plot und dem Genre
angemessen, klar und präzise, und das Spiel der Autorin mit historisch
verbürgten Fakten und freier Erfindung reflektiert das Thema des Buches
auch auf formaler Ebene.
Wer sich im gerade so glorios anhebenden Sommer spannende
Unterhaltung mit politisch relevanter Thematik genehmigen möchte,
angereichert mit einem halbfiktionalen Exkurs in die jüngere
argentinische Geschichte, ist mit diesem Buch hervorragend bedient.
Johannes Fischer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt