Buchempfehlungen

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Buchempfehlung

Die Leben des Jacob

Christophe Boltanski

Hanser Verlag, 2023

Ein Zufallsfund vom Flohmarkt spielt dem Autor ein Album in die Hände, das ihn absolut fasziniert: Ein Jahr lang, von 1973-1974, hat sich ein gewisser Jacob B’chiri täglich in diversen Fotoautomaten fotografiert. Und nicht nur fotografiert, er hat sich inszeniert, den Gesichtsausdruck verändert, herumgeclownt, sich mit Sonnenbrillen und Hüten verkleidet, und all diese Automatenstreifen in ein Album geklebt. Er hat Ortsangaben in seinem Album hinterlassen, Adressen in ganz Europa, und die Aufforderung, sich im Falle eines Unfalls an das israelische Konsulat in Paris zu wenden. Mit diesem Album beginnt für den Autor eine endlos scheinende Spurensuche, deren allmähliche Erfolge abhängig von Zufällen sind und aus denen sich nach und nach das Bild eines Lebens ergibt, dessen Stationen vom tunesischen Djerba über Israel bis Paris reichen, geprägt von den Traumata des Verlusts der Heimat und der Erlebnisse im Sechstagekrieg, von gescheiterten künstlerischen Plänen, einer gescheiterten Ehe und schließlich der Tätigkeit, die ihn offensichtlich erfüllt hatte: Beerdigungsbeauftragter am jüdischen Konsulat, mit anderen Worten: Begleiter der Toten und Überwacher des Begräbnisrituals.

Jacob B’chiri ist bereits tot, als Boltansky seine Spur aufnimmt. Er beginnt notwendig spekulativ und setzt dann aus den Berichten der Kinder, der noch lebenden Verwandten, der Arbeitskollegen und Freunde das Bild eines Lebens zusammen, das aus vielerlei Gründen nur im Plural zu verstehen ist und in dem sich die Ereignisse des 20. Jahrhunderts spiegeln. So wie die Recherche ähneln auch die kurzen Texte, in denen die Geschichte erzählt wird, einem Puzzle, zusammengesetzt aus Spekulationen, Fakten, Begegnungen, Berichten. Die Leben des Jacob ist ein Buch, das betroffen macht und eine große Traurigkeit ausstrahlt, nicht zuletzt durch die sehr persönliche Annäherungsweise des Autors an einen Menschen, in dessen Leben die Geschichte einen tiefen, unheilbaren Riss hinterlassen hat.

Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.

Buchempfehlungen SPANIEN

Wir bedanken uns auf diesem Wege noch einmal herzlich bei Michi Strausfeld und Ruthard Stäblein für die wundervolle Veranstaltung letzte Woche!

Aufgrund zahlreicher Nachfragen hier die Buchemfpehlungen unserer Gäste zum Thema Spanien, dem diesjährigen Gastland der Frankfurter Buchmesse.

Buchempfehlung

Hanna Engelmeier

Trost

Matthes & Seitz, 2021, € 20,-

In vier Texten widmet sich die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Hanna Engelmeier dem Thema Trost. Die hier versammelten Essays führen deutlich die Stärke dieser wieder beliebter werdenden Textform vor: Engelmeier verbindet kunstvoll und unterhaltsam textgenaue Betrachtungen, etwa von David Foster Wallace, mit assoziativen Sprüngen und herausfordernden Parallelisierungen. Eines der eindrücklichsten Beispiele dafür ist der letzte Text, der Adornos Kulturpessimismus und die notwendige Trostlosigkeit (im Wortsinn) nach Ausschwitz mit historischen, biographischen (Adorno) und persönlichen Betrachtungen zum Speiseeis kombiniert. „Kritische Theorie ohne Hörnchen ist in allererster Linie: angebracht. Mit einem Hörnchen in der Hand, das man nicht weglegen oder aufessen möchte, schreibt und kämpft es sich schlecht“, so schreibt Engelmeier selbst ihren Text kommentierend und davor zurückschreckend wie unakademisch und unterhaltsam zuvor das Sujet der privaten Kosenamen der Adornos behandelt wurde. Man muss sich hingegen weder für diese noch für Adornos Diabetes interessieren – wenn man es aber tut, erfährt man allerdings einiges –, um Engelmeiers Stil zu genießen. Aus einem breiten Wissens- und Kenntnisschatz schöpfend, der Pop- und Hochkultur gemeinsam umfasst, entsteht das Bild eines jungen Intellektualismus, der das bürgerliche Privileg einer geisteswissenschaftlichen Ausbildung nicht verleugnet: „Alles, was ich erzählen kann, handelt davon, dass es für all das hier ja doch gereicht hat, für all das, was an Studium und Zeit für Lektüre in diesem Text steht und steckt.“ Engelmeiers starke Aufmerksamkeit für die Persönlichkeit eines Textes, für dessen Eigensinn und Stil, bricht den Universalitätsanspruch des Bildungsbürgerlichen ebenso kritisch auf wie die Komposition ihrer Sujets. Gibt es also doch einen Weg aus dem Elfenbeinturm?

Man muss nicht allen Betrachtungen zustimmen, um den Spaß am genauen Denken und gezieltem Ausbrechen mit der Autorin teilen zu können. Der Trost ist dabei für mich weniger ein Gefühl, das der Text vermittelt, als ein Textgegenstand, an dem sich große wie kleine Wellen brechen: das Murmeln eines Gebets kann wohl tröstlich sein, aber trösten können auch kleine bunte Dinos auf einem Pflaster. Die Setzung des Trostes als gemeinsames Thema betont, dass dem Persönlichen und Affektiven im semi-theoretischen Schreiben des Essays ein zentraler Platz zugeordnet werden kann, ohne dass sie von selbstkasteiender Autofiktion und dem Willen zur ratgebenden Selbstheilung angetrieben werden muss.

Theresa Mayer, Frankfurt a. M.

Buchempfehlung

Esther Kinsky

Rombo

Suhrkamp 2022, € 24.-

Es begann mit den Tieren. Erst danach drang tief aus der Erde jenes Geräusch hervor, das drohend wie ein Bergrutsch klang. Doch begonnen hat alles mit den Tieren.

Der 6. Mai 1976 war ein ausgesprochen heißer Tag im norditalienischen Friaul. Die Sonne brannte auf das Tal hinab, das Gras stand hoch und trocken auf den Wiesen, während der Gipfel des Monte Canin, ein steilaufragendes Kalksteinmassiv in den Julischen Alpen, noch immer von Schnee bedeckt war. Am Morgen war auf der einzigen Zufahrtsstraße zum Dorf eine überfahrene Carbon entdeckt worden, eine schwarze Schlangenart, die in der Gegend heimisch ist – und später wollen viele ein schlechtes Omen darin gesehen haben.

Alle Hunde im Dorf verhielten sich den Tag über unruhig und bellten, selbst die Ziegen gaben sich störrisch, und die Vögel schrien, als läge eine seltsame Vorahnung in der Luft. Allein die Mauersegler, die gewöhnlich zum Abend hin auftauchten, waren mit einem Mal verschwunden.

Mit der Dämmerung zog überraschend Wind auf, empfindlich kalter Wind, der von den Bergen blies. Und da, im rasch einsetzenden Dunkel, begann es, dieses Geräusch, il rombo, jenes tiefe, rollende Dröhnen, das aus dem Erdreich drang und allmählich zu einem derartigen Lärmen anschwoll, dass man, wie manche sich später erinnern würden, meinen konnte, der Berg stürze herab.

Kurz darauf tat sich die Erde auf. Ein Beben riss einen Spalt durch die Straße, ließ Mauern und Firste nachgeben, Menschen stürzten aus ihren Häusern, schrien Hilferufe oder die Namen ihrer Lieben in die Nacht hinaus, und erst Tage und Wochen später, nachdem zahlreiche Opfer zu beklagen waren, sollte sich die Erde wieder beruhigen. Und auch die Mauersegler kehrten zurück.

In ihrem neuen Roman Rombo verbindet die Autorin Esther Kinsky die Darstellung einzigartiger Naturgewalten mit Landschaftsbeschreibungen sowie den persönlichen Erinnerungen einer Handvoll Menschen, die sich auf teils völlig unterschiedliche Weise an die Geschehnisse von damals erinnern – oder diese zu verdrängen suchen, da, wie sich eine Person ausdrückt, das Vergessen-Können zuweilen erstrebenswerter sei.

Keines der drei Themen steht dabei für sich, alles ist auf gelungene Weise miteinander verflochten und die Wahl der Sprache, die Esther Kinsky für ihre Zusammenschau ausgewählt hat, mutet auf den ersten Blick nüchtern und beinahe ausdruckslos an, vermittelt jedoch genau den richtigen Klang und liest sich in einer einzigartigen Kurzweil. Man muss sich daher hüten, auch wenn es schwer fällt, nicht zu schnell zu lesen, denn bereits nach wenigen Kapiteln findet man sich als Leserin und Leser gefangen in dieser überwältigenden, archaisch anmutenden Welt, die die Autorin heraufbeschwört.

Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln