Buchempfehlung

Esther Kinsky

Rombo

Suhrkamp 2022, € 24.-

Es begann mit den Tieren. Erst danach drang tief aus der Erde jenes Geräusch hervor, das drohend wie ein Bergrutsch klang. Doch begonnen hat alles mit den Tieren.

Der 6. Mai 1976 war ein ausgesprochen heißer Tag im norditalienischen Friaul. Die Sonne brannte auf das Tal hinab, das Gras stand hoch und trocken auf den Wiesen, während der Gipfel des Monte Canin, ein steilaufragendes Kalksteinmassiv in den Julischen Alpen, noch immer von Schnee bedeckt war. Am Morgen war auf der einzigen Zufahrtsstraße zum Dorf eine überfahrene Carbon entdeckt worden, eine schwarze Schlangenart, die in der Gegend heimisch ist – und später wollen viele ein schlechtes Omen darin gesehen haben.

Alle Hunde im Dorf verhielten sich den Tag über unruhig und bellten, selbst die Ziegen gaben sich störrisch, und die Vögel schrien, als läge eine seltsame Vorahnung in der Luft. Allein die Mauersegler, die gewöhnlich zum Abend hin auftauchten, waren mit einem Mal verschwunden.

Mit der Dämmerung zog überraschend Wind auf, empfindlich kalter Wind, der von den Bergen blies. Und da, im rasch einsetzenden Dunkel, begann es, dieses Geräusch, il rombo, jenes tiefe, rollende Dröhnen, das aus dem Erdreich drang und allmählich zu einem derartigen Lärmen anschwoll, dass man, wie manche sich später erinnern würden, meinen konnte, der Berg stürze herab.

Kurz darauf tat sich die Erde auf. Ein Beben riss einen Spalt durch die Straße, ließ Mauern und Firste nachgeben, Menschen stürzten aus ihren Häusern, schrien Hilferufe oder die Namen ihrer Lieben in die Nacht hinaus, und erst Tage und Wochen später, nachdem zahlreiche Opfer zu beklagen waren, sollte sich die Erde wieder beruhigen. Und auch die Mauersegler kehrten zurück.

In ihrem neuen Roman Rombo verbindet die Autorin Esther Kinsky die Darstellung einzigartiger Naturgewalten mit Landschaftsbeschreibungen sowie den persönlichen Erinnerungen einer Handvoll Menschen, die sich auf teils völlig unterschiedliche Weise an die Geschehnisse von damals erinnern – oder diese zu verdrängen suchen, da, wie sich eine Person ausdrückt, das Vergessen-Können zuweilen erstrebenswerter sei.

Keines der drei Themen steht dabei für sich, alles ist auf gelungene Weise miteinander verflochten und die Wahl der Sprache, die Esther Kinsky für ihre Zusammenschau ausgewählt hat, mutet auf den ersten Blick nüchtern und beinahe ausdruckslos an, vermittelt jedoch genau den richtigen Klang und liest sich in einer einzigartigen Kurzweil. Man muss sich daher hüten, auch wenn es schwer fällt, nicht zu schnell zu lesen, denn bereits nach wenigen Kapiteln findet man sich als Leserin und Leser gefangen in dieser überwältigenden, archaisch anmutenden Welt, die die Autorin heraufbeschwört.

Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln