Wir verlieren einen großen Lyriker, einen Freund und ein Gründungsmitglied der Autorenbuchhandlung. Er ist uns bis zuletzt verbunden geblieben und bleibt immer ein Teil der Autorenbuchhandlung.
post mortem es wär nur ein moment daß alle die dich kannten in einem sonnenschein stünden der sofort vergeht für die ewigkeit zu spät: nicht ausgekehrt nicht umgekehrt (da doch der dünne schatten nie vergeht der einmal aus dem herz gekehrt) franz mon
Es begann mit den Tieren. Erst danach drang tief aus der
Erde jenes Geräusch hervor, das drohend wie ein Bergrutsch klang. Doch
begonnen hat alles mit den Tieren.
Der 6. Mai 1976 war ein ausgesprochen heißer Tag im
norditalienischen Friaul. Die Sonne brannte auf das Tal hinab, das Gras
stand hoch und trocken auf den Wiesen, während der Gipfel des Monte
Canin, ein steilaufragendes Kalksteinmassiv in den Julischen Alpen, noch
immer von Schnee bedeckt war. Am Morgen war auf der einzigen
Zufahrtsstraße zum Dorf eine überfahrene Carbon entdeckt worden, eine
schwarze Schlangenart, die in der Gegend heimisch ist – und später
wollen viele ein schlechtes Omen darin gesehen haben.
Alle Hunde im Dorf verhielten sich den Tag über unruhig
und bellten, selbst die Ziegen gaben sich störrisch, und die Vögel
schrien, als läge eine seltsame Vorahnung in der Luft. Allein die
Mauersegler, die gewöhnlich zum Abend hin auftauchten, waren mit einem
Mal verschwunden.
Mit der Dämmerung zog überraschend Wind auf, empfindlich
kalter Wind, der von den Bergen blies. Und da, im rasch einsetzenden
Dunkel, begann es, dieses Geräusch, il rombo, jenes tiefe,
rollende Dröhnen, das aus dem Erdreich drang und allmählich zu einem
derartigen Lärmen anschwoll, dass man, wie manche sich später erinnern
würden, meinen konnte, der Berg stürze herab.
Kurz darauf tat sich die Erde auf. Ein Beben riss einen
Spalt durch die Straße, ließ Mauern und Firste nachgeben, Menschen
stürzten aus ihren Häusern, schrien Hilferufe oder die Namen ihrer
Lieben in die Nacht hinaus, und erst Tage und Wochen später, nachdem
zahlreiche Opfer zu beklagen waren, sollte sich die Erde wieder
beruhigen. Und auch die Mauersegler kehrten zurück.
In ihrem neuen Roman Rombo verbindet die Autorin
Esther Kinsky die Darstellung einzigartiger Naturgewalten mit
Landschaftsbeschreibungen sowie den persönlichen Erinnerungen einer
Handvoll Menschen, die sich auf teils völlig unterschiedliche Weise an
die Geschehnisse von damals erinnern – oder diese zu verdrängen suchen,
da, wie sich eine Person ausdrückt, das Vergessen-Können zuweilen
erstrebenswerter sei.
Keines der drei Themen steht dabei für sich, alles ist
auf gelungene Weise miteinander verflochten und die Wahl der Sprache,
die Esther Kinsky für ihre Zusammenschau ausgewählt hat, mutet auf den
ersten Blick nüchtern und beinahe ausdruckslos an, vermittelt jedoch
genau den richtigen Klang und liest sich in einer einzigartigen
Kurzweil. Man muss sich daher hüten, auch wenn es schwer fällt, nicht zu
schnell zu lesen, denn bereits nach wenigen Kapiteln findet man sich
als Leserin und Leser gefangen in dieser überwältigenden, archaisch
anmutenden Welt, die die Autorin heraufbeschwört.
Droschl Verlag 23 € Ausgezeichnet mit dem Leipziger Buchpreis 2022
Im ersten Teil des Romans wird Tomer Gardi von dem
Intendanten eines großen deutschen Theaters und dessen ebenso deutschen
Schäferhund durch einen Wald gehetzt. Eigentlich hatten beide zusammen
einen Tag auf der Yacht verbringen wollen: ein Missverständnis, ein
Wortspiel. Die Yacht verwandelt sich in eine Jagd, der geladene Gast
Tomer wird wie selbstverständlich vom Freund zum Beutetier. Das
antisemitische Mordvorhaben entpuppt sich als die wahre Bedeutung des
Geschehens, und das Allegorische, Homonyme und Symbolische gewinnt die
Überhand. Das gewährt Gardi (als Autor) die Möglichkeit, alle Register
seines überdrehenden, halsbrecherischen Humors zu ziehen. Was folgt, ist
eine beschwerliche und vergebliche Reise zurück in das, was man
Normalität nennen könnte. Märchen- und Sagenfiguren des deutschen
Mythologie-Fundus kreuzen die Geschichte, die in einem quasi-biblischen
Arche-Szenario gipfelt, in dem jede Figur, auf ihren symbolischen Gehalt
reduziert, der Erlösung entgegenschippern soll. Die Figur Tomer Gardi
verweigert die Zuschreibung des Ewigen Juden, seine Geschichte ist die
des hart erlernten Misstrauens gegen jede Art von Zivilisation und
Mitmenschlichkeit als Selbstverständlichkeit. Eine Abenteuer- und
Schelmengeschichte, in der sich hinter jedem Witz Abgründe auftun.
Geschrieben ist dieser Teil des Romas in dem idiomatischen Broken
German, für das der israelisch-deutsche Autor bereits bekannt ist.
Das ändert sich in der zweiten Hälfte des Romans, der
ursprünglich auf Hebräisch verfasst und von Anne Birkenhauer ins
Deutsche übersetzt wurde. Hier beginnt eine neue Geschichte – oder ist
es die gleiche Geschichte in neuem Gewand? Auch bei der biographischen
Darstellung des Lebens des indonesischen Malers Raden Saleh Syarif
Bustaman, der als Kind eines Adligen von den niederländischen
Kolonialherren aus machtpolitischen Gründen adoptiert und ausgebildet
wird, begegnen wir einer Engführung von Kultivierung und Aneignung, von
Misstrauen und Selbstbehauptung. Wie Tomer Gardi (die Figur und der
Autor) ist auch Raden Saleh ein Künstler. Er erlernt von seinen
europäischen Lehrern den flämischen Realismus der großen
Schifffahrtsszenerien. Der in diesem Teil realistisch gehaltene
Prosastil Gardis reflektiert das. Mit der Zeit beginnt Saleh, diese
Mittel gegen die Deutungshoheit der Kolonialisten zu wenden und damit
mit der Glorifizierung der Seemacht Niederlande, dem politischen
Untergrund dieser goldenen Kunstzeit, zu brechen.
Darin eine Runde Sache zu erkennen, liegt jedoch alles andere als auf der Hand: Am Ende hat man das Gefühl, zwei völlig unterschiedliche Romane gelesen zu haben. Das gemeinsame Thema, die Zwiespältigkeit deutscher und europäischer Kultur in der ihr inhärenten Bedrohung, Annihilation und Aneignung des Anderen, wird erst in der Rückschau deutlich, und das gehört zu den herausragenden Langzeitwirkungen des Romans. Zunächst liest man diesen als einen halb surrealen, halb realistischen Unterhaltungsroman, dem weder sein poetischer Anspruch noch seine hochpolitischen Themen die Leichtigkeit nehmen. Wer den Erstling des Autors, Broken Germa, noch nicht gelesen hat, sollte das unbedingt nachholen, aber es könnte mit Recht behauptet werden, dass es sich bei diesem neuen Roman um das bisher beste Werk des Autors handelt. Völlig zu Recht wurde er deshalb in diesem Jahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse (Belletristik) ausgezeichnet.
„der Krieg bringt seine eigenen Wörter hervor. Sie klingen scharf und kalt […]. Du legst fremde Wörter an, rollst sie auf der Zunge hin und her, spürst den metallischen Nachgeschmack. […] Plötzlich finden sich unter deinen Bekannten Einberufene, Vewundete und Gefangene. Du gewöhnst dich daran, dass die Sprache um Wörter dieses schwarzen Vokabulars erweitert wird, um Dutzende neuer Wörter, von denen jedes einzelne nichts anderes als Tod bedeutet.“
„Die innenpolitische Ordnung eines Staates und sein außenpolitisches Verhalten sind untrennbar miteinander verbunden. Das wissen wir seit Immanuel Kants Traktat Zum ewigen Frieden. Darauf gründet eine Interpretation der internationalen Beziehungen. Sie lautet: Je autoritärer die Innenpolitik, desto millitarisierter die Außenpolitk.“
Den Menschen und AutorInnen der Ukraine ist dieser Post gewidmet, Romane und Sachbücher sollen Orientierung geben, darunter neue und alte Besprechungen.
Herkunft und Familie – ewig währende Themen, die in immer
neuen Konstellationen und Variationen den Hintergrund, wenn nicht das
Zentrum der meisten literarischen Werke der schönen Literatur bilden. So
auch in Serge, dem neuen Roman der erfolgreichen französischen
Theater- und Romanautorin Yasmina Reza. Hier ist es die in Paris
lebende jüdische Familie Popper. Im Mittelpunkt stehen die drei
Geschwister Serge, Jean und Nana, alle bereits in der zweiten
Lebenshälfte: Serge, der Älteste, großmäulig, ein ewiger Schlawiner,
der, zumeist glücklos, Zeit und Geld in windige Geschäfte investiert;
Jean, ein Leben lang nichts weiter als das mittlere Kind, ist bis zur
Unkenntlichkeit der eigenen Meinung auf Ausgleich bedacht. Und Nana, die
jüngste, einst das hübsche Prinzesschen, hat dann leider keinen
Zahnarzt geheiratet, sondern den aus dem Arbeitermilieu stammenden Ramos
Ochoa, dem die Brüder unterstellen, sich Arbeitslosenhilfe zu
ergaunern. Bis auf kurze sentimentale Anwandlungen sind die drei
einander in hingebungsvollem, von Serge immer wieder entfachtem
Dauergezänk verbunden.
Der Text beginnt mit dem Tod der alten Mutter, die zum
Entsetzen aller darauf bestanden hat, sich einäschern zu lassen. Als die
Familie nach einem trübseligen Begräbnis zusammen im Café sitzt,
verkündet Joséphine, Serges Tochter, dass sie nach Auschwitz fahren
will, den Ort, nach dem niemand in der Familie die Mutter, deren
Angehörige dort ermordet wurden, jemals gefragt hat.
Im darauf folgenden April machen sich Serge, Jean, Nana
und Joséphine auf den Weg nach Polen. Bei einem für April unnatürlich
heißen Wetter schleppen sie sich durch diesen von Touristenmassen
überschwemmten Schreckensort, an dem auf Schritt und Tritt mit dem
Appell, nie zu vergessen, das Erinnern beschworen wird. Das Erinnern
misslingt, weil keiner der drei sich auf diesen Ort einlassen kann oder
will. Serge lässt räsonierend niemanden im Zweifel, dass er eigentlich
woanders sein will. Nana sucht verwirrt hektisch in einer Datenbank nach
Spuren ihrer ungarischen Vorfahren und Jean bringt auf den Punkt, warum
ihm das Erinnern nicht möglich ist: “Vergesst nicht! Aber
warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein
Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt
folgenlos.”
Dieser Roman ist eine Farce, die Yasmina Reza in einer
fragilen Balance zwischen Komik und Bösartigkeit hält. Sie verwendet
nicht viel Zeit darauf, Verhaltensweisen psychologisch oder historisch
herzuleiten. Alles erschließt sich bei ihr durch präzise Schilderungen
und bissige Dialoge – sie ist nicht umsonst eine erfolgreiche
Dramatikerin. Manches Lachen bleibt im Halse stecken. Da sich bei den
Personen Wut und Trauer zumeist in Selbstmitleid äußern, hält sich auch
die Empathie mit ihnen in Grenzen. All das zu lesen, wäre schwer
auszuhalten, wäre da nicht zugleich der unterirdische Strom von
Hilflosigkeit, Verletztheit, Einsamkeit und – man glaubt es bei dem
ständigen Redefluss kaum – Sprachlosigkeit. Denn die überbordende, immer
um sich selbst kreisende Kakophonie der Geschwister hat nur eine
Funktion: Gefühle zu verdrängen und das Versteckte, nicht Sagbare, das
die Familie mit sich herumschleppt, zu überdecken. Erst ganz am Schluss
kehrt angesichts eines realen Unglücks doch so etwas wie Frieden
zwischen den Geschwistern ein – ganz ohne Kitsch und Sentimentalität.
Aus dem Englischen von Bernd Stratthaus. Ab 3 Jahren
Im Frühjahr und im Herbst treffen in den Buchhandlungen
fast täglich neue Bücher ein, auch Kinderbücher. Nicht immer bleibt man
verzückt stehen, wenn man ein neues Bilderbuch entdeckt. Bei Elefant wo bist Du? kann man allerdings nicht anders: man MUSS
sich diese Geschichte um ein ganz besonderes Versteckspiel schmunzelnd
von Anfang bis zum Ende ansehen – und dann gleich noch einmal von vorn!
Ein kleiner Junge im gelben Hemd und sein Freund, ein
wirklich großer Elefant, wollen sich miteinander die Zeit vertreiben.
„Möchtest Du Verstecken spielen?“ fragt der Elefant den kleinen Jungen.
“Aber ich warne dich”, fügt der Elefant hinzu, “ich bin WIRKLICH gut darin!“ Begeistert hält sich der Junge die Augen zu und beginnt, bis 10 zu zählen. Und es ist ganz unglaublich, WIE
gut sich der Elefant versteckt! Ob als Lampenschirm, nur knapp
verborgen unter der Bettdecke, während der Junge ihn unter dem Bett
vermutet und natürlich nicht findet, oder als Halter des Fernsehers, auf
dem der Vater sich gerade ein Fußballspiel ansieht: Für seinen kleinen
Freund scheint der riesige Elefant unsichtbar geworden zu sein.
Ratlos und fröhlich aufgeregt sucht und sucht der kleine
Junge immer weiter, und bis zum Schluss ist nicht wirklich klar, ob hier
einer dem anderen vielleicht einen Gefallen tut oder ob man manchmal
wirklich den Elefanten vor lauter Bäumen nicht sieht?!
In warmen Farben und mit grobem, aber aussagekräftigem
Strich wird hier eine herrliche Variante vom beliebten Versteckspiel
erzählt. Und als am Ende die Schildkröte zu den Freunden stößt und
augenzwinkernd ein neues Spiel vorschlägt, ist vermutlich schon allen
Beteiligten klar, was jetzt kommt: Fangen spielen natürlich. Und die
Schildkröte macht sich bereit und warnt ihre Mitspieler schon mal vor:
„Ich bin ZIEMLICH gut!“ Für Kleine ab 3 Jahren und ihre VorleserInnen eine wirklich hinreißende Bilderbuchentdeckung!
Wie kommt es eigentlich, dass Arbeitslose in unserer
Gesellschaft keinen Platz zu haben scheinen? Anna Mayr geht dieser
überaus aktuellen Frage nach, indem sie einerseits kulturgeschichtlich
bis zu den Ursprüngen der Verachtung für Arbeitslose vordringt und
andererseits in ihrer eigenen Geschichte als Kind von
Hartz-IV-Empfänger:innen das seltsame und scheinbar undurchdringliche
Gemisch aus moralischer Ablehnung und sozialer Isolierung erforscht, mit
denen Arbeitslosen bis heute in Deutschland begegnet wird. Mehr noch:
Ihnen wird die Möglichkeit abgesprochen, eine Identität auszubilden und
ihrem Leben Orientierung zu geben. Das Ergebnis von Mayrs Recherche ist
das überzeugende Plädoyer für ein Umdenken.
Mayrs zentrale These findet sich bereits im Untertitel:
Arbeitslose werden in unserer Gesellschaft als faule, ungebildete und
schlampige Parasiten verachtet. Sie haben keine Funktion in der
Gesellschaft, und ihnen wird damit jedes Recht auf Teilhabe
abgesprochen. Arbeitslosen wird nachgesagt, sie könnten nicht mit Geld
umgehen – statt ihr weniges Geld sinnvoll und nachhaltig einzusetzen,
kauften sie davon Alkohol, Drogen und ungesundes Essen – würden zu viel
fernsehen und seien insgesamt an nichts als ihrem eigenen Wohlbefinden
interessiert. Letztendlich, so das zentrale Stereotyp, das Mayr
beschreibt, seien sie selbst schuld an ihrem Schicksal. Sie könnten ja
schließlich etwas Vernünftiges lernen und ihr Geld selbst verdienen. Das
mag in Einzelfällen stimmen, strukturell jedoch ist die Sache, wie
Mayr, auf Marx zurückgreifend, überzeugend nachweist, anders: Es sind
nicht die Arbeitslosen an ihrer Arbeitslosigkeit schuld, es ist die
kapitalistische Gesellschaft, die systematische Arbeitslosigkeit
erzeugt, damit ihr bei Bedarf stets genug billige Arbeitskräfte zur
Verfügung stehen, die jeden Job um jeden Preis machen. Erst durch die
Existenz von Arbeitslosen kann es so billige Arbeitskräfte und folglich
so billige Produkte und Dienstleistungen geben. Und dazu kommt eine
nicht weniger wichtige Funktion: Erst Arbeitslose bestätigen den Sinn
der Arbeit und dienen so als wichtige Abgrenzungskategorie, sind also
auch aus dieser Perspektive eine zentrale Ressource für die
kapitalistische Gesellschaft. Dabei wird ihnen durch perfide Mechanismen
der Konkurrenzerzeugung die Möglichkeit genommen, sich zu
solidarisieren.
Immer wieder lässt Anna Mayr den autobiografischen
Hintergrund ihres Interesses an Arbeitslosigkeit einfließen: Sie wuchs
auf als Tochter zweier Langzeitarbeitslosen und erlebte als Kind die
Scham und das Gefühl, kein Recht auf Teilhabe zu haben, am eigenen Leib.
Sie betont immer wieder, es sei eine Verkettung glücklicher Zufälle
gewesen, die ihr ein Studium und den Eintritt ins Berufsleben ermöglicht
hätten (heute ist Mayr Redakteurin im Politik-Ressort der ZEIT);
das System allein hätte dazu geführt, sie ebenfalls in die Spirale aus
Arbeitslosigkeit und Armut fallen zu lassen. Gegen Armut, so Mayrs
Forderung aufgrund dieser Erfahrung, hilft letztlich nur Geld.
Der größte Verdienst von Mayr ist die Dekonstruktion der
Vorstellung, nur Berufsarbeit könne dem Leben eines Menschen Sinn geben –
und sei sie auch noch so sinnlos. Historisch zeichnet Mayr die
Entwicklung dieser Sakralisierung der Arbeit nach; sie macht Stationen
bei Walter Benjamin, Benjamin Franklin, Martin Luther, den Schweizer
Reformatoren Zwingli und Calvin und findet dann zurück in die
Spätmoderne. Denn diese Vorstellung prägt bis heute unsere Gesellschaft
und hat verheerende Folgen nicht nur für die, die aus der
Leistungsgesellschaft „herausfallen“, sondern für das gesamte
Sozialsystem. Mayrs Essay ist damit ein notwendiger und wichtiger
Kommentar zu aktuellen Überlegungen für ein anderes Arbeitsverständnis.
Wer Hiromi Itos Dornauszieher liest, taucht in Welten
ein, die von prosaischer Natur und gleichzeitig von höchster Poesie
sind. Der Dornauszieher ist ein schillerndes, zwischen den Kulturen
schwebendes Wunderwerk.
Im Zentrum steht die Ich-Erzählerin Ito, Dichterin wie
ihre Autorin, Mutter dreier Kinder wie ihre Autorin, schließlich Ehefrau
und Tochter, die zwischen Japan (hier leben ihre Eltern) und Amerika
(hier leben Ehemann und Töchter) pendelt. Ito leidet an dieser
Dauerverfügbarkeit (der jüngst auch Franziska Schutzbach mit Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit
ein hochgelobtes Sachbuch gewidmet hat), aber Ito zu lesen macht
eindeutig bessere Laune. Sie beschreibt dieses Leben zwischen
pubertierenden Kindern, kränkelndem Ehemann und dementen Eltern mit
unendlich viel Humor und mit unerschöpflicher Liebe zum Leben. Sie
vereint dabei so viele Genres und verweist dabei auf so viel Literatur,
dass man das Buch mühelos mehrmals lesen, aber eben auch einfach nur
genießen kann.
Das ist vor allem deshalb möglich, weil Hiromi Ito eine
Suchende bleibt, keine ihrer Kulturen gänzlich zu begreifen scheint,
keine wie ein zerschlissenes Kleidungsstück ablegt, sondern pflegt. Etwa
wenn sie zum Jizo, dem Dornauszieher, einem buddhistischen Schutzgott
in Tokio, pilgert oder das magische Denken Japans liebevoll in ihr Leben
integriert und in Beschreibungen münden lässt, die so surreal wie
komisch und überhaupt voll bösem Witz sind.
So werden dem ermüdenden Alltag literarische, poetische,
spirituelle Welten an die Seite gestellt und schon in den
Kapitelüberschriften hart aneinandergeschnitten: „Wie, nach Überqueren
des Ozeans, Pfirsiche geschleudert und Hügel überwunden werden“; „Ohr,
höre! Die Einsamkeit des Plätscherns in der Urinflasche.“
Der Zauber, der von diesem Roman ausgeht, ist schwer zu
beschreiben, denn er ist zugleich traumhaftes Märchen und bitterböser
Bericht über unser Leben im 21. Jahrhundert. Hiromi Itos Buch, so
schreibt Saito Minako, eine der prominentesten Literaturkritikerinnen
Japans, „ob Gedicht, Essay, Roman oder Zwiegespräch, hat eine Wirkung,
als läsen wir den Brief einer Freundin aus der Ferne“, und die
Schriftstellerkollegin Kawakami Hiromi ergänzt: „All das Persönliche,
das in diesem Buch ausgebreitet wird, ist ergreifend bis zum
Niederknien, doch all dies widerfährt ja nicht nur der Autorin – man
spürt eine grandiose Heftigkeit, wie sie über Frauen und Männer weltweit
hereinbricht.“ Hiromi Ito zu lesen hilft, erweitert den Horizont und
macht eindeutig gute Laune.