Buchempfehlung

Hanser Verlag
978-3-446-27292-7
22€

Yasmina Reza

Serge

Herkunft und Familie – ewig währende Themen, die in immer neuen Konstellationen und Variationen den Hintergrund, wenn nicht das Zentrum der meisten literarischen Werke der schönen Literatur bilden. So auch in Serge, dem neuen Roman der erfolgreichen französischen Theater- und Romanautorin Yasmina Reza. Hier ist es die in Paris lebende jüdische Familie Popper. Im Mittelpunkt stehen die drei Geschwister Serge, Jean und Nana, alle bereits in der zweiten Lebenshälfte: Serge, der Älteste, großmäulig, ein ewiger Schlawiner, der, zumeist glücklos, Zeit und Geld in windige Geschäfte investiert; Jean, ein Leben lang nichts weiter als das mittlere Kind, ist bis zur Unkenntlichkeit der eigenen Meinung auf Ausgleich bedacht. Und Nana, die jüngste, einst das hübsche Prinzesschen, hat dann leider keinen Zahnarzt geheiratet, sondern den aus dem Arbeitermilieu stammenden Ramos Ochoa, dem die Brüder unterstellen, sich Arbeitslosenhilfe zu ergaunern. Bis auf kurze sentimentale Anwandlungen sind die drei einander in hingebungsvollem, von Serge immer wieder entfachtem Dauergezänk verbunden.

Der Text beginnt mit dem Tod der alten Mutter, die zum Entsetzen aller darauf bestanden hat, sich einäschern zu lassen. Als die Familie nach einem trübseligen Begräbnis zusammen im Café sitzt, verkündet Joséphine, Serges Tochter, dass sie nach Auschwitz fahren will, den Ort, nach dem niemand in der Familie die Mutter, deren Angehörige dort ermordet wurden, jemals gefragt hat.

Im darauf folgenden April machen sich Serge, Jean, Nana und Joséphine auf den Weg nach Polen. Bei einem für April unnatürlich heißen Wetter schleppen sie sich durch diesen von Touristenmassen überschwemmten Schreckensort, an dem auf Schritt und Tritt mit dem Appell, nie zu vergessen, das Erinnern beschworen wird. Das Erinnern misslingt, weil keiner der drei sich auf diesen Ort einlassen kann oder will. Serge lässt räsonierend niemanden im Zweifel, dass er eigentlich woanders sein will. Nana sucht verwirrt hektisch in einer Datenbank nach Spuren ihrer ungarischen Vorfahren und Jean bringt auf den Punkt, warum ihm das Erinnern nicht möglich ist: “Vergesst nicht! Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos.”

Dieser Roman ist eine Farce, die Yasmina Reza in einer fragilen Balance zwischen Komik und Bösartigkeit hält. Sie verwendet nicht viel Zeit darauf, Verhaltensweisen psychologisch oder historisch herzuleiten. Alles erschließt sich bei ihr durch präzise Schilderungen und bissige Dialoge – sie ist nicht umsonst eine erfolgreiche Dramatikerin. Manches Lachen bleibt im Halse stecken. Da sich bei den Personen Wut und Trauer zumeist in Selbstmitleid äußern, hält sich auch die Empathie mit ihnen in Grenzen. All das zu lesen, wäre schwer auszuhalten, wäre da nicht zugleich der unterirdische Strom von Hilflosigkeit, Verletztheit, Einsamkeit und – man glaubt es bei dem ständigen Redefluss kaum – Sprachlosigkeit. Denn die überbordende, immer um sich selbst kreisende Kakophonie der Geschwister hat nur eine Funktion: Gefühle zu verdrängen und das Versteckte, nicht Sagbare, das die Familie mit sich herumschleppt, zu überdecken. Erst ganz am Schluss kehrt angesichts eines realen Unglücks doch so etwas wie Frieden zwischen den Geschwistern ein – ganz ohne Kitsch und Sentimentalität.

Ruth Roebke, Frankfurt a. M.