Buchempfehlung

Anna Mayr

Die Elenden

Hanser Berlin
978-3-446-26840-1
22 €

Wie kommt es eigentlich, dass Arbeitslose in unserer Gesellschaft keinen Platz zu haben scheinen? Anna Mayr geht dieser überaus aktuellen Frage nach, indem sie einerseits kulturgeschichtlich bis zu den Ursprüngen der Verachtung für Arbeitslose vordringt und andererseits in ihrer eigenen Geschichte als Kind von Hartz-IV-Empfänger:innen das seltsame und scheinbar undurchdringliche Gemisch aus moralischer Ablehnung und sozialer Isolierung erforscht, mit denen Arbeitslosen bis heute in Deutschland begegnet wird. Mehr noch: Ihnen wird die Möglichkeit abgesprochen, eine Identität auszubilden und ihrem Leben Orientierung zu geben. Das Ergebnis von Mayrs Recherche ist das überzeugende Plädoyer für ein Umdenken.

Mayrs zentrale These findet sich bereits im Untertitel: Arbeitslose werden in unserer Gesellschaft als faule, ungebildete und schlampige Parasiten verachtet. Sie haben keine Funktion in der Gesellschaft, und ihnen wird damit jedes Recht auf Teilhabe abgesprochen. Arbeitslosen wird nachgesagt, sie könnten nicht mit Geld umgehen – statt ihr weniges Geld sinnvoll und nachhaltig einzusetzen, kauften sie davon Alkohol, Drogen und ungesundes Essen – würden zu viel fernsehen und seien insgesamt an nichts als ihrem eigenen Wohlbefinden interessiert. Letztendlich, so das zentrale Stereotyp, das Mayr beschreibt, seien sie selbst schuld an ihrem Schicksal. Sie könnten ja schließlich etwas Vernünftiges lernen und ihr Geld selbst verdienen. Das mag in Einzelfällen stimmen, strukturell jedoch ist die Sache, wie Mayr, auf Marx zurückgreifend, überzeugend nachweist, anders: Es sind nicht die Arbeitslosen an ihrer Arbeitslosigkeit schuld, es ist die kapitalistische Gesellschaft, die systematische Arbeitslosigkeit erzeugt, damit ihr bei Bedarf stets genug billige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, die jeden Job um jeden Preis machen. Erst durch die Existenz von Arbeitslosen kann es so billige Arbeitskräfte und folglich so billige Produkte und Dienstleistungen geben. Und dazu kommt eine nicht weniger wichtige Funktion: Erst Arbeitslose bestätigen den Sinn der Arbeit und dienen so als wichtige Abgrenzungskategorie, sind also auch aus dieser Perspektive eine zentrale Ressource für die kapitalistische Gesellschaft. Dabei wird ihnen durch perfide Mechanismen der Konkurrenzerzeugung die Möglichkeit genommen, sich zu solidarisieren.

Immer wieder lässt Anna Mayr den autobiografischen Hintergrund ihres Interesses an Arbeitslosigkeit einfließen: Sie wuchs auf als Tochter zweier Langzeitarbeitslosen und erlebte als Kind die Scham und das Gefühl, kein Recht auf Teilhabe zu haben, am eigenen Leib. Sie betont immer wieder, es sei eine Verkettung glücklicher Zufälle gewesen, die ihr ein Studium und den Eintritt ins Berufsleben ermöglicht hätten (heute ist Mayr Redakteurin im Politik-Ressort der ZEIT); das System allein hätte dazu geführt, sie ebenfalls in die Spirale aus Arbeitslosigkeit und Armut fallen zu lassen. Gegen Armut, so Mayrs Forderung aufgrund dieser Erfahrung, hilft letztlich nur Geld.

Der größte Verdienst von Mayr ist die Dekonstruktion der Vorstellung, nur Berufsarbeit könne dem Leben eines Menschen Sinn geben – und sei sie auch noch so sinnlos. Historisch zeichnet Mayr die Entwicklung dieser Sakralisierung der Arbeit nach; sie macht Stationen bei Walter Benjamin, Benjamin Franklin, Martin Luther, den Schweizer Reformatoren Zwingli und Calvin und findet dann zurück in die Spätmoderne. Denn diese Vorstellung prägt bis heute unsere Gesellschaft und hat verheerende Folgen nicht nur für die, die aus der Leistungsgesellschaft „herausfallen“, sondern für das gesamte Sozialsystem. Mayrs Essay ist damit ein notwendiger und wichtiger Kommentar zu aktuellen Überlegungen für ein anderes Arbeitsverständnis.

Alena Heinritz, Innsbruck