Buchempfehlung

Hanna Engelmeier

Trost

Matthes & Seitz, 2021, € 20,-

In vier Texten widmet sich die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Hanna Engelmeier dem Thema Trost. Die hier versammelten Essays führen deutlich die Stärke dieser wieder beliebter werdenden Textform vor: Engelmeier verbindet kunstvoll und unterhaltsam textgenaue Betrachtungen, etwa von David Foster Wallace, mit assoziativen Sprüngen und herausfordernden Parallelisierungen. Eines der eindrücklichsten Beispiele dafür ist der letzte Text, der Adornos Kulturpessimismus und die notwendige Trostlosigkeit (im Wortsinn) nach Ausschwitz mit historischen, biographischen (Adorno) und persönlichen Betrachtungen zum Speiseeis kombiniert. „Kritische Theorie ohne Hörnchen ist in allererster Linie: angebracht. Mit einem Hörnchen in der Hand, das man nicht weglegen oder aufessen möchte, schreibt und kämpft es sich schlecht“, so schreibt Engelmeier selbst ihren Text kommentierend und davor zurückschreckend wie unakademisch und unterhaltsam zuvor das Sujet der privaten Kosenamen der Adornos behandelt wurde. Man muss sich hingegen weder für diese noch für Adornos Diabetes interessieren – wenn man es aber tut, erfährt man allerdings einiges –, um Engelmeiers Stil zu genießen. Aus einem breiten Wissens- und Kenntnisschatz schöpfend, der Pop- und Hochkultur gemeinsam umfasst, entsteht das Bild eines jungen Intellektualismus, der das bürgerliche Privileg einer geisteswissenschaftlichen Ausbildung nicht verleugnet: „Alles, was ich erzählen kann, handelt davon, dass es für all das hier ja doch gereicht hat, für all das, was an Studium und Zeit für Lektüre in diesem Text steht und steckt.“ Engelmeiers starke Aufmerksamkeit für die Persönlichkeit eines Textes, für dessen Eigensinn und Stil, bricht den Universalitätsanspruch des Bildungsbürgerlichen ebenso kritisch auf wie die Komposition ihrer Sujets. Gibt es also doch einen Weg aus dem Elfenbeinturm?

Man muss nicht allen Betrachtungen zustimmen, um den Spaß am genauen Denken und gezieltem Ausbrechen mit der Autorin teilen zu können. Der Trost ist dabei für mich weniger ein Gefühl, das der Text vermittelt, als ein Textgegenstand, an dem sich große wie kleine Wellen brechen: das Murmeln eines Gebets kann wohl tröstlich sein, aber trösten können auch kleine bunte Dinos auf einem Pflaster. Die Setzung des Trostes als gemeinsames Thema betont, dass dem Persönlichen und Affektiven im semi-theoretischen Schreiben des Essays ein zentraler Platz zugeordnet werden kann, ohne dass sie von selbstkasteiender Autofiktion und dem Willen zur ratgebenden Selbstheilung angetrieben werden muss.

Theresa Mayer, Frankfurt a. M.


Franz Mon (1926-2022)


Wir verlieren einen großen Lyriker, einen Freund und ein Gründungsmitglied der Autorenbuchhandlung. Er ist uns bis zuletzt verbunden geblieben und bleibt immer ein Teil der Autorenbuchhandlung.

post mortem
es wär nur ein moment
daß alle die dich kannten
in einem sonnenschein stünden
der sofort vergeht
für die ewigkeit zu spät:
nicht ausgekehrt
nicht umgekehrt
(da doch der dünne schatten nie
vergeht der einmal aus dem herz gekehrt)
franz mon

Buchempfehlung

Esther Kinsky

Rombo

Suhrkamp 2022, € 24.-

Es begann mit den Tieren. Erst danach drang tief aus der Erde jenes Geräusch hervor, das drohend wie ein Bergrutsch klang. Doch begonnen hat alles mit den Tieren.

Der 6. Mai 1976 war ein ausgesprochen heißer Tag im norditalienischen Friaul. Die Sonne brannte auf das Tal hinab, das Gras stand hoch und trocken auf den Wiesen, während der Gipfel des Monte Canin, ein steilaufragendes Kalksteinmassiv in den Julischen Alpen, noch immer von Schnee bedeckt war. Am Morgen war auf der einzigen Zufahrtsstraße zum Dorf eine überfahrene Carbon entdeckt worden, eine schwarze Schlangenart, die in der Gegend heimisch ist – und später wollen viele ein schlechtes Omen darin gesehen haben.

Alle Hunde im Dorf verhielten sich den Tag über unruhig und bellten, selbst die Ziegen gaben sich störrisch, und die Vögel schrien, als läge eine seltsame Vorahnung in der Luft. Allein die Mauersegler, die gewöhnlich zum Abend hin auftauchten, waren mit einem Mal verschwunden.

Mit der Dämmerung zog überraschend Wind auf, empfindlich kalter Wind, der von den Bergen blies. Und da, im rasch einsetzenden Dunkel, begann es, dieses Geräusch, il rombo, jenes tiefe, rollende Dröhnen, das aus dem Erdreich drang und allmählich zu einem derartigen Lärmen anschwoll, dass man, wie manche sich später erinnern würden, meinen konnte, der Berg stürze herab.

Kurz darauf tat sich die Erde auf. Ein Beben riss einen Spalt durch die Straße, ließ Mauern und Firste nachgeben, Menschen stürzten aus ihren Häusern, schrien Hilferufe oder die Namen ihrer Lieben in die Nacht hinaus, und erst Tage und Wochen später, nachdem zahlreiche Opfer zu beklagen waren, sollte sich die Erde wieder beruhigen. Und auch die Mauersegler kehrten zurück.

In ihrem neuen Roman Rombo verbindet die Autorin Esther Kinsky die Darstellung einzigartiger Naturgewalten mit Landschaftsbeschreibungen sowie den persönlichen Erinnerungen einer Handvoll Menschen, die sich auf teils völlig unterschiedliche Weise an die Geschehnisse von damals erinnern – oder diese zu verdrängen suchen, da, wie sich eine Person ausdrückt, das Vergessen-Können zuweilen erstrebenswerter sei.

Keines der drei Themen steht dabei für sich, alles ist auf gelungene Weise miteinander verflochten und die Wahl der Sprache, die Esther Kinsky für ihre Zusammenschau ausgewählt hat, mutet auf den ersten Blick nüchtern und beinahe ausdruckslos an, vermittelt jedoch genau den richtigen Klang und liest sich in einer einzigartigen Kurzweil. Man muss sich daher hüten, auch wenn es schwer fällt, nicht zu schnell zu lesen, denn bereits nach wenigen Kapiteln findet man sich als Leserin und Leser gefangen in dieser überwältigenden, archaisch anmutenden Welt, die die Autorin heraufbeschwört.

Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln

Buchempfehlung

Tomer Gardi

Eine runde Sache

Droschl Verlag
23 €
Ausgezeichnet mit dem Leipziger Buchpreis 2022

Im ersten Teil des Romans wird Tomer Gardi von dem Intendanten eines großen deutschen Theaters und dessen ebenso deutschen Schäferhund durch einen Wald gehetzt. Eigentlich hatten beide zusammen einen Tag auf der Yacht verbringen wollen: ein Missverständnis, ein Wortspiel. Die Yacht verwandelt sich in eine Jagd, der geladene Gast Tomer wird wie selbstverständlich vom Freund zum Beutetier. Das antisemitische Mordvorhaben entpuppt sich als die wahre Bedeutung des Geschehens, und das Allegorische, Homonyme und Symbolische gewinnt die Überhand. Das gewährt Gardi (als Autor) die Möglichkeit, alle Register seines überdrehenden, halsbrecherischen Humors zu ziehen. Was folgt, ist eine beschwerliche und vergebliche Reise zurück in das, was man Normalität nennen könnte. Märchen- und Sagenfiguren des deutschen Mythologie-Fundus kreuzen die Geschichte, die in einem quasi-biblischen Arche-Szenario gipfelt, in dem jede Figur, auf ihren symbolischen Gehalt reduziert, der Erlösung entgegenschippern soll. Die Figur Tomer Gardi verweigert die Zuschreibung des Ewigen Juden, seine Geschichte ist die des hart erlernten Misstrauens gegen jede Art von Zivilisation und Mitmenschlichkeit als Selbstverständlichkeit. Eine Abenteuer- und Schelmengeschichte, in der sich hinter jedem Witz Abgründe auftun. Geschrieben ist dieser Teil des Romas in dem idiomatischen Broken German, für das der israelisch-deutsche Autor bereits bekannt ist.

Das ändert sich in der zweiten Hälfte des Romans, der ursprünglich auf Hebräisch verfasst und von Anne Birkenhauer ins Deutsche übersetzt wurde. Hier beginnt eine neue Geschichte – oder ist es die gleiche Geschichte in neuem Gewand? Auch bei der biographischen Darstellung des Lebens des indonesischen Malers Raden Saleh Syarif Bustaman, der als Kind eines Adligen von den niederländischen Kolonialherren aus machtpolitischen Gründen adoptiert und ausgebildet wird, begegnen wir einer Engführung von Kultivierung und Aneignung, von Misstrauen und Selbstbehauptung. Wie Tomer Gardi (die Figur und der Autor) ist auch Raden Saleh ein Künstler. Er erlernt von seinen europäischen Lehrern den flämischen Realismus der großen Schifffahrtsszenerien. Der in diesem Teil realistisch gehaltene Prosastil Gardis reflektiert das. Mit der Zeit beginnt Saleh, diese Mittel gegen die Deutungshoheit der Kolonialisten zu wenden und damit mit der Glorifizierung der Seemacht Niederlande, dem politischen Untergrund dieser goldenen Kunstzeit, zu brechen.

Darin eine Runde Sache zu erkennen, liegt jedoch alles andere als auf der Hand: Am Ende hat man das Gefühl, zwei völlig unterschiedliche Romane gelesen zu haben. Das gemeinsame Thema, die Zwiespältigkeit deutscher und europäischer Kultur in der ihr inhärenten Bedrohung, Annihilation und Aneignung des Anderen, wird erst in der Rückschau deutlich, und das gehört zu den herausragenden Langzeitwirkungen des Romans. Zunächst liest man diesen als einen halb surrealen, halb realistischen Unterhaltungsroman, dem weder sein poetischer Anspruch noch seine hochpolitischen Themen die Leichtigkeit nehmen. Wer den Erstling des Autors, Broken Germa, noch nicht gelesen hat, sollte das unbedingt nachholen, aber es könnte mit Recht behauptet werden, dass es sich bei diesem neuen Roman um das bisher beste Werk des Autors handelt. Völlig zu Recht wurde er deshalb in diesem Jahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse (Belletristik) ausgezeichnet.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlungen zum Thema Ukraine

auf kommbuch.com

Serhij Zhadan, Warum ich nicht im Netz bin
edition Suhrkamp 2016
Manfred Sapper/ Volker Weichsel
Zeitschrift Ostruopa 7/21 BWV Verlag

„der Krieg bringt seine eigenen Wörter hervor. Sie klingen scharf und kalt […]. Du legst fremde Wörter an, rollst sie auf der Zunge hin und her, spürst den metallischen Nachgeschmack. […] Plötzlich finden sich unter deinen Bekannten Einberufene, Vewundete und Gefangene. Du gewöhnst dich daran, dass die Sprache um Wörter dieses schwarzen Vokabulars erweitert wird, um Dutzende neuer Wörter, von denen jedes einzelne nichts anderes als Tod bedeutet.“

„Die innenpolitische Ordnung eines Staates und sein außenpolitisches Verhalten sind untrennbar miteinander verbunden. Das wissen wir seit Immanuel Kants Traktat Zum ewigen Frieden. Darauf gründet eine Interpretation der internationalen Beziehungen. Sie lautet: Je autoritärer die Innenpolitik, desto millitarisierter die Außenpolitk.“

Den Menschen und AutorInnen der Ukraine ist dieser Post gewidmet, Romane und Sachbücher sollen Orientierung geben, darunter neue und alte Besprechungen.

Buchempfehlung

Hanser Verlag
978-3-446-27292-7
22€

Yasmina Reza

Serge

Herkunft und Familie – ewig währende Themen, die in immer neuen Konstellationen und Variationen den Hintergrund, wenn nicht das Zentrum der meisten literarischen Werke der schönen Literatur bilden. So auch in Serge, dem neuen Roman der erfolgreichen französischen Theater- und Romanautorin Yasmina Reza. Hier ist es die in Paris lebende jüdische Familie Popper. Im Mittelpunkt stehen die drei Geschwister Serge, Jean und Nana, alle bereits in der zweiten Lebenshälfte: Serge, der Älteste, großmäulig, ein ewiger Schlawiner, der, zumeist glücklos, Zeit und Geld in windige Geschäfte investiert; Jean, ein Leben lang nichts weiter als das mittlere Kind, ist bis zur Unkenntlichkeit der eigenen Meinung auf Ausgleich bedacht. Und Nana, die jüngste, einst das hübsche Prinzesschen, hat dann leider keinen Zahnarzt geheiratet, sondern den aus dem Arbeitermilieu stammenden Ramos Ochoa, dem die Brüder unterstellen, sich Arbeitslosenhilfe zu ergaunern. Bis auf kurze sentimentale Anwandlungen sind die drei einander in hingebungsvollem, von Serge immer wieder entfachtem Dauergezänk verbunden.

Der Text beginnt mit dem Tod der alten Mutter, die zum Entsetzen aller darauf bestanden hat, sich einäschern zu lassen. Als die Familie nach einem trübseligen Begräbnis zusammen im Café sitzt, verkündet Joséphine, Serges Tochter, dass sie nach Auschwitz fahren will, den Ort, nach dem niemand in der Familie die Mutter, deren Angehörige dort ermordet wurden, jemals gefragt hat.

Im darauf folgenden April machen sich Serge, Jean, Nana und Joséphine auf den Weg nach Polen. Bei einem für April unnatürlich heißen Wetter schleppen sie sich durch diesen von Touristenmassen überschwemmten Schreckensort, an dem auf Schritt und Tritt mit dem Appell, nie zu vergessen, das Erinnern beschworen wird. Das Erinnern misslingt, weil keiner der drei sich auf diesen Ort einlassen kann oder will. Serge lässt räsonierend niemanden im Zweifel, dass er eigentlich woanders sein will. Nana sucht verwirrt hektisch in einer Datenbank nach Spuren ihrer ungarischen Vorfahren und Jean bringt auf den Punkt, warum ihm das Erinnern nicht möglich ist: “Vergesst nicht! Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos.”

Dieser Roman ist eine Farce, die Yasmina Reza in einer fragilen Balance zwischen Komik und Bösartigkeit hält. Sie verwendet nicht viel Zeit darauf, Verhaltensweisen psychologisch oder historisch herzuleiten. Alles erschließt sich bei ihr durch präzise Schilderungen und bissige Dialoge – sie ist nicht umsonst eine erfolgreiche Dramatikerin. Manches Lachen bleibt im Halse stecken. Da sich bei den Personen Wut und Trauer zumeist in Selbstmitleid äußern, hält sich auch die Empathie mit ihnen in Grenzen. All das zu lesen, wäre schwer auszuhalten, wäre da nicht zugleich der unterirdische Strom von Hilflosigkeit, Verletztheit, Einsamkeit und – man glaubt es bei dem ständigen Redefluss kaum – Sprachlosigkeit. Denn die überbordende, immer um sich selbst kreisende Kakophonie der Geschwister hat nur eine Funktion: Gefühle zu verdrängen und das Versteckte, nicht Sagbare, das die Familie mit sich herumschleppt, zu überdecken. Erst ganz am Schluss kehrt angesichts eines realen Unglücks doch so etwas wie Frieden zwischen den Geschwistern ein – ganz ohne Kitsch und Sentimentalität.

Ruth Roebke, Frankfurt a. M.

Buchempfehlung

annette betz Verlag
978-3-219-11920-6
14,94 €

David Barrow

Elefant, wo bist du?

Aus dem Englischen von Bernd Stratthaus. Ab 3 Jahren

Im Frühjahr und im Herbst treffen in den Buchhandlungen fast täglich neue Bücher ein, auch Kinderbücher. Nicht immer bleibt man verzückt stehen, wenn man ein neues Bilderbuch entdeckt. Bei Elefant wo bist Du? kann man allerdings nicht anders: man MUSS sich diese Geschichte um ein ganz besonderes Versteckspiel schmunzelnd von Anfang bis zum Ende ansehen – und dann gleich noch einmal von vorn!

Ein kleiner Junge im gelben Hemd und sein Freund, ein wirklich großer Elefant, wollen sich miteinander die Zeit vertreiben. „Möchtest Du Verstecken spielen?“ fragt der Elefant den kleinen Jungen. “Aber ich warne dich”, fügt der Elefant hinzu, “ich bin WIRKLICH gut darin!“ Begeistert hält sich der Junge die Augen zu und beginnt, bis 10 zu zählen. Und es ist ganz unglaublich, WIE gut sich der Elefant versteckt! Ob als Lampenschirm, nur knapp verborgen unter der Bettdecke, während der Junge ihn unter dem Bett vermutet und natürlich nicht findet, oder als Halter des Fernsehers, auf dem der Vater sich gerade ein Fußballspiel ansieht: Für seinen kleinen Freund scheint der riesige Elefant unsichtbar geworden zu sein.

Ratlos und fröhlich aufgeregt sucht und sucht der kleine Junge immer weiter, und bis zum Schluss ist nicht wirklich klar, ob hier einer dem anderen vielleicht einen Gefallen tut oder ob man manchmal wirklich den Elefanten vor lauter Bäumen nicht sieht?!

In warmen Farben und mit grobem, aber aussagekräftigem Strich wird hier eine herrliche Variante vom beliebten Versteckspiel erzählt. Und als am Ende die Schildkröte zu den Freunden stößt und augenzwinkernd ein neues Spiel vorschlägt, ist vermutlich schon allen Beteiligten klar, was jetzt kommt: Fangen spielen natürlich. Und die Schildkröte macht sich bereit und warnt ihre Mitspieler schon mal vor: „Ich bin ZIEMLICH gut!“ Für Kleine ab 3 Jahren und ihre VorleserInnen eine wirklich hinreißende Bilderbuchentdeckung!

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung

Anna Mayr

Die Elenden

Hanser Berlin
978-3-446-26840-1
22 €

Wie kommt es eigentlich, dass Arbeitslose in unserer Gesellschaft keinen Platz zu haben scheinen? Anna Mayr geht dieser überaus aktuellen Frage nach, indem sie einerseits kulturgeschichtlich bis zu den Ursprüngen der Verachtung für Arbeitslose vordringt und andererseits in ihrer eigenen Geschichte als Kind von Hartz-IV-Empfänger:innen das seltsame und scheinbar undurchdringliche Gemisch aus moralischer Ablehnung und sozialer Isolierung erforscht, mit denen Arbeitslosen bis heute in Deutschland begegnet wird. Mehr noch: Ihnen wird die Möglichkeit abgesprochen, eine Identität auszubilden und ihrem Leben Orientierung zu geben. Das Ergebnis von Mayrs Recherche ist das überzeugende Plädoyer für ein Umdenken.

Mayrs zentrale These findet sich bereits im Untertitel: Arbeitslose werden in unserer Gesellschaft als faule, ungebildete und schlampige Parasiten verachtet. Sie haben keine Funktion in der Gesellschaft, und ihnen wird damit jedes Recht auf Teilhabe abgesprochen. Arbeitslosen wird nachgesagt, sie könnten nicht mit Geld umgehen – statt ihr weniges Geld sinnvoll und nachhaltig einzusetzen, kauften sie davon Alkohol, Drogen und ungesundes Essen – würden zu viel fernsehen und seien insgesamt an nichts als ihrem eigenen Wohlbefinden interessiert. Letztendlich, so das zentrale Stereotyp, das Mayr beschreibt, seien sie selbst schuld an ihrem Schicksal. Sie könnten ja schließlich etwas Vernünftiges lernen und ihr Geld selbst verdienen. Das mag in Einzelfällen stimmen, strukturell jedoch ist die Sache, wie Mayr, auf Marx zurückgreifend, überzeugend nachweist, anders: Es sind nicht die Arbeitslosen an ihrer Arbeitslosigkeit schuld, es ist die kapitalistische Gesellschaft, die systematische Arbeitslosigkeit erzeugt, damit ihr bei Bedarf stets genug billige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, die jeden Job um jeden Preis machen. Erst durch die Existenz von Arbeitslosen kann es so billige Arbeitskräfte und folglich so billige Produkte und Dienstleistungen geben. Und dazu kommt eine nicht weniger wichtige Funktion: Erst Arbeitslose bestätigen den Sinn der Arbeit und dienen so als wichtige Abgrenzungskategorie, sind also auch aus dieser Perspektive eine zentrale Ressource für die kapitalistische Gesellschaft. Dabei wird ihnen durch perfide Mechanismen der Konkurrenzerzeugung die Möglichkeit genommen, sich zu solidarisieren.

Immer wieder lässt Anna Mayr den autobiografischen Hintergrund ihres Interesses an Arbeitslosigkeit einfließen: Sie wuchs auf als Tochter zweier Langzeitarbeitslosen und erlebte als Kind die Scham und das Gefühl, kein Recht auf Teilhabe zu haben, am eigenen Leib. Sie betont immer wieder, es sei eine Verkettung glücklicher Zufälle gewesen, die ihr ein Studium und den Eintritt ins Berufsleben ermöglicht hätten (heute ist Mayr Redakteurin im Politik-Ressort der ZEIT); das System allein hätte dazu geführt, sie ebenfalls in die Spirale aus Arbeitslosigkeit und Armut fallen zu lassen. Gegen Armut, so Mayrs Forderung aufgrund dieser Erfahrung, hilft letztlich nur Geld.

Der größte Verdienst von Mayr ist die Dekonstruktion der Vorstellung, nur Berufsarbeit könne dem Leben eines Menschen Sinn geben – und sei sie auch noch so sinnlos. Historisch zeichnet Mayr die Entwicklung dieser Sakralisierung der Arbeit nach; sie macht Stationen bei Walter Benjamin, Benjamin Franklin, Martin Luther, den Schweizer Reformatoren Zwingli und Calvin und findet dann zurück in die Spätmoderne. Denn diese Vorstellung prägt bis heute unsere Gesellschaft und hat verheerende Folgen nicht nur für die, die aus der Leistungsgesellschaft „herausfallen“, sondern für das gesamte Sozialsystem. Mayrs Essay ist damit ein notwendiger und wichtiger Kommentar zu aktuellen Überlegungen für ein anderes Arbeitsverständnis.

Alena Heinritz, Innsbruck