Für das titelgebende Kapitel „Vielleicht Esther“ hat Katja Petrowskaja 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten. Damals lobten die Juroren einhellig die Leichtigkeit und sprachliche Schönheit, mit der die Autorin beschrieb, wie ihre jüdische Urgroßmutter im Zuge der großen Säuberung in Kiew erschossen wurde – ohne dass das Geschehen dadurch verharmlost wurde. Soviel vorweg: es ist eine der großen Qualitäten von Petrowskajas Buch, dass sie Ungeheuerliches, Verstörendes, Berührendes, Absurdes mit Leichtigkeit, Klugheit, Komik und Zartheit erzählen kann.
Die Autorin versucht, ihre weitverzweigte jüdische Familie zu rekonstruieren, deren Wurzeln in der Ukraine, in Russland und in Polen liegen. Viele sind bereits tot – verschollen, vertrieben, ermordet. Es gibt Geschichten über sie, aber auch Schweigen, und wie in jeder Familie werden Leerstellen übergangen oder durch Mythen aufgefüllt. Die wenigen Überlebenden des Krieges starben, als sie noch ein Kind war, zu jung, um Fragen zu stellen.
Einen Familienstammbaum wollte sie zeichnen, einen Scherbenhaufen hat sie gefunden, ein Puzzle, dessen Teile sich nicht ineinanderfügen wollten. Denn anders als im Westen Europas hörten die Schrecken nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf. Gab es weiterhin Antisemitismus, war es besser, keine politisch bedenklichen Familienmitglieder zu haben, war ein Erinnern an die Kriegsopfer nur möglich, wenn diese auf der „richtigen“ Seite gestanden hatten.
So erzählt sie Geschichten, die sich zu Kapiteln fügen und letztlich doch ein Ganzes werden. Von ihren Reisen, ihren Recherchen, ihren Erfahrungen und eigenen Erinnerungen. Das fügt sich weder chronologisch aneinander noch inhaltlich stringent zusammen. Ihr Erzählen ist wie das, was sie vorfindet – ein Puzzle, dessen Stücke mal hier, mal dort passen. Einzelne Bilder lassen sich zusammenfügen, andere nicht . Da finden sich Lehrer, die Waisenhäuser für taubstumme Kinder gründen, ein Großonkel, der 1932 ein Attentat auf den deutschen Botschafter in Moskau verübt, ein Großvater, der 41 Jahre nach dem Krieg wieder zu Hause auftaucht, Tanten, Onkel, Urgroßmütter und Anna und Ljolja, die in Babij Jar liegen. Aber in ihrem Netz verfangen sich auch die Geschichten gänzlich fremder Menschen, deren Schicksale sich vielleicht mit denen ihrer Familienmitglieder berührt haben könnten.
Und es gibt „Vielleicht Esther“ die so heißt, weil der Vater sich an den Namen seiner Großmutter nicht mehr erinnern kann, die er immer nur zärtlich Babutschka nannte. Die zu alt war, um auf die Flucht mitgenommen zu werden, als der Aufruf an alle Juden erging, sich zu der totbringenden Schlucht zu begeben, und die, als sie zwei Soldaten nach dem Weg fragte, sofort erschossen wurde.
Es ist die großartige Qualität dieses Buches, dass es nicht von der Last seines eigenen Inhalts erdrückt wird. Petrowskaja hat eine wunderbar klare Sprache, und dass sie noch in weiteren Sprachen zu Hause ist, gibt ihrem Ausdruck eine Bewusstheit und Vielfalt, die man bei jungen deutschen Autoren sonst oft vermisst.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt