Ein kurzer, beinahe unbekannter Text des französischen Philosophen Jacques Derrida trägt den Titel: “Ce qui reste à force de musique”, wörtlich übersetzt: “Was kraft der Musik bleibt”. Kaum ein Titel scheint geeigneter, versucht man, über Ralph Roger Glöcklers anspruchsvollen Roman Mr. Ives und die Vettern vierten Grades zu schreiben. Der Romantitel nennt einen amerikanischen Komponisten, der für seinen musikalischen Nonkonformismus bekannt ist, und spielt auf eine Zeile in einem Gedicht Walt Whitmans an, auf jenen “Gesang”, in dem es heißt, Anpassung sei für die Vettern vierten Grades, der Dichter trage seinen Hut aber so, wie es ihm gefalle, drinnen wie draußen.
In vier Teilen hat Glöckler die Gedanken von vier historischen Figuren, die Gedanken der Komponisten Ives und Cowell und seiner beiden Ehefrauen, so imaginiert, als würde ihre stumme Äußerung nie geschriebenen Briefen oder nie vermittelten Botschaften gleichen. Können solche Gedankenströme übertragen werden, den anderen berühren, der sie nicht als Nachrichten erhält, ja der im Falle von Charles Ives sogar tot ist, weil es sich um seinen Vater handelt? Diese Frage stellt sich in dem Maße, in dem es Glöckler nicht einfach um den äußeren Anlaß seines Romans geht, darum, wie sich die Figuren zu Henry Cowells Vorliebe für Jünglinge verhalten, die zu einer harten Gefängnisstrafe führt, und wie Cowell selber auf die Denunziation reagiert, die ihn öffentlich zum Außenseiter stempelt.
Worum es Glöckler geht, ist die sprachliche Gestaltung von Musik und die musikalische Gestaltung von Sprache. Er richtet sich auch ausdrücklich an den Werken von Ives und Cowell aus. Es geht Glöckler darum, darzustellen, wie diese Komponisten nicht anders können als beispielsweise in Umweltsgeräuschen eine Kraft auszumachen, die die der Musik ist, eine Kraft, die sich ihren Weg erst bahnt, statt einen vorgezeichneten Lauf zu nehmen. Diese Kraft teilt sich ebenfalls den Gedanken der Ehefrauen mit, vielleicht, weil sie der frei gelassenen Sprache selber innewohnt. Sie läßt die Komponisten in Räume treten, sie läßt sie Zeiten erfahren, die nicht mehr die wiedererkennbaren, gewohnheitsmäßigen der Außenwelt sind, obwohl sie sich nicht als bloße Innenräume oder als bloß inwendige Zeitwahrnehmungen abkapseln.
Könnte es nicht sein, daß es zwischen solchen Räumen und Zeiten eine Kommunikation gibt, die nicht die Form eines geschriebenen Briefs oder einer vermittelten Botschaft annimmt? Daß es “kraft der Musik” so sein könnte, so verstockt die eine oder andere der vier Figuren auch anmuten mag, legt dieser unangepaßte Roman ebenso nahe wie die Möglichkeit einer radikalen Vereinsamung, als sei sie der Preis, den man zahlen muß, um an die letztlich anonyme Kraft der Musik zu rühren.
Alexander García Düttmann, London
Ralph Roger Glöckler
Mr. Ives und die Vettern vierten Grades
Elfenbein Verlag, 2012, 19.- €
Über den Autor:
Ralph Roger Glöckler, geboren 1950 in Frankfurt a. Main, studierte Romanistik, Germanistik und Völkerkunde in Tübingen. Er lebt als Übersetzer und Schriftsteller in Frankfurt und Lissabon, wo im Herbst 2000 sein Theaterstück “Perpetuum Mobile. Cantata” uraufgeführt wurde. Zu seinen bisherigen Veröffentlichungen gehören Erzählungen und Romane. 1984 erschien “Reise ins Licht” , 2007 “Madre. Eine Erzählung” und 2008 “Vulkanische Reise. Eine Azoren-Saga”.