Buchempfehlung

Catalin Mihuleac – Oxenberg & Bernstein

Zsolnay Verlag, 24 €
978-3-552-05883-5

Vintage, Retro, „shabby chic“, aus den Nähten platzende Flohmärkte und prächtig florierende Second Hand Läden.

Geschichten fügen den profanen Dingen des Alltags etwas hinzu, verleihen ihnen einen ganz besonderen Wert. Das war schon immer so und ist auch heute überall zu besichtigen: Der Schuhschrank aus den 50ern, das Grammophon aus den 20ern, die Schelllackplatte. Das alles wird von einer wildromantischen Aura umweht, das alles sind neckische Zitate einer Vergangenheit, die jetzt die eigene Individualität krönen sollen. Geschichte, zur Story verknappt, als Verkaufsargument: Alt ist sexy, „Vintage“ füllt die Kassen.

Sânziana Stipiuc, 35, von Beruf Buchhalterin, bekommt eines Tages von ihrem Chef einen ganz besonderen Auftrag: Sie ist die einzige, die englisch spricht und darum als einzige qualifiziert, die amerikanischen Juden zu empfangen, die aus geschäftlichen Gründen in die Stadt kommen. Sânziana fügt sich der Anweisung ihres Vorgesetzten und lernt so Mutter und Sohn Bernstein kennen, die ein Vermögen mit dem Handel von Secondhand-Klamotten gemacht haben. Nach ein paar Tagen ist klar: Sânziana war die längste Zeit Buchhalterin, wird fürderhin in Amerika an der Seite von Ben Bernstein und unter dem schwiegermütterlichen Regiment Dora Bernsteins leben und vor allem nicht länger Sânziana Stipiuc, sondern Suzy Bernstein heißen.

In Amerika angekommen, entwickelt sich Suzy schnell zu einer taffen Geschäftsfrau, die das Geschäft mit den Klamotten mit „Story“ aus dem Effeff beherrscht. Sie vergisst auch ihre eigene arme rumänische Familie nicht, bedenkt sie mit lukrativen Posten in der frisch eröffneten Dependance in Rumänien – sie kümmert sich nach Kräften, singt zähneknirschend das Hohelied des Kapitalismus.

Trotz des Erfolges steht für Suzy allerdings nichts zum Besten: Das Land jenseits des Ozeans, die neue jüdische Identität und die neue Tätigkeit stellen die Perspektive auf die Dinge auf den Kopf: Suzy taucht in die Geschichte der Familie Bernstein ein, beginnt, sich gewissermaßen rückwärts durch die Zeit zu bewegen, um schließlich beim 29. Juni 1941 anzulangen, jenem Schreckenstag, an dem der lange angestaute und staatlich forcierte Antisemitismus in Rumänien zum Massaker von Iasi führte. Jenes Datum, das das finstere Gravitationszentrum des Buches bildet, der Ort, an dem sich Vergangenheit und Zukunft treffen.

Cātālin Mihuleac lässt den Leser Suzy Bernstein über die Schulter schauen. In schnoddrig-schöner Sprache, die mit rasiermesserscharfen Bildern daherkommt und sich meisterhaft darauf versteht, Lacher zu provozieren, die schon im nächsten Augenblick jäh in der Kehle stecken bleiben, erkundet er, Suzy als zornige Erzählerin vorgeschaltet, die Geschichte des rumänischen Antisemitismus, die auch die Geschichte der rumänischen Juden ist.

Dabei lässt er Suzy einerseits von ihrer Recherche-Reise durch die Zeit erzählen. Andererseits lässt er sie die fiktive Familiengeschichte der wohlhabenden jüdischen Familie Oxenberg aus Iasi dokumentieren, die unter den antisemitischen Repressionen und Übergriffen des pro-faschistischen Regimes leidet und schließlich an eben jenem verhängnisvollen Tag im Juni 1941 zerrissen wird.

Alles hat eine Geschichte. Geschichte ist aber etwas anderes als eine „Story“. Geschichte ist nicht immer dazu angetan, einen Gegenstand wertsteigernd zu veredeln. Vielmehr enthüllt sie mitunter dunkle Flecken, die wiederum eine nette Story verderben können.

„Die Historiografie zerschlägt in der nationalen Vitrine wertvolle Kristallgefäße. Der Patriotismus, entworfen, um ewig zu strahlen, wird zu Blech.“

Mihuleacs Buch Oxenberg & Bernstein, das bereits 2014 in Rumänien erschienen ist, ist eine zornige Zeitkritik, eine enthüllende Halbfiktion, die mit Bedacht und Akkuratesse die historischen Fakten des rumänischen, des europäischen Antisemitismus zu einer grandiosen, aber beißend-ungemütlichen Erzählung arrangiert, die tief unter die Haut geht.

Johannes Fischer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Kissina, Julia Revolution Noir Autoren der russischen „neuen Welle“

Suhrkamp Verlag 24€

Der Titel des Nachworts der Herausgeberin und Illustratorin dieser Anthologie, Julia Kissina, klingt vermessen: „Goodbye Dostojewski“. Nein, diese Anthologie macht den Meister sicher nicht obsolet. Gemeint ist aber etwas anderes: Die Anthologie Revolution Noir. Autoren der russischen „Neuen Welle“ fügt den bestehenden Bildern über Russland neue hinzu, indem hier Erzählungen erstmals in deutscher Sprache erscheinen oder überhaupt zum ersten Mal publiziert werden.

Wenn man einige der Erzählungen, die als manieriert und geschwätzig kaum in Erinnerung bleiben, auch beiseitelassen kann, heißt das nur mehr Aufmerksamkeit für die wenigen großartigen Beispiele, die Erstere wieder aufwiegen. Besonders schön ist „Die Reise des Lukas“ (1992) von Wassili Kondratjew, in der ein Mann an einem verlassenen Bahnhof aus dem Zug steigt und sich in der Wildnis verliert. Fantastisch grotesk und dabei fast naturalistisch in der Schilderung beengter Wohnverhältnisse in einer Kommunalwohnung ist die Erzählung „Der Sprung in den Sarg“ von Juri Mamlejew über eine alte Dame, die zwar todkrank ist, aber nicht sterben kann. Ihre Verwandten beklagen, die Pflege bringe sie noch ins Grab, und überreden die Kranke deshalb dazu, ihrerseits freiwillig ins Grab zu steigen.

In Erinnerung bleibt die Geschichte vom „Menschenfresser-Flugzeug“ von Pavel Pepperstein, der den Zweikampf zwischen einem Giftmischer und dem Menschenfresser-Flugzeug irgendwo in der Luft zwischen London und Reykjavík erzählt. Sorokin kommt, wie kann es auch anders sein, in seiner Erzählung „Asche“ wieder laut und gewaltig mit spritzenden Eiterbeulen und menschenfressenden Gourmands daher, und mit einem klaren Sieg über den Nationalismus im heutigen Russland. In „Zweckmäßigkeit“ von Alexej Parschtschikow wird die Arbeit eines Absamers geschildert und dabei in zarte Transzendenz gehüllt, die so gar nicht zu dem scheinbar derben Beruf passen will. Blut, Eiter, Stiersperma –alles ist so explizit und extrem geschildert, wie es sich für eine Avantgarde gehört. Aber die wohl extremste Erzählung des Bandes ist die, in der Kafka als sorgenfreies Familienoberhaupt Mitte fünfzig portraitiert wird. Zufrieden mit seinem geleisteten schriftstellerischen Tagwerk genießt er die deftigen Speisen seiner Gattin und schaukelt seine kleine Enkelin auf den Knien.

Beinahe ebenso spannend wie die Erzählungen sind die Kurzinformationen über die Autoren und Autorinnen am Ende des Bandes. Ihre Biografien spiegeln die ereignisreichen Jahre nach dem Ende des sowjetischen 20. Jahrhunderts wider und die Versuche, mit Emigration und subversiver künstlerischer Tätigkeit die Zensur und Verfolgung zu umgehen.

In ihrem Nachwort erklärt Kissina auch den Titel der Anthologie. Drei Avantgarden habe es in Russland gegeben, und alle hätten auf ihre Weise auf revolutionäre gesellschaftliche Umschwünge reagiert: die erste Avantgarde, auch klassische Avantgarde, genannt, suchte in den 1920er Jahren ihre Stellung zwischen revolutionärem Kampf und individuellem künstlerischem Ausdruck. Die zweite Avantgarde, dann sei mit der Tauwetter-Periode ab 1956 verbunden. In der vorliegenden Anthologie finden sich nun Vertreter der sogenannten dritten Avantgarde zusammen, die allesamt die Jahre der Perestroika künstlerisch mit verfolgten und – soweit es ihnen möglich war – künstlerisch mitgestalteten. „Noir“ ist eine besondere Ausformung des künstlerischen Ausdrucks in den 1980er Jahren – eine fröhlich-groteske, morbide Antwort auf den schon seit langem schal gewordenen sozialistischen Optimismus. Brandneu ist diese „neue Welle“ also nicht mehr. Umso besser, dass ihre Vertreter endlich in deutscher Sprache vorliegen.

Alena Heinritz, Graz

 

Buchempfehlung

Mareike Fallwickl – Dunkelgrün fast schwarz

Frankfurt Verlagsanstalt, 24 €
978-3-627-00248-0

Moritz und Raffael haben eine gemeinsame Geschichte voll dunkler Geheimnisse. Ihre Freundschaft beginnt 1986 in Hallein am Dürnberg, sie endet 2017 mit Raffaels Besuch bei Moritz; 16 Jahre haben sie sich da nicht gesehen. Johanna, die im letzten Schuljahr zu den beiden stieß und von dem Moment an nicht mehr von der Seite der Freunde wich, wird das Dreieck nach 16 Jahren mit allen Wunden und Gefahren der Vergangenheit wiederbeleben. In ihrem Romandebüt zeichnet Mareike Fallwickl in wirkungsvollen Kontrasten Menschen, die über Jahre Gefangene ihrer selbst und überkommener gesellschaftlicher Muster sind, bis der Knoten endlich doch zerschlagen wird.

Er steht eines Abends vor Moritz‘ Tür, in der Hand einen Koffer: Raffael, alter Freund aus Kindertagen, Frauenschwarm immer schon, auch bei Moritz hochschwangerer Freundin Kristin zaubert er aus dem Nichts ein Lächeln auf ihr Gesicht.

Doch Kristin durchschaut Raffael schon nach wenigen Tagen und bittet, fordert, fleht Moritz an, sich und sie und ihr gemeinsames Kind zu retten: Vor der Vergangenheit, die mit Raffaels Besuch wieder hochkocht, und vor der Wendung, die Moritz‘ Leben in der Hand von Raffael nehmen könnte.

Moritz, der Zaghafte, Weiche, künstlerisch Begabte, der die Aura der Menschen sehen kann – er verliert sich selbst immer noch in Raffaels Gegenwart. Dessen Abgebrühtheit war schon in Kindergartentagen maßlos, Raffael quälte jeden und jede, körperlich, seelisch, übertrat seine Grenzen, meist zum Schaden der anderen. Für Johanna, die ihre Eltern mit 17 durch einen Autounfall verloren hatte, war und ist der unnahbare Raffael die Herausforderung ihres Lebens.

Erzählt wird die Geschichte der drei Jugendlichen von Moritz, seiner Mutter Marie und von Johanna, und auch diese Konstellation der Erzählenden birgt mehr als nur ein Geheimnis. Am Ende wird sich für alle etwas ändern, werden sich die Farben neu mischen und jeder wird die Chance bekommen, etwas längst Vergessenes wiederzuentdecken.

Susanne Rikl, München

Gefängnis und Armut. Zur gesellschaftlichen Wirklichkeit der Strafpraxis in Deutschland

Campus Verlag, 14 €

Friederike Boll, Franziska Dübgen und Frank Wilde im Gespräch mit Felix Trautmann

Montag, 23. April 2018, 20 Uhr

Prismen – Institut für Sozialforschung bei Marx & Co

Das Gefängnis gilt als negatives Spiegelbild der Gesellschaft. Wer dort einsitzt, hat eine Tat begangen, die gesellschaftlich inakzeptabel ist und entsprechend sanktioniert wird. Bei genauerer Betrachtung der Gefängnispopulation zeigt sich jedoch auch, dass die gesellschaftliche Strafpraxis bestimmte Bevölkerungsschichten in besonderer Weise kriminalisiert und dem Gefängnis aussetzt. Einen entscheidenden Faktor stellt dabei die soziale Lage dar. Armut treibt die Menschen zwar nicht notwendig in die Kriminalität, doch kann durchaus behauptet werden, dass das Gefängnis bestehende soziale Ungleichheiten reproduziert und verstärkt. Um die verhängnisvollen Wechselbeziehungen von Armut und Gefängnis zu begreifen, müssen die strafrechtspolitischen, sozialen und ökonomischen Dynamiken in einem größeren Zusammenhang und über die Mauern des Gefängnisses hinaus betrachtet werden. In der Zusammenschau von Sozialstruktur und Strafpraxis, wie sie von Otto Kirchheimer und Georg Rusche bereits in den 1920er Jahren vorgeschlagen wurde, erweisen sich die Forderungen nach schärferen Strafen zur besseren Verbrechensbekämpfung als genauso verfehlt wie die aktuelle Diskussion über das »hohe Niveau« der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland. Die Frage, wie Gesellschaften mit Kriminalität umgehen sollten, kann ohne den Verweis auf die armutsverschärfende Wirkung der gegenwärtigen Strafpraxis nicht mehr angemessen diskutiert werden.

Hintergrund des Gesprächs bildet der Themenschwerpunkt »Armut und Gefängnis« (hg. von Il-Tschung Lim, Daniel Loick, Nadine Marquardt und Felix Trautmann) in WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2/2017.

Friederike Boll hat Rechtswissenschaften in Frankfurt und Wien studiert und arbeitet derzeit in Frankfurt als Anwältin im Arbeitsrecht, Antidiskriminierungsrecht und LGBTIQ-Personenstandsrecht. Sie ist darüber hinaus aktives Mitglied in der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ), dem bundesweiten Netzwerk kritischer Juristen (kritjur) und in verschiedenen queeren Kontexten.

Franziska Dübgen lehrt am Institut für Kulturwissenschaft der Universität Koblenz-Landau und ist dort Ko-Leiterin des Forschungsprojekts »Diversität, Macht und Gerechtigkeit«. Promoviert hat sie mit einer Arbeit über zeitgenössische Gerechtigkeitstheorien der Kritischen Theorie im Spiegel postkolonialer Ansätze. Von 2015 bis 2017 war sie Leiterin der Nachwuchsforschungsgruppe »Jenseits einer Politik des Strafens« an der Universität Kassel. Für den Junius-Verlag verfasste sie eine Einführung zu Theorien der Strafe.

Felix Trautmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung. Aktuell arbeitet er in einem Forschungsprojekt mit dem Titel »Paradoxien der Gleichheit. Die Demokratie und ihre Kulturindustrie«. Darüber hinaus ist er Mitglied von KNAS[ ], der Initiative für den Rückbau von Gefängnissen.

Frank Wilde arbeitet als Sozialpädagoge in verschiedenen Arbeitsbereichen der freien Straffälligen- und Wohnungslosenhilfe in Berlin. Aktuell ist er Projektleiter beim Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg in einem Beratungsangebot für ältere Strafgefangene. 2016 ist seine Dissertation Armut und Strafe. Zur strafverschärfenden Wirkung von Armut im deutschen Strafrecht (Springer VS-Verlag) erschienen.

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Omar Robert Hamilton

Stadt der Rebellion

Wagenbach Verlag, 24 €
978-3-8031-3294-9

Kairo 2011: Endlich dämmerte da am verfinsterten Firmament die große Freiheit herauf. Endlich erhoben sich die Jungen, Progressiven, Utopisten, die Betrogenen und die Geschundenen, um für ihre Rechte zu kämpfen.

Das Internet half, das marode System Mubaraks zu stürzen. Facebook, Twitter, YouTube: Supranationale Verteiler, Katalysatoren der großen Revolution, die die Stimmen von Millionen Menschen zu einem wütenden Chor zusammenfassten, der das autoritäre System in den Orkus twitterte.

Für wenige Momente in der Geschichte des Landes schien sich all das zu einem drehbuchreifen Narrativ zu fügen. Ein Happy-End deutete sich an. Und ein weiter Raum öffnete sich, in dem alles möglich schien: „Ja, Kairo ist Jazz. Kein Lounge-Jazz, der die Geschichte weißen will, sondern die Hitze von New Orleans und die Schlachthofabfälle von Chicago. Der Jazz, der Schönheit in der Zerstörung der Vergangenheit hervorbringt, der Jazz einer unbekannten Zukunft, der Jazz, der Freiheit von der schlimmen, alten Zeit verspricht.“

Omar Robert Hamilton erzählt die Geschichte dreier junger Menschen, die sich, als die Proteste auf dem Tahrir-Platz anheben, zu einem Medienkollektiv zusammenfinden, um für ihre Idee von Ägypten zu kämpfen.

Wütend, idealistisch und voller Elan werfen sich das junge Paar Khalil und Mariam und ihr Freund Hafez in den Kampf. Sie filmen, fotografieren, besprechen sich mit anderen Aktivisten, organisieren Protestgruppen und hauen eingekerkerte Revolutionäre aus den Gefängnissen des Regimes heraus. Sie sind intelligent und wissen die internationale Öffentlichkeit des Internets für sich zu nutzen. Sie schonen sich nicht, und die Energie scheint grenzenlos zu sein. Doch wieder und wieder wird das Durchhaltevermögen, werden die Ideale der jungen Leute durch die politischen Machtverschiebungen erschüttert: Auf Mubarak folgt Mursi, auf Mursi Feldmarschall as-Sisi, und allen ist gemein, dass sie gemeinsame Sache mit Polizei und Militär machen und dass sie keinerlei Skrupel haben, Gegenstimmen mit äußerster Brutalität zum Schweigen zu bringen.

Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass die politischen und gesellschaftlichen Realitäten von Kräften bestimmt werden, die im Verborgenen zu operieren scheinen, unberührt von den Protesten des Volkes. Die Sinnfrage beginnt, die anfängliche Euphorie und die kleinen Triumphe über Mubarak und den Polizeiapparat anzukränkeln, das Vertrauen in die Kraft der Medien erodiert, und schließlich droht auch das Kollektiv – und nicht zuletzt die Beziehung zwischen Khalil und Mariam – an der um sich greifenden Resignation zu zerbrechen. „Ich erinnere mich an eine Zeit, in der ich, von jeder Kleinigkeit, jeder Zukunftsmöglichkeit in Ekstase versetzt, durch die Straßen lief. Alles, was ich jetzt noch sehe, sind seelenlose Neonröhren und sterbende Tiere und zersplitterte Fenster in bröckelnden Gebäuden und unausweichliche Erinnerungen, die diese schweflige Stadt unserer Toten ausmachen, unserer Mega-Nekropole des Scheiterns.“

Stadt der Rebellion ist ein Buch, das die faktischen Ereignisse der ägyptischen Revolution mit einer fiktiven Geschichte verzahnt und auf diesem Weg einen Einblick in die Dynamik der Protestbewegung gewährt. In prägnanten Bildern werden die Gräuel der Straßenschlachten, die unermessliche Trauer der Eltern, deren Söhne und Töchter bei den Zusammenstößen ihr Leben ließen, die Verwirrungen über die politischen Umwälzungen und die Gedankenwelt jugendlicher Revolutionäre geschildert. Dabei bedient sich Hamilton mal des elegischen Monologs, mal der Schilderung hitziger Diskussionen und immer wieder der Kürzestform von Tweets, SMS und Nachrichten, um eine dichte, bedrückende, aber mitreißende Atmosphäre zu schaffen, die glanzvoll die Stimmung zwischen großer Hoffnung, bitterer Resignation und abgeklärter Nüchternheit wiedergibt.

Dieser Roman ist nicht zuletzt die große Erzählung einer im jugendlichen Feuer geborenen Utopie, die durch die harten und unerbittlichen Realitäten politischen Machtmissbrauchs und staatlicher Willkür zu einer unverwüstlichen Idee, einer eisernen Hoffnung wird, für die es sich zu kämpfen lohnt.

Johannes Fischer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung

Edna O’Brien – Die kleinen roten Stühle

Steidl Verlag, 24 €
978-3-95829-369-4

In den kleinen, abgelegenen irischen Ort Cloonoila, der schon mal bessere Tage gesehen hat, kommt ein Fremder. Eine beeindruckende Erscheinung, hochgewachsen, grauhaarig, höflich, gebildet, zurückhaltend. Er wolle sich in dem Ort als Heiler und Sexualtherapeut niederlassen, sagt er. Der Fremde nennt sich Dr. Vladimir Dragan, stammt aus Montenegro und ist, wie der Leser bald erfährt, ein gesuchter Kriegsverbrecher, in dem man unschwer Radovan Karadžić erkennen kann.

Die ahnungslosen Bewohner, besonders die Frauen, sind beeindruckt. Nach und nach geraten alle in seinen Bann. Besonders Fidelma, die in ihrer kinderlos gebliebenen Ehe mit einem älteren Mann unglücklich ist, erliegt Dr. Vlads Charisma, beginnt ein Verhältnis mit ihm und wird schwanger – was in einer so kleinen Gemeinde, trotz aller Vorsicht, nicht unbemerkt bleibt. Eines Tages sind die Reifen von Dr. Vlads Auto zerstochen, die Scheiben eingeschlagen, und auf dem Pflaster findet sich eine obszöne Schmiererei. Bald darauf kommt die Polizei und verhaftet Vlad, und an Fidelmas Tür klingeln drei finstere Gestalten. Danach wird nichts in ihrem Leben so sein wie vorher …

Im zweiten Teil des Buches lebt Fidelma in London. Ihr Kind hat sie verloren, ihr Mann hat sie verstoßen. Sie hat keine feste Bleibe und schlägt sich mit einem schlecht bezahlten, unsicheren Putzjob durch. Die Menschen in ihrer Umgebung sind zumeist Migranten und Illegale, Menschen, die in ihren Herkunftsländern oder auf der Flucht Entsetzliches erlebt haben und die oft nicht wissen, wie es in ihrem Leben weiter gehen soll. Hier, ganz unten angekommen, unter diesen Menschen, findet Fidelma wieder zu sich.

Im Dritten Teil fährt sie nach Den Haag, wo Dr. Vlad am internationalen Gerichtshof der Prozess gemacht wird. Bei einem Besuchstermin im Gefängnis versucht sie zu erzählen, was sie erlebt hat. Aber ihr Gegenüber hört nicht zu. In einer grandiosen Szene zeigt die Autorin einen Menschen, der völlig uneinsichtig in die eigene Schuld ist und sich in seiner Selbstbezogenheit als Opfer begreift.

Edna O’Brien, die große alte Dame der irischen Literatur, hat mit Die kleinen roten Stühle ein beeindruckendes und verstörendes Buch geschrieben. Was im ersten Teil wie das Klischee einer pittoresken irischen Idylle voller skurriler Typen beginnt, geht binnen kurzem weit über das Private hinaus und weitet sich zu einem gesellschaftlichen und politischen Panorama. Das Buch erzählt mit großer sprachlicher Kraft von Liebe und Sehnsucht, von Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit, von gesellschaftlichen Zuständen, in denen der Einzelne nichts zählt, und von Zufallsgemeinschaften, in denen es Wärme und Solidarität gibt. Das ist ganz große Literatur und unbedingt empfehlenswert.

Ruth Roebke, Bochum

Buchempfehlung

Jesmyn Ward

Singt ihr Lebenden

Kunstmann Verlag, 22 €
978-3-95614-224-6

Für eine afroamerikanische Familie, die in Armut an der Golfküste von Mississippi lebt, ist es schwer, sich die Welt zum Freund zu machen. Aber die Großeltern des 13-jährigen Jojo und seiner kleinen Schwester Kayla tun alles, um ihre Enkel für das Leben in einer immer noch in Schwarz und Weiß gespaltenen Gesellschaft zu stärken. Ein bildmächtiger Familienroman, der zugleich ein eindringliches Porträt des amerikanischen Süden zeichnet: große Literatur!

An seinem 13. Geburtstag steht Jojo in aller Frühe mit dem Großvater auf. Sie treten gemeinsam in den kalten, windigen Morgen, lassen das selbst gebaute Haus hinter sich, gehen hin zu den Ställen auf der Lichtung, zu den Tieren. Der Junge weiß, was sein Großvater vorhat. Ein Bock wird zu Ehren des Enkels an diesem Tag sein Leben lassen, und Jojo will dem Großvater zeigen, dass er des Geschenks würdig ist. Er hilft ihm, die Ziege zu schlachten, von innen nach außen zu kehren, die Haut abzuziehen. Irgendwann ist der Gestank dann doch zu mächtig, und Jojo flieht aus dem Schuppen.

Am gleichen Tag ruft Jojos weißer Vater an, nicht um seinem Sohn zum Geburtstag zu gratulieren, sondern um Leonie, seine Frau, und die Kinder zu seiner Freilassung aus dem staatlichen Zuchthaus einzubestellen. Die Fahrt wird eine Tour de force, das zunächst unterschwellige Unbehagen zur konkreten Bedrohung. Und trotzdem siegt am Ende die Hoffnung.

Es sind drei, die diese Geschichte erzählen: die Mutter, der Sohn und ein Junge, der schon lange tot ist und keinen Frieden findet. In ihrer Sprache, in ihren Gedanken wird Vergangenheit und Gegenwart, wird die harte Wirklichkeit, die trockene rote Erde, wird Tod und Verachtung, wird aber auch die übergroße Liebe, die Poesie der Natur und ihre archaische Botschaft so lebendig, dass man sich dem Gesang nicht entziehen kann. In diesem Roman fließen Bilder und Sprache – einer Infusion gleich – auf direktem Weg in Körper, Geist, Herz. Überwältigend!

Susanne Rikl, München

Vorstellung der neuen Zeitschrift Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart

Hannah Peaceman und Micha Brumlik (Hrsg.)

Dienstag 6. März 2018, 20 Uhr

Jalta – Selbstermächtigung. Desintegration. Allianzen

Moderation: Karen Körber

Im Oktober 2017 ist die zweite Ausgabe der Zeitschrift Jalta – Positionen zur Jüdischen Gegenwart mit dem Themenschwerpunkt „Desintegration“ erschienen. Die jüdischen und nicht-jüdischen Autor*innen erkunden die Potentiale einer Gesellschaft der Vielen, die sich über die Vorstellung einer auf Einheit basierenden Gemeinschaft hinwegsetzt.

Zwei der Herausgeber*innen, Micha Brumlik und Hannah Peaceman, stellen Jalta im Kontext der politischen Verhältnisse nach der Bundestagswahl sowie dem Erstarken rechter und faschistoider Bewegungen vor. Sie verorten die Beiträge zur jüdischen Gegenwart und diskutieren vergangene und gegenwärtige Interventionsmöglichkeiten jüdisch-postmigrantischer Allianzen.

Hannah Peaceman studierte Philosophie, Politikwissenschaften und Gender Studies in Marburg, London, Frankfurt und Jena. Sie promoviert am Max-Weber-Kolleg in Erfurt. Von 2010 bis 2016 war sie Stipendiatin des Ernst-Ludwig-Ehrlich Studienwerks (ELES).

Micha Brumlik ist emeritierter Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main. Von 2000 bis 2005 war er Leiter des Fritz Bauer Instituts. Seit 2013 ist er Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin/Brandenburg in Berlin.

Karen Körber, promovierte Soziologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg. 2012-14 war sie die erste Fellow am jüdischen Museum Berlin. Forschung und Publikationen zu jüdischer Diaspora, Migration und Transnationalisierung.

 

Buchempfehlung – Gert Loschütz „Ein schönes Paar“

Schöffling Verlag 22€

Die Haushaltshilfe des Vaters ruft an, er ist gestorben. Gerade mal vier Wochen später kommt der Anruf aus dem Altersheim, in dem die Mutter die letzten Jahre verbrachte. Überraschend ist auch sie gestorben.

Beim Sichten der Hinterlassenschaften findet der Sohn Fotos, tauchen Erinnerungen auf. Scheinbar distanziert, fast kriminologisch genau schaut er zurück und betrachtet die Spuren des Lebens dieses einstmals so schönen Paares.

Seine Betroffenheit wird deutlich in der Beharrlichkeit, mit der er der Geschichte seiner Eltern nachgeht. Ihre Liebesgeschichte hatte trotz des Krieges verheißungsvoll begonnen. Aber dann hatten sich die Eltern bald, nachdem sie in den Westen gekommen waren, getrennt. Er, der Junge, war bei Georg, dem Vater, geblieben. Die Mutter, Herta, war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Wann hatte das Unglück angefangen? 1956 nach dem Aufstand in Ungarn hatten die Eltern beschlossen, in den Westen zu gehen, solange es noch ging, und alles Erreichte, Freunde und Familie zu verlassen, um noch einmal von vorne zu beginnen. Während Georg vorausfuhr, setzte Herta das Ersparte in eine Kamera um. Denn die könne man bestimmt im Westen gut wieder verkaufen, so zumindest der Plan.

Der Neubeginn war schwierig. Und der Verkauf der Ostkamera im Westen stellte sich als unmöglich heraus. Um Herta zu demonstrieren, dass sie keinen Fehler gemacht hatte, der Kauf der Kamera doch richtig gewesen war, „lieh“ Georg sich, heimlich, wie er sich wohl dachte, das Geld von seiner Firma. Nun war die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten.

Der Vater wurde zwar in der Öffentlichkeit rehabilitiert. Aber Georg und Herta waren, um sich gegenseitig zu schützen, beide aus Liebe schuldig geworden. Gleichzeitig aber hatten sie sich damit auch der gegenseitigen Verachtung ausgesetzt. So konnten sie nicht mehr zusammenleben, konnten sich nur noch trennen. Und wie lebt es sich ohne den geliebten Menschen? Die Geschichte des schönen Paares ist eine Geschichte über den Verlust der Vorstellung eines möglichen Gelingens.

Gert Loschütz beschreibt hier akribisch die sichtbare Oberfläche eines funktionierenden Alltags, auf der sich die Strudel im Untergrund doch abzeichnen. Der Roman bezieht seine Spannung aus der Tiefenwahrnehmung und ihrer Spiegelung an der Oberfläche sowie ihrer Darstellung in einer genauen und schnörkellosen Sprache. Meisterhaft!

Mation Victor, Frankfurt am Main

Nachrichten aus dem gelobten Land – Die Briefe der Anuta Sakheim

weissbooks, 14.- €

Buchvorstellung und Lesung

Montag, 5. Februar 2018, 20 Uhr

Lesung der Briefe: Alice von Lindenau

Einführung: Prof. DW Dreysse, Architekt und Mitglied der Initiative 9. November

Im April 1933 flieht die junge Frankfurter Witwe Anuta Sakheim mit ihrem kleinen Sohn Ruben nach Palästina. Im fremden Land, dessen Sprache sie nicht spricht, kauft sie von ihrem letzten Geld ein Auto – und verdient als erste Taxifahrerin in Tel Aviv ihren Lebensunterhalt. Zeit für Ruben bleibt ihr kaum. Um schließlich dem inzwischen Fünfzehnjährigen eine Zukunft zu ermöglichen, schickt sie ihn schweren Herzens 1938 zu ihrer Schwägerin nach New York. Es wird ein Abschied für immer. Einsam und mittellos nimmt sich Anuta Sakheim im Juli 1939 das Leben.

Ihr Sohn, heute 94 Jahre alt, schreibt: „Wenn wir in Deutschland geblieben wären, wäre ich 1943 zwanzig Jahre alt gewesen. Das war gerade das richtige Alter, um in ein KZ wie Auschwitz geschickt zu werden. Dieses Schicksal hat mir meine liebe und weitsichtige Mutter erspart.“

Anutas Briefe berichten von ihren Sorgen, ihrem Alltag im fremden Land und von der Sehnsucht nach ihrem Sohn sowie von der immer gefährlicher werdenden Lage in Palästina. Herausgegeben wurden die Briefe von Katharina Pennoyer und der Initiative 9. November.

Die Initiative 9. November e. V. gründete sich 1988, um die jüdische Vorgeschichte des Hochbunkers an der Friedberger Anlage zu erschließen. An dieser Stelle hatte die Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft gestanden, die 1938 von den Nazis zerstört und danach mit dem Hochbunker überbaut worden war.

Alice von Lindenau, Schauspielerin, geboren 1983,  Engagements zuletzt beim Schauspiel Frankfurt und den Burgfestspielen Bad Vilbel, Publikumspreis der Schauspielbühnen Stuttgart für die beliebteste Schauspielerin 2012/13 als “Effi Briest”.

Buchempfehlung

Manja Präkels

Als ich mir Hitler Schnapskirschen aß

Verbrecher Verlag, 20 €
978-3-95732-272-2

Der vieldiskutierte Roman von Manja Präkels thematisiert ein von der breiten Öffentlichkeit vielfach verleugnetes oder bestenfalls unbeachtetes Phänomen: die Erstarkung rechtsradikaler, neonazistischer Gruppen in Deutschland nach der Wende. Angelehnt an ihre eigenen Erfahrungen aus ihrer Jugend in der ostdeutschen Provinz in den frühen 90er Jahren, verdeutlicht dieser Roman, wieso Phänomene wie PeGiDa und AfD für Präkels keineswegs überraschend sind. Bei aller politischen Brisanz gelingt der Journalistin jedoch darüber hinaus ein literarisch gelungenes Debüt.

Was geschieht, wenn man nach langer Abwesenheit an den Ort seiner Kindheit und Jugend zurückkehrt? Und wenn dieser Ort nicht Unbeschwertheit oder Geborgenheit vermittelt, sondern Angst? Wenn man nach Jahren des Exils zurückkommt und Hitler einem mit einem Mal wieder als der alte Schulfreund erscheint, der er einmal war?

Früher sind Oliver und Mimi oft zusammen angeln gegangen. Obwohl sie wenig miteinander gesprochen haben, bestand doch eine Freundschaft zwischen ihnen. Dann kam die Wende, und aus Oliver wurde Hitler, Anführer einer von zahlreichen Neonazigruppen, die zu dieser Zeit die Kontrolle über das soziale Leben übernahmen, wie Mimi ihre Erinnerungen beschreibt. In ihrer Rückschau auf die Ereignisse, wird der Protagonistin klar, dass diese frühe Freundschaft zu Hitler/Oliver ihr das Leben gerettet haben könnte. Denn mit dem Erstarken der Neonazis wurden sie und ihre Freunde, die „Zecken“, zu Gejagten. Denn der Einfluss der Rechten auf die Gesellschaft scheint übermächtig und allgegenwärtig und wird doch, auch damals schon, totgeschwiegen. Nazis stürmen Diskotheken und Kneipen, die “Zecken” werden verfolgt und verprügelt. Ein Freund überlebt einen dieser Überfälle nicht. Die Täter werden freigesprochen, die Angst wächst, die Übergriffe werden häufiger. Von ihrer Familie wird Mimi Verfolgungswahn vorgeworfen, alles Einbildung, Übertreibung. Es folgt die Flucht nach Berlin, doch der Neuanfang, den die Großstadt verspricht, bleibt aus.

Manja Präkels, die sich mit neonazistischen Gruppierungen und Strömungen auch in ihrer journalistischen Tätigkeit beschäftigt und hier auch ein Stück weit ihre eigene Biografie verarbeitet, schreibt mit einer ungeheuren Sachkenntnis. Dabei gelingt es ihr wie wenigen ihrer journalistischen KollegInnen, sich auf die literarische Form des Romans einzulassen. Durch ihren direkten Erzählstil überträgt sich die beklemmende Stimmung auf die Leserin und sorgt dafür, dass das Buch einen lange beschäftigt.

In Deutschland, in den neuen Bundesländern wie in den alten, wurde und wird rechte Gewalt systematisch geleugnet oder kleingeredet. Mit ihrem Roman wie mit ihrer journalistischen Arbeit leistet Manja Präkels einen wichtigen Beitrag zur Debatte.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co. Frankfurt

Buchempfehlung – Arno Geiger „Unter der Drachenwand“

Hanser Verlag 26€

Ein junger Soldat kehrt schwer verwundet von der Ostfront zurück, wird in einem saarländischen Lazarett aufgepäppelt und dann zur Rekonvaleszenz in die Heimat geschickt. Im Wiener Elternhaus hält er es nicht lange aus: Die Dinge scheinen in keinerlei Beziehung mehr zu ihm zu stehen, der Krieg hat sämtliche Verbindungen gekappt, und die tumben Durchhalteparolen des Vaters, der sich wie so viele Daheimgebliebene verzweifelt an die Idee des Endsiegs klammert, sind nach fünf ernüchternden Frontjahren purer Hohn. Also beschließt Veit Kolbe, Protagonist des neuen Romans von Arno Geiger, die Flucht aufs Land, nach Mondsee – einem kleinen, malerischen Ort im Salzkammergut –, um in ländlicher Abgeschiedenheit zu genesen und dem Krieg vielleicht endgültig zu entkommen.

Es heißt, dass Krieg immer mehr ist, als das, was an der Front zwischen Granattrichtern und rattenverseuchten Unterständen stattfindet. Und dass gerade das Grauen etwas ist, das sich nicht auf das Schlachtfeld begrenzen lässt. Krieg ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, unter dem alle gleichermaßen leiden – und doch jeder für sich.

Vor der Folie des idyllischen Örtchens Mondsee entfaltet Arno Geiger ein mehrstimmiges und vielschichtiges Panorama des Lebens der von der Front Verschonten: Da ist, neben dem seelisch zerrütteten Soldaten Veit Kolbe, eine junge Frau, die auf ihren im Feld stehenden Ehemann wartet und von ihrer Mutter mit Nachrichten aus dem ausgebombten Darmstadt versorgt wird. Da ist die Lehrerin aus Wien, die mit einer Horde Jungmädel an den Mondsee verschickt wurde und der eines der Mädchen verloren geht. Da ist der gärtnernde Brasilianer, der Orchideen und Tomaten züchtet und der sich als unverbesserlicher Freidenker in größte Schwierigkeiten bringt. Und schließlich ist da die jüdische Kleinfamilie, die vor dem immer weiter um sich greifenden Rassenwahn von Wien nach Budapest flieht und schließlich auseinandergerissen wird.

All diese unterschiedlichen Schicksale – die teilweise, wie im Falle Veit Kolbes oder des jüdischen Familienvaters, in Brief- bzw. Tagebuchform eine eigene Stimme bekommen, teilweise aber nur in den Berichten der Schreibenden abgebildet werden –, sind fein und mit großer Sensibilität ausgearbeitet. Jede Geschichte wird spannungsvoll erzählt: Die Hoffnungen, die Ängste und die Verzweiflung der Figuren werden durch die Wahl der Erzählform zur äußersten Plastizität gebracht: Das drängende Telegrammstil-Stakkato der Briefe aus dem zerstörten Darmstadt wird von den geschliffenen Sätzen aus den Briefen des jüdischen Vaters kontrastiert, die feinen Beobachtungen und präzisen Beschreibungen in Veit Kolbes Tagebucheinträgen von den immer verzweifelter werdenden Liebesbriefen des Wiener Pennälers. Jede erzählende Figur hat ihren eigenen Duktus, ihre ganz eigene Geschichte, und jede Figur ist mit ihrem Leid – und ihrem Schreiben darüber – gewissermaßen allein. Und doch sind alle Geschichten miteinander verwoben, die Figuren tauchen in den Erzählungen der anderen auf, der einen Perspektive wird die andere beigestellt.

Eine große Leistung dieses Romans besteht aber darin, einen erschütternden Querschnitt durch die Kriegsgesellschaft der Jahre 44 bis 45 zu präsentieren: Keines der in diesem Buch ausgestalteten Schicksale ist einzigartig. Ein jedes könnte exemplarisch für eine ganze Bevölkerungsschicht stehen, ein jedes ist – mit allem grauenhaften Leid, mit aller überschwänglichen Hoffnung, mit allem Mut – Ausdruck einer Kriegsrealität, die zur damaligen Zeit auf verstörende Art und Weise „Normalität“ gewesen ist.

Arno Geiger schreibt hier ein Buch über den Krieg, über den anderen Krieg, der fernab der Front wie ein leises Gift in die Gesellschaft und in die zwischenmenschlichen Beziehungen einsickert, der Verbindungen zerreißt und kommunikative Brücken zerstört, der aber auch Hoffnungen auf ein baldiges Ende, auf den guten Ausgang schürt.

Unter der Drachenwand ist ein wohlkonzipierter, großartig geschriebener Roman, der spannungsreich und – trotz beinahe lyrischer Passagen – voller Tempo einen einfühlsamen und kaleidoskopischen Blick auf die Gesellschaft der letzten Kriegsjahre wirft.

Johannes Fischer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt