Buchempfehlung

Edna O’Brien – Die kleinen roten Stühle

Steidl Verlag, 24 €
978-3-95829-369-4

In den kleinen, abgelegenen irischen Ort Cloonoila, der schon mal bessere Tage gesehen hat, kommt ein Fremder. Eine beeindruckende Erscheinung, hochgewachsen, grauhaarig, höflich, gebildet, zurückhaltend. Er wolle sich in dem Ort als Heiler und Sexualtherapeut niederlassen, sagt er. Der Fremde nennt sich Dr. Vladimir Dragan, stammt aus Montenegro und ist, wie der Leser bald erfährt, ein gesuchter Kriegsverbrecher, in dem man unschwer Radovan Karadžić erkennen kann.

Die ahnungslosen Bewohner, besonders die Frauen, sind beeindruckt. Nach und nach geraten alle in seinen Bann. Besonders Fidelma, die in ihrer kinderlos gebliebenen Ehe mit einem älteren Mann unglücklich ist, erliegt Dr. Vlads Charisma, beginnt ein Verhältnis mit ihm und wird schwanger – was in einer so kleinen Gemeinde, trotz aller Vorsicht, nicht unbemerkt bleibt. Eines Tages sind die Reifen von Dr. Vlads Auto zerstochen, die Scheiben eingeschlagen, und auf dem Pflaster findet sich eine obszöne Schmiererei. Bald darauf kommt die Polizei und verhaftet Vlad, und an Fidelmas Tür klingeln drei finstere Gestalten. Danach wird nichts in ihrem Leben so sein wie vorher …

Im zweiten Teil des Buches lebt Fidelma in London. Ihr Kind hat sie verloren, ihr Mann hat sie verstoßen. Sie hat keine feste Bleibe und schlägt sich mit einem schlecht bezahlten, unsicheren Putzjob durch. Die Menschen in ihrer Umgebung sind zumeist Migranten und Illegale, Menschen, die in ihren Herkunftsländern oder auf der Flucht Entsetzliches erlebt haben und die oft nicht wissen, wie es in ihrem Leben weiter gehen soll. Hier, ganz unten angekommen, unter diesen Menschen, findet Fidelma wieder zu sich.

Im Dritten Teil fährt sie nach Den Haag, wo Dr. Vlad am internationalen Gerichtshof der Prozess gemacht wird. Bei einem Besuchstermin im Gefängnis versucht sie zu erzählen, was sie erlebt hat. Aber ihr Gegenüber hört nicht zu. In einer grandiosen Szene zeigt die Autorin einen Menschen, der völlig uneinsichtig in die eigene Schuld ist und sich in seiner Selbstbezogenheit als Opfer begreift.

Edna O’Brien, die große alte Dame der irischen Literatur, hat mit Die kleinen roten Stühle ein beeindruckendes und verstörendes Buch geschrieben. Was im ersten Teil wie das Klischee einer pittoresken irischen Idylle voller skurriler Typen beginnt, geht binnen kurzem weit über das Private hinaus und weitet sich zu einem gesellschaftlichen und politischen Panorama. Das Buch erzählt mit großer sprachlicher Kraft von Liebe und Sehnsucht, von Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit, von gesellschaftlichen Zuständen, in denen der Einzelne nichts zählt, und von Zufallsgemeinschaften, in denen es Wärme und Solidarität gibt. Das ist ganz große Literatur und unbedingt empfehlenswert.

Ruth Roebke, Bochum