Wie feiert man eine Messe, wenn Sie gar nicht stattfindet? Wie feiert man Verlage, wenn sie gar nicht da sind und Autoren, die nicht kommen?
Am besten, indem man ein Buch in die Hand nimmt und liest, ein Buch, das nicht virtuell, sondern physisch mit all seinen Ecken und Kanten in der Hand liegt, mit einem Schnitt so scharf und Charakteren so spannend, dass wir den Sicherheitsabstand vergessen und den Heldinnen ganz nahe rücken.
Am morgigen langen Messesamstag der Buchhandlungen in Frankfurt und Offenbach können Sie bis 18 Uhr bei uns stöbern und lesen und reden und so feiern, wie das gerade eben möglich ist.
Der Vertreter der Verlage Hanser und Beck Jochen Thomas-Schumann wollte uns im Laden einen kleinen Messestand aufbauen und mit den Autoren Kurt Drawert und Thilo Krause den Tag noch versüßen – leider müssen wir diesen Teil des Aktionstages krankheitsbedingt absagen.
Wir freuen uns auf Sie morgen zwischen 9 und 18 Uhr, dem 1. Aktionstag der Buchhandlungen initiiert von Open Books, dem Lesefest, auf dem Sie Autoren auch 2020 noch leibhaftig begegnen können – und uns bei dem ein oder anderen Buchtisch.
Die 1923 in der Bretagne geborene Annette Beaumanoir stammt aus einfachen Verhältnissen. Sie wächst in einem liebevollen Elternhaus auf. “Glück ist der Grundton ihres Alltags” heißt es, und diesem Glück verdankt Annette ihren Gerechtigkeitssinn, den Glauben an Freiheit und Gleichheit und ein unerschrockenes Herz.
Mit neunzehn Jahren – sie ist gerade zum Medizinstudium nach Paris gegangen – tritt sie der kommunistischen Résistance bei. Als sie zwei jüdischen Jugendlichen das Leben rettet und damit gegen die Regeln der “clandestines” verstößt, geht sie nach Lyon, wo sie im Widerstand der Gaullisten Kurierdienste leistet. Abgeschnitten von allen persönlicheren Kontakten, von ihrer Familie und dem Mitstreiter Roland, den sie liebt, erlebt sie das Kriegsende in Marseille. Dass Roland von ein paar Bauern erschlagen worden ist, erfährt sie erst später.
Nun ist Frieden. Annette heiratet den Arzt und
Kommunisten Jo. Sie schließt das Medizinstudium ab, bekommt Kinder. Aber
der Frieden hält für sie nicht: In den fünfziger Jahren beginnt der
Algerienkrieg, und selbstverständlich ist Annette auf Seiten der
algerischen Unabhängigkeitskämpfer. Sie engagiert sich beim FLN,
wird verraten und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sie kann nach
Tunesien fliehen, allerdings um den Preis, ihre Familie zurück zu
lassen. Dort arbeitet sie als Ärztin. Nachdem Algerien die
Unabhängigkeit erlangt hat, geht sie dort hin, um für die neue Regierung
im Gesundheitsministerium zu arbeiten. Aber das, was sie bereits nach
dem Ende des Weltkriegs erlebt hat, erlebt sie auch hier: Den
rivalisierenden Widerstandsgruppen geht es mehr um die Erlangung der
Macht als um das Wohl der Menschen. Sie muss erneut fliehen – diesmal
vor dem putschenden Militär. Da es in Frankreich immer noch keine
Amnestie für “Terroristen” gibt, landet sie schließlich in der Schweiz.
So viel zur Handlung, die hier nur absolut verkürzt wiedergegeben wird.
Anne Weber hat die über neunzigjährige Annette Beaumanoir
2018 kennengelernt und ihre Geschichte – gestützt auf Gespräche mit ihr
und ihren in Deutschland unter dem Titel Wir wollten das Leben ändern
erschienen Erinnerungen – aufgeschrieben. Man meint, beim Lesen
Annettes Stimme zu hören, aber auch die der Autorin, die das Erzählte,
oft ironisch, kommentiert: Wie verhält es sich mit dem Idealismus, den
Prinzipien und dem Streben nach einer besseren Gesellschaft? Wie viel
Menschlichkeit opfert man den Ideen, über wie viel ist man bereit
hinwegzusehen um des hehren Ziels willen? Was bleibt für diesen Kampf
auf der Strecke?
Annette, ein Heldinnenepos hat Anne Weber das
Buch genannt, und „Epos“ ist hier wörtlich zu nehmen – äußerlich
erkennbar an den ungewöhnlichen Zeilenumbrüchen. Spricht man den Text
laut oder intoniert ihn stumm beim Lesen, erkennt man seinen inneren
Rhythmus und die poetische Struktur. Trotz dieses Kunstgriffs liest das
Buch sich packend, lebendig und wirkt an keiner Stelle gekünstelt. Das
ist eine doppelte Freude – man liest eine temporeiche, atemberaubende
Lebensgeschichte in der Form antiker Heldenerzählungen – ein
stilistisches Wagnis, das Anne Weber wunderbar gelungen ist!
Wer oder was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Zucker
denken? Der süße Geschmack, Naschwerk, Überfluss, aber auch
Selbstzügelung und Beherrschung? Vielleicht auch seine
Produktionsbedingungen? Dorothee Elmiger führt anhand ihres sogenannten
Recherchetagebuchs suchend durch manchmal dichtverwobene, manchmal kaum
korrespondierende Anekdoten und Schilderungen. Die Gegenstände der
Aufzeichnungen reichen von Schriftstellerinnen und ihrer Hassliebe zum
Essen im Allgemeinen und Zucker im Besonderen bis hin zum Zuckerkonsum
des Ökonomietheoretikers Adam Smith und des Führers der haitianischen
Revolution Toussaint Louverture. Andere Erzählstränge des Romans sind
weniger schnell in dem Kontext Zucker und Zuckerfabrik zu verorten. So
etwa die Geschichte rund um den Schweizer Lottogewinner Werner Bruni.
Die Szene, in der es um die Versteigerung seiner Besitztümer geht,
bildet den Angelpunkt des Romans, auf den das erzählende Ich immer
wieder zurückkommt. Aber erst mit der Zeit entfalten sich die
symbolischen, allegorischen und logischen Verbindungen zwischen den
Geschichten. Es lohnt sich jedoch, der Autorin jenen Vertrauensvorschuss
zu gewähren, den es zu Beginn braucht, um sich in das Gewirr loser
Erzählungsanfänge zu begeben. Nicht zu Unrecht steht am Beginn des
Romans das Bild eines Gestrüpps.
Wir sind es gewohnt, uns als LeserInnen durch einen Text
führen zu lassen, Zeit- oder Themensprünge in Maßen und deutlich
markiert hinzunehmen. Elmiger hingegen lässt sich von der Form des
(wissenschaftlichen) Essays inspirieren, der verschiedene Themen
miteinander in Beziehung setzt. Dabei bleibt sie aber spürbar und
glücklicherweise im Bereich der Litertur. So gehören nicht von ungefähr
die Szenen der auf ihre Liebhaber wartenden Erzählerin mit zu den besten
des Buches. Im Verlauf des Lesens werden der LerserIn die verschiedenen
Figuren – fiktive wie reale – immer vertrauter, man beginnt, sich im
Gestrüpp zurechtzufinden, und kann sich so über erstaunlichen Funde und
Besonderheiten freuen, die einem sonst entgangen wären.
Dorothee Elmigers Aus der Zuckerfabrik kreist
vor allem um das Thema des Begehrens, dessen Spannbreite aber hier vom
Essen als sexueller (Ersatz-) Befriedigung bis hin zum vom Selbst
entfremdeten Begehren, welches das Ergebnis der ausbeuterischen
Produktionsverhältnisse darstelle. Freud und Marx scheinen so als
Referenzpunkte immer wieder auf, nehmen aber keinen gliedernden
Stellenwert ein, sondern erscheinen in einer Reihe mit Heinrich von
Kleist (Die Verlobung von St. Domingo) oder Deborah Levy.
Das erstaunliche bleibt dabei, dass Elmiger nach
anfänglichen Orientierungsschwierigkeiten, die zugestanden seien, der
Versuchung des Überfrachtens widersteht und den Roman lesbar und
unterhaltsam macht. Der sehr eigene Stil erlaubt es der Autorin, sich
den verschiedensten Dingen zuzuwenden, und diese Zuwendung wird von
einer je spezifischen Faszination motiviert, die sich dem Text anmerken
lässt.
Mit der Urteilsverkündung am 11. Juli 2018 im Saal A 101
des Münchener Strafjustizzentrums scheint die Untersuchung zu den Taten
des sogenannten NSU abgeschlossen zu sein – und das kann nach Ansicht des AutorInnen-Kollektivs von NSU-Watch
keinesfalls hingenommen werden. Zu viele Fragen bleiben offen, zu viele
Ungereimtheiten ungeklärt, weshalb das wiederholt geäußerte völlige
Aufklärungsversprechen der Bundesregierung mitnichten eingehalten wurde.
Auch wenn rechtskräftige Urteile ausgesprochen und Haftstrafen verhängt worden sind – einen Schlussstrich unter den NSU-Komplex
zu ziehen, wäre nicht nur fatal und ein weiterer Schlag ins Gesicht der
Angehörigen der Opfer, er wäre zudem das absolut falsche Signal und
würde das Vertrauen von Bürgerinnen und Bürgern in unsere
Rechtsstaatlichkeit weiter untergraben. Nicht allein die Opfer und die
Hinterbliebenen haben Anspruch auf völlige und lückenlose Aufklärung,
die auch die Mitverantwortlichkeit des Staates beinhaltet, sondern wir
alle. Denn mit dem Freitod von Mundlos und Bönhardt sowie der
Gefängnishaft von Beate Zschäpe ist keinesfalls gesichert, dass wir uns
beruhigt zurücklehnen und weitermachen können wie bisher. Das Gegenteil
ist vielmehr der Fall: Die Menge der Anfeindungen und Angriffe mit
rassistischem Hintergrund beherrschen zusehends die Medien und zeugen
von einer Problematik, die tiefer sitzt, als wir uns eingestehen wollen.
Es kann nicht angehen, dass sich Menschen, die unsere Mitbürger sind,
aus dem deutschen Wir ausgeschlossen fühlen. Das vorliegende
Buch fordert daher dazu auf, nicht müde zu werden und die richtigen
Fragen zu stellen. Die These, dass zehn Morde, drei Sprengstoffanschläge
mit zahlreichen Opfern und ein Dutzend Raubüberfälle allein auf das
Konto eines augenscheinlich geistig wenig aufgeweckten Trios gehen,
klingt nicht überzeugend. Zwingend notwendig ist vielmehr eine
umfassende Aufarbeitung auch – und besonders – in der Gesellschaft, in
der wir leben. Dieses Buch, verfasst von den AutorInnen des NSU-Kollektivs,
das den Prozess verfolgt und minutiös dokumentiert hat, verhilft dem
Leser in klarer Sprache dazu, sich einen ausreichenden Einblick in die
Sachlage zu verschaffen. Ein wichtiges, ein nötiges Buch, das dem
Verbrecher Verlag hoch anzurechnen ist.
Liebe Freundinnen und Freunde des unabhängigen Buchhandels, werte Kundschaft,
besondere Zeiten erfordern besondere Formate. Eigentlich hätten wir Sie am 10. September und am 1. Oktober 2020 zu uns in die Buchhandlung eingeladen: Zu einem Abend mit dem Literaturwissenschaftler Christian Metz und Andreas Platthaus (Leiter des Ressorts Literatur und literarisches Leben bei der FAZ) sowie zu einem Abend mit dem Autor Abbas Khider und der Literaturkritikerin Insa Wilke. Während wir unsere Türen für Veranstaltungen noch nicht öffnen können, starten die Frankfurter Premieren und das Literaturhaus Frankfurt am 1. September wieder mit ihren Programmen. Wir freuen uns sehr, dass wir bei beiden Veranstaltungen mit ihnen kooperieren können und das literarische Leben ein bisschen weitergeht.
Am 10. September wird Christian Metz seine kulturwissenschaftliche Studie Kitzel, Genealogie einer menschlichen Empfindung mit Andreas Platthaus in der Ausstellungshalle 1A bei den Frankfurter Premieren diskutieren.
1. Oktober Literaturhaus Frankfurt
Am 1. Oktober wird Abbas Khider seinen neuen Roman Palast der Miserablen mit Anna Engel im Literaturhaus vorstellen.
Zu beiden Veranstaltungen wollen wir Sie und Euch herzlich einladen: Wir können einige Karten für die Veranstaltung Metz/Platthaus verkaufen (Do., 10. September, 19.30 Uhr, Frankfurter Premieren) sowie ein paar wenige für den Abend mit Abbas Khider um 18 Uhr (Do., 1. Oktober, im Literaturhaus). Wir würden uns sehr freuen, Sie und Euch ausnahmsweise mal außerhalb unserer Buchhandlung zu treffen.
Wer bei uns keine Karten mehr bekommen sollte: Auch die stille Lektüre der Bücher ist absolut empfehlenswert, und es gibt noch weitere Karten direkt bei den Veranstaltern.
2016 wurde Patti Smith 70 Jahre alt. In ihrem neuen Roman
verbindet sie die Ereignisse dieses Jahres zu einer Art literarischem
Spaziergang, der sich ziellos an der US-amerikanischen Westküste
ausdehnt. Die Bilder, die Smith dabei entwirft, besitzen eine gewisse
entschleunigte Strahlkraft. Zeit spielt dabei eine zentrale Rolle; nicht
nur im Hinblick auf ihren eigenen anstehenden runden Geburtstag,
sondern auch im Rückblick auf die Zeit, die sie mit anderen Menschen
geteilt hat. Die Erkrankung zweier ihrer engsten Freunde sind der
Protagonistin Anstoß für Überlegungen zu Nähe und Distanz durch die
Zeiten hindurch und über Räume hinweg. In einem winzigen und
heruntergekommenen Strandcafé trifft die Protagonistin auf einen
rätselhaften Mann namens Ernest. Immer wieder wird er auf ihren Reisen
plötzlich auftauchen und wieder verschwinden. Mit ihm führt sie lange
Gespräche über Bolaño, Pasolini und den Ayers Rock. Obwohl es sich
spürbar um ein autobiographisches Werk handelt, haftet dem Roman nicht
Voyeuristisches an, was auch an dem hohen Anteil phantastischer Elemente
liegen könnte, die oft mit den kunstvollen Fotografien verknüpft sind,
die den Text durchziehen. Sie zeigen nur selten Personen aus Smith’
Leben, häufig hingegen besondere Gegenstände, Wegmarken und Erinnerungen
. Auf biographische Anekdoten verzichtet die Autorin fast ganz.
Patti Smith‘ Stil ist extravagant und wortgewaltig. Und
Brigitte Jakobeits Übersetzung wird dem auf bemerkenswerte Weise
gerecht. Die Bilder, die die Autorin entwirft und die sich um Träume,
Reisen und Zeitlichkeit drehen, sind — auch wenn sie mitunter ins
esoterische zu kippen drohen — faszinierend und oft überraschend. Im Jahr des Affen
ist eine spielerische, nonkonformistische Meditation über Wege und
Wegmarken: „Eine Welt, die für sich gesehen nichts bedeutet, aber auf
jede unaussprechliche Frage im irrsinnigen Stück des frühen Winters eine
Antwort zu enthalten schien.“
„Alle fanden Teetee merkwürdig“, die Kinder und sogar die
Erwachsenen. Dass sie trotzdem irgendwie der gute Geist des Viertels
ist und immer gerade das aus ihrer vielleicht sogar magischen Tasche
hervorholen kann, was ihr Gegenüber gerade braucht – egal ob es ein
Reim-Lexikon oder eine Orangenpresse ist – fällt allen eigentlich erst
auf, als Teetee plötzlich verschwunden ist.
Sara und Saha, die eigentlich beste Freundinnen, gerade
allerdings fürchterlich zerstritten waren, Bene mit den strengen Eltern
und Cosmo, der ganz schön schnell ganz schön wütend werden kann, sowie
sein kleiner Freund Stulle, die schüchterne Lene und Juni, der erst seit
kurzem mit seinen Eltern in Deutschland lebt, schließen einen Pakt, um
die freundlich-schräge Dame wiederzufinden: Parole Teetee!
Im kleinen Lebensmittelladen von Herrn Mansur wird eine geheime
Kommandozentrale errichtet, nachdem klar ist, dass die Polizei sich
nicht um Teetees Verschwinden kümmern wird. Als dann auch noch die
vervielfältigten Such-Plakate wie von Geisterhand über Nacht
verschwinden, ist den Kindern klar, dass sie ihre Suche ab sofort
heimlich und unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen fortsetzen müssen.
Gar nicht so einfach, wenn die Entdeckungen so aufregend sind! Wer hat
Teetee zuletzt gesehen? Der Obdachlose mit den abstehenden weißen
Haaren, der meistens unter einer der Bänke im Park schläft und
eigentlich Herr Obermayer heißt? Oder ist vielleicht sogar Benes Vater
in das Verschwinden der alten Dame verwickelt oder der immer
unfreundliche Zahnarzt Doktor Bernius? Dass Vieles oft anders ist, als
es auf den ersten Blick scheint, klärt sich nach und nach auf.
Die bereits mehrfach für ihre Kinder- und Jugendbücher ausgezeichnete Autorin Antje Herden hat mit Parole Teetee
erneut eine ebenso spannende wie einfühlsame Geschichte für Kinder ab 9
geschrieben. Viel arbeitende, sehr strenge Eltern, Freundschaftskrisen
oder ein erstes heimliches Verliebtsein kennen wahrscheinlich viele
Kinder. Und dass ein Kind aus einem anderen Land plötzlich neu in die
Klasse kommt, weil es mit seiner Familie in seiner Heimat nicht mehr
leben konnte, werden auch schon einige erlebt haben. Warmherzig und
authentisch schildert Herden den manchmal schönen und manchmal
betrüblichen Alltag unterschiedlicher Kinder, nimmt sie in ihren
Eigenheiten und Sorgen augenzwinkernd ernst.
Und spätestens am Ende des Buches möchte man nichts
lieber, als zu dieser Kinderbande dazu zu gehören und gemeinsam einen
weiteren Fall zu lösen!