Buchempfehlung

Dorothee Elmiger

Aus der Zuckerfabrik

Hanser Verlag
23 €

Wer oder was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Zucker denken? Der süße Geschmack, Naschwerk, Überfluss, aber auch Selbstzügelung und Beherrschung? Vielleicht auch seine Produktionsbedingungen? Dorothee Elmiger führt anhand ihres sogenannten Recherchetagebuchs suchend durch manchmal dichtverwobene, manchmal kaum korrespondierende Anekdoten und Schilderungen. Die Gegenstände der Aufzeichnungen reichen von Schriftstellerinnen und ihrer Hassliebe zum Essen im Allgemeinen und Zucker im Besonderen bis hin zum Zuckerkonsum des Ökonomietheoretikers Adam Smith und des Führers der haitianischen Revolution Toussaint Louverture. Andere Erzählstränge des Romans sind weniger schnell in dem Kontext Zucker und Zuckerfabrik zu verorten. So etwa die Geschichte rund um den Schweizer Lottogewinner Werner Bruni. Die Szene, in der es um die Versteigerung seiner Besitztümer geht, bildet den Angelpunkt des Romans, auf den das erzählende Ich immer wieder zurückkommt. Aber erst mit der Zeit entfalten sich die symbolischen, allegorischen und logischen Verbindungen zwischen den Geschichten. Es lohnt sich jedoch, der Autorin jenen Vertrauensvorschuss zu gewähren, den es zu Beginn braucht, um sich in das Gewirr loser Erzählungsanfänge zu begeben. Nicht zu Unrecht steht am Beginn des Romans das Bild eines Gestrüpps.

Wir sind es gewohnt, uns als LeserInnen durch einen Text führen zu lassen, Zeit- oder Themensprünge in Maßen und deutlich markiert hinzunehmen. Elmiger hingegen lässt sich von der Form des (wissenschaftlichen) Essays inspirieren, der verschiedene Themen miteinander in Beziehung setzt. Dabei bleibt sie aber spürbar und glücklicherweise im Bereich der Litertur. So gehören nicht von ungefähr die Szenen der auf ihre Liebhaber wartenden Erzählerin mit zu den besten des Buches. Im Verlauf des Lesens werden der LerserIn die verschiedenen Figuren – fiktive wie reale – immer vertrauter, man beginnt, sich im Gestrüpp zurechtzufinden, und kann sich so über erstaunlichen Funde und Besonderheiten freuen, die einem sonst entgangen wären.

Dorothee Elmigers Aus der Zuckerfabrik kreist vor allem um das Thema des Begehrens, dessen Spannbreite aber hier vom Essen als sexueller (Ersatz-) Befriedigung bis hin zum vom Selbst entfremdeten Begehren, welches das Ergebnis der ausbeuterischen Produktionsverhältnisse darstelle. Freud und Marx scheinen so als Referenzpunkte immer wieder auf, nehmen aber keinen gliedernden Stellenwert ein, sondern erscheinen in einer Reihe mit Heinrich von Kleist (Die Verlobung von St. Domingo) oder Deborah Levy.

Das erstaunliche bleibt dabei, dass Elmiger nach anfänglichen Orientierungsschwierigkeiten, die zugestanden seien, der Versuchung des Überfrachtens widersteht und den Roman lesbar und unterhaltsam macht. Der sehr eigene Stil erlaubt es der Autorin, sich den verschiedensten Dingen zuzuwenden, und diese Zuwendung wird von einer je spezifischen Faszination motiviert, die sich dem Text anmerken lässt.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt