Orgelmann. Felix Nussbaum – Ein Malerleben

Schaevers
Galiani Berlin, 38 €

Der Autor Mark Schaevers im Gespräch mit Anne Sibylle Schwetter

Dienstag, 15. November 2016, 20 Uhr

In den 1930er Jahren ist der Maler Felix Nussbaum eine Berühmtheit der Berliner Kunstszene, mit 23 hat er seine erste Einzelausstellung in der Galerie Casper am Halleschen Ufer und Max Liebermann soll über ihn gesagt haben: „Der wird mal beinah so jut wie ick“. Mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft muss er fliehen und lebt mit seiner Frau, der Malerin Felka Platek, im Exil – in Italien, in Frankreich und ab 1937 in Brüssel. Auch in der Illegalität malt Nussbaum weiter, es entstehen beeindruckende Bilder. Am 20. Juni 1944 werden die Eheleute von der Gestapo aufgespürt und nach Auschwitz deportiert.

Mark Schaevers Orgelmann erzählt die Lebensgeschichte des Malerpaars, sucht die Spuren des nach dem Krieg vergessenen Künstlers Nussbaum und dokumentiert die Geschichte der schwierigen Etablierung eines toten Malers in den internationalen Kunstbetrieb. Seit 1998 gibt es ein eigenes, von Daniel Liebeskind entworfenes Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück, auch das Jüdische Museum Frankfurt ist im Besitz einiger berühmter Nussbaum-Gemälde – die Bedeutung seines Werkes ist heute wieder anerkannt, von Felka Platek sind nur wenige Bilder überliefert.

Mark Schaevers ist Journalist und Autor. Er lebt in Brüssel und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, u.a. in Zusammenarbeit mit Hugo Claus. 2015 veröffentlichte er ein Buch über den Sommer 1936 in Ostende: Oostende, de zomer van 1936: Irmgard Keun, Egon Erwin Kisch, Joseph Roth, Stefan Zweig aan de Belgische kust.

Anne Sibylle Schwetter, Kunsthistorikerin, ist seit über 10 Jahren wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kuratorin am Felix-Nussbaum-Haus Osnabrück.

Diese Veranstaltung wird gefördert von: Flandern & die Niederlande – Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2016.

Liebe, Kapitalismus, Online Dating

Kai Dröge und Olivier Voirol berichten von den Ergebnissen ihres Forschungsprojekts

Montag, 10. Oktober 2016, 20.00 Uhr

Prismen – Institut für Sozialforschung bei Marx & Co

Die affektiven Beziehungen in den digitalen Medien realisieren heute tatsächlich eine Art »Kapitalismus der Liebe«, einen Partnerschaftsmarkt, der extensive Selbstvermarktung fordert. Gleichzeitig aber hoffen die Nutzer_innen auf emotionale Verbindungen jenseits des bloß rationalen Kalküls. Hier aktualisiert sich eine Spannung, die für die Geschichte der modernen Gesellschaft insgesamt charakteristisch ist: Einerseits entwirft das moderne Liebesideal mit der Betonung von Intimität, Emotionalität und »Höchstpersönlichkeit« (Luhmann) eine Art Gegenwelt zum »kalten«, rationalen und unpersönlichen Tausch auf dem Markt. Andererseits ist die Liebe aber auch fester Bestandteil der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, etwa in Gestalt des bürgerlichen Ehe- und Familienmodells.

Kai Dröge und Olivier Voirol haben die heutige Lebenswelt des Online Dating in einem breit angelegten Forschungsprojekt untersucht. Ihre Interviews mit Nutzer_innen zeigen, wie hier ökonomische Rationalisierungsprozesse greifen. Gleichzeitig ist aber auch im Netz das Versprechen einer Gegenwelt zur reinen Marktvergesellschaftung keineswegs vergessen. Interessanterweise sind es gerade diese,
dem Markt eigentlich äußeren Aspekte, die Online Dating erst zu einem so lukrativen Geschäft für die Anbieter machen.

Kai Dröge, Dr., ist assoziierter Wissenschaftler am Institut für Sozialforschung und Dozent und Modulleiter an der Hochschule Luzern. Er studierte Soziologie, Philosophie und Informatik in Siegen und Gießen und promovierte 2009 in Gießen. Er lehrt und forscht zur Soziologie des Ökonomischen, zu Kultur- und Mediensoziologie sowie zu Methoden der qualitativen Sozialforschung.

Olivier Voirol, Dr., ist assoziierter Wissenschaftler am Institut für Sozialforschung und Senior Lecturer an der Universität Lausanne. Er studierte Sozialwissenschaften in Lausanne, Frankfurt und Paris und promovierte 2005 in Paris. Er lehrt und forscht über Kritische Theorie, Anerkennungstheorie, Kulturindustrie, Kultur- und Kommunikationssoziologie sowie Internet- und Techniksoziologie.

 

Im Kampf gegen Nazideutschland. Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943–1949

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Campus Verlag, 39,95 €

Hubertus Buchstein im Gespräch mit Christine Pries

Mittwoch, 13. Juli 2016, 20 Uhr

Prismen – Institut für Sozialforschung bei Marx & Co

Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer, vom Nationalsozialismus zur Flucht gezwungen, stießen im Exil zum Institut für Sozialforschung, das seit 1934 in einem Gebäude der New Yorker Columbia University Asyl gefunden hatte. 1943 traten die drei so unterschiedlichen Gelehrten in den Dienst des Office of Strategic Services (OSS) ein, des Vorläufers der CIA.

In der Mitteleuropa-Sektion der Forschungs- und Analyseabteilung des OSS verfassten sie Berichte über das soziale, politische und ökonomische Leben in der NS-Diktatur, über Hitlers Kriegsstrategien und die Rolle des Antisemitismus in Nazideutschland. Entstanden sind hellsichtige Analysen, die sich zu einem komplexen Bild der neuartigen totalitären Herrschaftsordnung fügen. Darüber hinaus entwickeln die drei Mitarbeiter Pläne für den Wiederaufbau einer demokratischen und sozialistischen Gesellschaft nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs, und sie erkunden die juristischen Möglichkeiten, die für den nationalsozialistischen Terror Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen.

Obgleich die ursprünglich anonymen Texte seit 40 Jahren zugänglich sind, wurden die Verfasser der meisten Berichte erst jetzt identifiziert. Im Frühjahr dieses Jahres sind die vom Historiker Raffaele Laudani edierten Dokumente in der Übersetzung von Christine Pries in der Schriftenreihe des IfS erschienen. Christine Pries moderiert das Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Hubertus Buchstein.

Hubertus Buchstein, Dr. phil., ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald. Er leitet die Edition der Gesammelten Schriften von Otto Kirchheimer. Hubertus Buchstein ist Verfasser u. a. von Demokratie und Lotterie. Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU. Frankfurt a. M. / New York, Campus 2009. Jüngst ist von ihm erschienen Typen moderner Demokratietheorien – Überblick und Sortierungsvorschlag. Wiesbaden 2016, Springer VS, 9,99 €

Christine Pries, Dr. phil., ist Philosophin, Publizistin und Übersetzerin. Für ihre Übersetzung von Luc Boltanskis Rätsel und Komplotte – Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft wurde sie 2013 mit dem Raymond-Aron-Preis ausgezeichnet.

 

Siegerkunst – Neuer Adel, teure Lust. Wolfgang Ullrich im Gespräch mit Heinz Drügh

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Wagenbach Verlag, 2016, € 16,90

Mittwoch, 29. Juni 2016, 20 Uhr

Siegerkunst ist Kunst für Sieger 
Mein Auto, mein Haus, mein Picasso 
Was hat das noch mit Kunst zu tun?

Wolfgang Ullrich, bekannt als Autor zahlreicher Bücher zur Bildästhetik und durch seine Kolumne im Kunstmagazin art, widmet sich in seiner neuesten Publikation Siegerkunst, Neuer Adel, teure Lust einem Phänomen auf dem Kunstmarkt, das die Moderne mit ihrer zentralen Auffassung einer autonomen Kunst für überwunden gehalten hatte: Dass Kunst wie in feudalen Zeiten für den privaten Besitz und nicht für die Öffentlichkeit sei.

Vor 30 Jahren boomten die Museumsbauten, Frankfurt erhielt ein ganzes Museumsufer. Heute stellt sich die Frage, ob sich die Museen ihre Bilder überhaupt noch leisten können. 2011 scheiterte das Städel bei dem Versuch, die Darmstädter Madonna von Holbein zu ersteigern. Der Schraubenhersteller Würth erwarb sie für geschätzte 50 Millionen Euro. Zahlreiche Bilder verschwinden in den Schlafzimmern der Reichen: Baselitz, Richter, Horn, Vo, Immendorf, Koons.

Wie beeinflusst dieser neue Markt die Kunst? Lässt sie sich überhaupt noch als selbstbestimmt denken? Oder bedient sie heute nurmehr den Geschmack der Erfolgreichen und Mächtigen?

Wolfgang Ullrich diskutiert mit Heinz Drügh über den Wert von Kunst in der Konsumgesellschaft, den Auftrag von Museen, den Sinn des Gesetzes zum Schutz von Kulturgut und den Kunstbetrieb.

Wolfgang Ullrich war von 2006 bis 2015 Professor für Kulturwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.

Heinz Drügh ist Professor für Literatur und Ästhetik an der Goethe-Universität. Ästhetik des Supermarkts ist seine letzte Publikation.

 

Michael Eberth und Oliver Reese im Gespräch mit Karlheinz Braun

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Alexander Verlag, 24,90 €

Donnerstag, 2. Juni 2016, 20 Uhr

Buchvorstellung – Einheit. Berliner Theatertagebücher 91-96

Michael Eberth erzählt in seinen „Berliner Theatertagebüchern“ den komplizierten Prozess der Wiedervereinigung am Beispiel des Deutschen Theaters Berlin, dem ehemaligen Staatstheater der DDR, in der Nachwendezeit.
1990 folgte Eberth dem Ruf Thomas Langhoffs als Chefdramaturg an das Deutsche Theater. Langhoff, mit dem Eberth eine langjährige Arbeitsbeziehung verband, entschied sich bewusst für einen „Westdramaturgen“. Eberth war gespannt auf das Neue – und stieß auf menschlich, organisatorisch und vor allem künstlerisch fremde Strukturen, die ihn an den Rand der Verzweiflung brachten.

Eberths Tagebücher sind ein außergewöhnliches Dokument über die Schwierigkeiten der Wiedervereinigung auf dem Boden des Deutschen Theaters. Sie sind ein theatergeschichtliches Zeitzeugnis und geben teils haarsträubende Einblicke hinter die Kulissen des von Eitelkeiten und Wahn durchdrungenen Kunst- und Politikbetriebs der neuen Hauptstadt. Sie sind ein leidenschaftliches Plädoyer für eine alte und vermeintlich unzeitgemäße Kunst.

Michael Eberth, geb. 1943, war Dramaturg an Theatern in Berlin, Frankfurt, Hamburg, München, Wien und arbeitete mit Regisseuren wie Andrea Breth, Jürgen Gosch, Sebastian Hartmann, Alexander Lang, Thomas Langhoff, Claus Peymann und Stefan Pucher. Er hatte Gastprofessuren und Lehraufträge im In- und Ausland. Eberth lebt als Autor und Übersetzer in Berlin.

Oliver Reese, geb. 1964, ist Intendant des Frankfurter Schauspiels. Er war Dramaturg in München, Ulm und von 1994 bis 2001 Chefdramaturg am Maxim Gorki Theater Berlin, danach Chefdramaturg am Deutschen Theater Berlin, wo er u.a. mit Hans Neuenfels, Robert Wilson, Michael Thalheimer und Jürgen Gosch arbeitete. In der Spielzeit 2008/09 war er Intendant am Deutschen Theater.

Karlheinz Braun, geb. 1932.  Von 1959 bis1969 Leiter des Theaterverlags Suhrkamp, zugleich Sekretär der Deutschen Akademie der darstellenden Künste und (zusammen mit Peter Iden) Leiter der Frankfurter experimenta-Festivals 1-5. Mitgründer und Geschäftsführer des Verlages der Autoren 1969 bis 2003, von 1976 bis 1979 Geschäftsführender Direktor vom Schauspiel Frankfurt.

Buchbesprechung von Karl Heinz Braun: http://faustkultur.de/index.php?article_id=2407

 

Franz Mon zum 90. – Im Gespräch mit Sascha Michel

monmonmon»Wir haben Sprache, und sie hat uns.«

Dienstag, 3. Mai 2016, 20 Uhr

Was machen wir mit der Sprache, wenn wir sprechen und schreiben, uns artikulieren und lesen? Was macht die Sprache mit uns? Der in Frankfurt lebende Autor Franz Mon experimentiert schon seit den frühen 1950er Jahren mit Buchstaben und Worten und gehört damit zu den Grün­dern der konkreten Poesie und der experimentellen Literatur.

In seinen Gedichten, Hörspielen und Collagen macht er unsere Alltags­sprache spürbar, schafft »Wörter voller Worte«, raubt und verdreht ihren Sinn, bringt Wörter spielerisch zusammen, »die sich sonst nie kennengelernt hätten«. Wie bei jedem Spiel ist das alles nur möglich, weil es Regeln gibt. Zugleich aber führen uns Franz Mons (Er-)Findungen ins Offene und Überra­schende. Im Spiel mit den unendlichen Möglichkeiten der Sprache können wir erfahren, wie frei wir sind.

Anlässlich seines 90. Geburtstages und der aktuellen Publikation Sprache lebenslänglich, Gesammelte Essays laden wir Franz Mon, den »hoch­begabten Konstrukteur komischer Versuchsanordnungen«, zu einem Gespräch mit seinem Lektor Sascha Michel (S. Fischer Verlag) ein.

Franz Mon, Sprache lebenslänglich, Gesam­melte Essays, hrsg. von Michael Lentz, Fischer Verlag 2016, 656 S., € 24,99

 

Stoner – Ambivalenzen einer literarischen Sozialfigur

Westend-Cover-2-2015_iwJulika Griem, Axel Honneth und Frieder Vogelmann im Gespräch mit Juliane Rebentisch

Montag, 11. April 2016, 20 Uhr

Prismen – Institut für Sozialforschung bei Marx & Co

Romane oder Filme, die in Gehalt oder Form symptomatische Verhaltenszüge einer ganzen Epoche zu erkennen geben, verdienen es, auch von der Sozialforschung ernst genommen zu werden. Daher will sich WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung gelegentlich auch literarischen oder filmischen Kunstwerken zuwenden, die eine solche diagnostische Kraft auf besonders nachhaltige Weise entwickelt haben.

Den Auftakt machte das »Stichwort« zum Roman Stoner von John Williams mit Beiträgen von Barbara Carnevali, Julika Griem, Axel Honneth, Eva Illouz und Frieder Vogelmann.
Als das Buch vor 50 Jahren erschien, fand es wenig Aufmerksamkeit; erst im Zuge seiner posthumen Wiederveröffentlichung 2013 wurde es zu einem überwältigenden Publikumserfolg. Wer ist der Protagonist, der apathisch wirkende Collegeprofessor William Stoner? Sollen wir in ihm einen sperrigen, sich den narzisstischen Tendenzen der Zeit widersetzenden Charakter sehen? Einen selbstlosen, in die Sache versunkenen Menschen? Oder eher eine ihrer Gegenwart entfremdete, handlungsgehemmte Persönlichkeit? Und: Wie lassen sich der späte Erfolg und die Euphorie erklären, die die Wiederentdeckung des Buches begleitet hat?

Buchempfehlung – Abbas Khider „Ohrfeige“

Hanser Verlag, 19.90 €
Hanser Verlag, 19.90 €

Die titelgebende Ohrfeige ist für Frau Schulz bestimmt. Sie könnte auch Maier oder Müller heißen, aber mit Sicherheit sitzt sie in einem deutschen Amt und macht Dienst nach Vorschrift. Wer hier die Hand hebt, ist zunächst einmal einerlei, denn jeder, der mit Behörden oder auch nur Anträgen zu tun hatte, stand schon einmal hier, der Verzweiflung nahe. Wem es aber gelingt, seine Formulare ordnungs- und wahrheitsgemäß auszufüllen, der darf sich glücklich schätzen.

Deshalb ist es dann doch nicht einerlei, wer Frau Schulz in Abbas Khiders Roman ohrfeigen möchte, denn es ist kein Bürger dieses Landes, sondern einer jener jungen Asylsuchenden, die gerade tagein tagaus die Schlagzeilen beherrschen.

Er heißt Karim Mensey, er ist Anfang 20, er stammt aus dem Irak. Hätte er Frau Schulz seine Geschichte wahrheitsgemäß geschildert, er wäre längst abgeschoben worden: Karim wurde in seinem Land nicht politisch verfolgt, ist aber trotzdem geflohen. Warum? Das soll hier gar nicht verraten werden, auch ein Roman hat seine Intimitäten, die man nicht gleich preisgeben sollte, erst recht nicht, wenn der ruhige und klare Erzählstil dem Leser den Protagonisten so nah ans Herz zu legen vermag, als wäre er einer von uns. Als stamme Karim nicht aus einem 4000 Kilometer entfernten Land, in dem verheerende Kriege geführt wurden und werden und Terroranschläge auf der Tagesordnung stehen. Diese Version der Weltgeschichte tritt in Khiders Roman in den Hintergrund. Das kann man bemängeln. Aber man sollte sich deshalb die scheinbar so private Geschichte Karims nicht entgehen lassen, denn Karims Schicksal ist eines, das auch uns, unseren Kindern oder Kindeskindern passieren könnte –nicht nur jenen armen Menschen, die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort auf die Welt gekommen zu sein: im Kulturland zwischen Euphrat und Tigris, dem Land der Hängenden Gärten von Babylon.

Karim flieht mit einem klaren Ziel vor Augen: er möchte nach Paris, denn dort wartet Onkel Murad auf ihn. Am Vorabend der Flucht näht ihm die Mutter liebevoll das gesparte Geld in den Gürtel, küsst ihren Sohn zum letzten Mal. Die Hoffnung ist groß. Fünf Wochen ist Karim unterwegs, im Auto, im Schlauchboot, auf der Fähre, im Zug und wieder im Auto – nur nachts dürfen die Flüchtlinge für ein paar Minuten ins Freie. Niemand sagt ihnen, wo sie sind, jegliche Kommunikation mündet in babylonischer Sprachverwirrung. Bis ihn frühmorgens der Fahrer eines Minitransporters auf irgendeiner Landstraße aussetzt. Karim denkt, er sei in Frankreich – die Schlepper sollen die restliche Zahlung erst bekommen, wenn er sicher bei seinem Onkel angekommen ist –, aber Karim wird sein Ziel niemals erreichen. Mitten im europäischen Winter lässt er seine Flüchtlingsklamotten in den Schnee fallen und versucht, notdürftig hinter einem Baum versteckt, seine Herkunft hinter einer „schicken schwarzen Hose“ und einem „eleganten Hemd“ zu verbergen. Es nützt alles nichts, kaum hat Karim das Bahnhofsgebäude betreten, fragt ihn die Polizei nach dem „Passport?“ – „No Passport“, die Handschellen klicken. Sie untersuchen alle Öffnungen der Kleider, alle Öffnungen des Körpers, sie suchen routiniert und finden das liebevoll eingenähte Geld, konfiszieren es ebenso ungerührt wie die letzten Zigaretten.

Der eben noch Fliehende wird festgesetzt und ist für die kommenden Jahre jeglicher Aktivität beraubt: Karim darf nicht zu seinem Onkel nach Paris, hat er doch in Deutschland zuerst den europäischen Boden betreten und muss hier seinen Asylantrag stellen, Karim darf nicht arbeiten, er darf keinen Deutschkurs belegen, Karim darf nur eines: wohnen.

Wie Karim gegen all die ihn erstickenden Vorschriften für ein menschenwürdiges Leben kämpft, wie all seine “Kollegen“ im Asylantenheim ihr Leben ertragen, es feiern und daran verzweifeln und wieder neue Hoffnung schöpfen, das ist nicht nur Deutschland Anfang der Nullerjahre, das ist auch Deutschland 2016.

Khider hat in diesen aufgeregten Zeiten einen wunderbar unaufgeregten Roman geschrieben.

Ines Lauffer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt am Main

Die Idee des Sozialismus – Axel Honneth im Gespräch mit Peter Wagner

Honneth
Suhrkamp 2015 22,95 €

Mittwoch, 10. Februar 2016, 20 Uhr

Prismen – Institut für Sozialforschung bei Marx & Co

Axel Honneths politisch-philosophischer Essay setzt mit einem irritierenden Befund ein: die Empörung über die sozialen und politischen Folgen des global entfesselten Kapitalismus ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig, aber dieser massenhaften Empörung fehlt ein normativer Richtungssinn und der Kritik kaum gelingt es kaum, Vorstellungen einer gesellschaftlichen Alternative jenseits des Kapitalismus zu entwickeln. Die Ideen des Sozialismus, die für mehr als 150 Jahre geschichtliche Orientierung zu geben vermochten, scheinen ihre Überzeugungskraft unwiderruflich verloren zu haben und für die Suche nach alternativen Lebensformen kein Anregungspotential mehr zu bieten. Weshalb? Und muss dem wirklich so sein? Gibt es in der reichen Ideengeschichte des Sozialismus nicht vielleicht doch Ansätze, die sich so rekonstruieren lassen, dass sie unseren historischen Erfahrungen angemessen sind und Wege zu einer Umgestaltung der entgrenzten Ökonomie anzeigen, die in den Normen von Freiheit und Solidarität – Axel Honneth spricht von »sozialer Freiheit« – ihre Grundlage hat?

Axel Honneth ist Direktor des Instituts für Sozialforschung, Jack C. Weinstein Professor of the Humanities an der Columbia University, New York, sowie Senior Professor für Sozialphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Veröffentlichungen u.a.:  Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte (Suhrkamp 1992); Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit (Suhrkamp 2011).
Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung (Suhrkamp 2015) wurde mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2015 ausgezeichnet.

Peter Wagner ist ICREA Forschungsprofessor am Institut für Soziologische Theorie, Rechtsphilosophie und Methodologie der Sozialwissenschaften an der Universität von Barcelona; am Institut für Sozialforschung ist er Mitglied des Internationalen Wissenschaftlichen Beirats. In diesen Tagen ist von ihm erschienen: Progress. A Reconstruction (Polity Press 2016). Veröffentlichungen in Deutsch sind unter anderem Moderne als Erfahrung und Interpretation. Eine neue Soziologie zur Moderne (UVK 2009) und Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin (Campus 1995).

Buchempfehlung – J.J. Abrams & Doug S. Dorst „S. – Das Schiff des Theseus“

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Ehrfurcht packt den Leser, wenn er das Siegel des Schubers löst. Sofort fallen ihm aus dem Buch handgeschriebene Briefe, Postkarten und sogar eine auf eine Serviette gezeichnete Karte entgegen. „S“ ist ein Buchkunstwerk, das den Leser immer wieder überrascht und denselben Schauder über den Rücken jagt, als habe er selbst eine Kiste mit Hinweisen auf eine geheimnisvolle Geschichte auf dem Dachboden gefunden. Die Idee für dieses Projekt stammt von Regisseur J. J. Abrams, der unter anderem für den neuen „Star Wars“-Film verantwortlich ist. Für die Ausführung heuerte er den Autor Doug Dorst an, der kreatives Schreiben an der Texas State University lehrt. Die Umsetzung dieser ambitionierten Idee ist auch in der deutschen Fassung erstaunlich gut gelungen.

Erzählt wird die Geschichte auf vier Ebenen. Im Schuber (die erste Ebene), der den wirklichen Paratext enthält und die Autorschaft Abrams und Dorst zuschreibt, findet sich ein Band mit vergilbten Seiten aus dem Jahr 1949, der anmutet, als stamme er aus einer amerikanischen Bibliothek. Alles weist darauf hin: Der Aufkleber mit der Signatur am Buchrücken, ein Zettel mit eingestempelten Rückgabefristen im hinteren Buchdeckel und – ironischerweise – ein Stempel mit dem Hinweis an die Bibliotheksnutzer, das Buch pfleglich zu behandeln und von Eintragungen abzusehen. Diese zweite Ebene besteht aus einem Roman aus der Feder des geheimnisvollen Autors V. M. Straka, eine Abenteuer- und Verschwörungsgeschichte rund um S, der sein Gedächtnis verloren hat und sich mühsam in der Welt zurechtzufinden versucht. Jahrelang segelt er auf einem Schiff umher und wird mit gefährlichen Aufträgen betraut. Dabei versucht er immer wieder herauszufinden, wer ihn wozu für welche Mission einsetzen will, auf welcher Seite er steht, wem er trauen kann und wer er eigentlich selbst ist.

Die dritte Ebene besteht aus dem Vorwort und den Fußnoten eines gewissen F. X. Caldeira. Straka, so Caldeira im Vorwort, sei einer der einflussreichsten Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts. Dennoch sei seine wahre Identität noch immer ungeklärt. Auch wenn es viele Kandidaten gebe, die hinter dem Namen Straka stehen könnten, konnte bisher keine der Vermutungen bestätigt werden. Caldeira selbst ist dem Leser jedoch keine Hilfe beim Lösen des Geheimnisses um den Autor Straka. Schnell wird klar, dass Caldeiras Kommentare mehr sein müssen als ergänzendes Informationsmaterial, denn sie sind seltsam unsachlich und verwirren das Rätsel um S und seinen Autor Straka mehr, als dass sie klären.

Die vierte Ebene des Buches drängt sich dem Leser bereits auf den ersten Blick auf: Die Seitenränder sind durchgehend eng mit handschriftlichen Notizen in verschiedenen Farben und zwei verschiedenen Handschriften gefüllt. Zwischen den Seiten liegen darüber hinaus handgeschriebene Briefe, Fotos, Zeitungsartikel, Postkarten, Zeichnungen und allerlei Material mehr, das von der Arbeit zweier Studenten zeugt. Die Collegestudentin Jen und Eric, der am selben College über Straka promoviert, haben, ohne sich persönlich zu kennen, damit begonnen, sich auf den Seitenrändern über die Geheimnisse um Straka, Caldeira und S auszutauschen. Sie wollen gemeinsam die vielen Rätsel lösen, die das Buch aufwirft, und verstecken nach ihren Einträgen das Buch in der Collegebibliothek, damit es der jeweils andere dort finden und seine Antworten hineinschreiben kann. Ihr Dialog bezieht sich aber nicht nur auf die Geschichte des Buches und den Kontext seiner Entstehung. Je besser sie sich kennenlernen, desto mehr tauschen sie sich auch über ihre persönlichen Probleme, Sorgen und Träume und wichtige Erlebnisse aus ihrer Kindheit aus.

Dem Leser stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die beiden Handlungsstränge stehen. Handelt es sich um Rahmen- und Binnengeschichte oder stehen sie gleichwertig nebeneinander? In welcher Reihenfolge nähert man sich dem Text am besten? Soll man zuerst die Geschichte von S lesen, um sich dann in einem zweiten Anlauf den Kommentaren an den Seitenrändern zu widmen? Oder besser doch alles gleichzeitig? Comic-erprobte Leser werden einen Vorteil haben, denn eine lineare Lektüre fällt schwer bei den vielen Kommentaren und Beigaben, die die Geschichte in verschiedenen Richtungen zugleich erzählen.

Die Wirklichkeit, in der Jen und Eric leben, mischt sich immer mehr auf unheimliche Weise mit der Geschichte Strakas. Auch das Buchprojekt selbst stellt dem Leser – nicht zuletzt mittels der einladenden, noch freien Stellen an den Seitenrändern – diese Frage: wo hört hier die Geschichte auf und wo beginnt die Wirklichkeit des Lesers?

Alena Heinritz, Mainz

Adventslesung für Kinder

Samstag, 5.12. um 16 Uhr

Wir laden Sie herzlich ein zu unserer

Adventslesung für Kinder zwischen 4 & 8 Jahren

Weißt Du noch, wie es letztes Jahr war? „Wir lagen auf Deinem Bett und starrten an die Decke und warteten auf das Christkind … Es war still geworden draußen und in unserem Haus … und überall roch es, wie es sonst nie riecht: Tanne, Kerzen, Plätzchen …“

Noch ist es nicht soweit, aber es ist schon fast der zweite Advent. Dringend Zeit, sich gemütlich in unserer Buchhandlung zur diesjährigen Adventslesung für Kinder zu treffen. Es gibt so viele Geschichten zu erzählen: Vom Rentier Rudolf, der den Schlitten vom Weihnachtsmann zieht, vom Schnee, der sich so leise auf Bäume und Autos legt, und von Zwiebelchen. Wer ist Zwiebelchen? Das verraten wir am kommenden Samstag (5. Dezember) um 16 Uhr.

Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie mit Ihren Kindern, Enkelkindern oder auch anderen Kindern zu uns kommen. Vielleicht finden Sie parallel zur Lesung sogar schon die ersten Weihnachstgschenke bei uns.