Buchvorstellung und Gespräch mit Thomas Biebricher
Moderation: Martin Saar
Donnerstag, 21. März 2019, 20 Uhr
Nach insgesamt 13 Jahren großer Koalition wird klar, dass sich neben der Sozialdemokratie auch der Konservatismus und seine traditionelle politische Heimat, die CDU, in einer tiefen Identitätskrise befinden. Das zeigen nicht zuletzt das Aufkommen der AfD, ministeriale Revolutionsaufrufe gegen die vermeintliche liberale Kulturhegemonie („konservative Revolution“!) und die Auseinandersetzung um die Parteiführung, die auch als Entscheidung über die inhaltliche Ausrichtung der Partei gedeutet wurde – bei der aber die konservativeren Bewerber bekanntlich nicht das Rennen machten.
In seiner Untersuchung der Erschöpfung des Konservatismus unternimmt Thomas Biebricher eine Reise in das politisch-kulturelle Klima der letzten Jahre der alten Bundesrepublik und der Wendezeit und beschreibt die wachsende Orientierungslosigkeit zwischen Neuer Rechter und Neoliberalismus. Auf diese Weise erzählt er – zwischen Ideengeschichte des deutschen Konservatismus und Parteigeschichte der Union changierend – zugleich die Vorgeschichte des Zerfalls unseres klassischen politischen Koordinatensystems, dessen Zeugen wir heute werden.
Thomas Biebricher wurde 2003 in Freiburg mit einer Arbeit über Habermas und Foucault promoviert. Von 2009 bis 2012 leitete er eine Nachwuchsforschungsgruppe zum Thema ‚Krise und normative Ordnung – Variationen des Neoliberalismus und ihre Transformation‘ am Frankfurter Exzellenzcluster ‚Die Herausbildung normativer Ordnungen‘. Nach diversen Lehrstuhlvertretungen ist er dort derzeit als Postdoktorand tätig.
Martin Saar Dissertation zum Begriff der Genealogie bei Nietzsche und
Foucault, Habilitation mit einer Arbeit zur politischen Theorie Spinozas.
Vertretungsprofessuren an verschiedenen Universitäten (u.a. Goethe-Universität
Frankfurt am Main, Humboldt Universität, Berlin). Von 2014 bis 2016 Professor
für Politische Theorie an der Universität Leipzig. Seit 2017 Professur für
Sozialphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Kronos‘ Kinder
ist die Geschichte der Recherche des Historikers Kirill zu seinen
deutschen Vorfahren, von denen der erste 1830 aus Leipzig ins Russische
Kaiserreich gekommen ist. Leitmotiv ist die Erinnerung Kirills an einen
Vorfall, den er in seiner Kindheit beobachtet hat. In dem russischen
Dorf, in dem seine Großmutter lebt, beobachtet das Kind, wie ein
invalider Veteran des Zweiten Weltkriegs, nachdem er sich am Jahrestag
seiner Verwundung betrunken hat, eine Schar Gänse niederschießt und sie
dabei als deutsche Feinde wahrnimmt. Für Kirill spricht diese Szene für
das besondere Verhältnis zwischen Russen und Deutschen, das er dann auch
in der Geschichte seiner deutschen Vorfahren immer wieder zu erkennen
glaubt.
Erzählt wird die von Lebedews eigener Familiengeschichte
inspirierte Geschichte aus Kirills Perspektive in der dritten Person. Er
fährt zu den historischen Schauplätzen seiner Familiengeschichte, nach
Leipzig, Halle, Münster und Zarizyn/Stalingrad/Wolgograd und denkt sich
hinein in seine Vorfahren, deren Perspektive dann ab und zu durch die
seine hindurchscheint. Es bleibt aber deutlich, dass es stets Kirills
Imaginationen sind, die hier sprechen, sodass die Perspektivenvielfalt
eine scheinbare bleibt.
Es ist Kirills Großmutter Lina, die den Ausschlag für
seine Recherche gibt, als sie ihm sagt, dass sie als Karolina Schwerdt
geboren wurde und ihre Vorfahren Deutsche gewesen seien. Sie nimmt
Kirill früh mit auf den sogenannten „Deutschen Friedhof“ in Moskau und
öffnet ihm dadurch einen in der Sowjetunion unerwarteten Blick auf die
fremde Welt seiner Vorfahren. Im Zuge seiner Recherchen stößt Kirill auf
die Geschichte von Balthasar, einem Homöopathen, der 1830 nach Russland
ging. Kirill folgt der männlichen Linie der Schwerdts, Ärzte und
Ingenieure, bis zu der Geschichte seiner Großmutter. Dabei interessiert
ihn stets, welche Rolle das Deutschtum für seine Vorfahren und ihre
Schicksale gespielt hat. Hätte seine Großtante die Blockade von
Leningrad überlebt, wenn sie keine Deutsche gewesen wäre? Hätte seine
Großmutter auch den zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit überlebt,
wenn sie nicht die Möglichkeit gehabt hätte, durch ihre Heirat mit einem
Russen den deutschen Namen abzulegen?
Kirill, dem der Leser bei der Rekonstruktion seiner
Familiengeschichte folgt, stellt Spekulationen über die Ansichten und
Beweggründe seiner Vorfahren an, ist ständig bemüht, aus den Ereignissen
auf sein eigenes Leben zu schließen, und versucht, transhistorische
Konstanten auszumachen, die er „Algorithmen“, „Lebensmuster“ oder „Reime
des Schicksals“ nennt und die ihn nicht selten zu pauschalen Urteilen
verleiten. Seine Schlussfolgerungen zu den Beweggründen historischer
Figuren scheinen aber nicht nur die Darstellung zu beeinflussen, sondern
auch die Ereignisse in der Vergangenheit selbst. Wie ein Gott greift er
ein, zieht Vergleiche, setzt Verhältnisse und ordnet damit alles neu.
Seine Rolle ist ihm dabei bewusst wenn es heißt, „er war derjenige, der
alles sah“ (245).
Vor dem Hintergrund der großartigen, bereits ins Deutsche übersetzten Romane Lebedews, Der Himmel auf ihren Schultern (2013) und Menschen im August
(2015), ist dieses Buch deshalb zunächst ärgerlich: Es ist ermüdend,
den Spekulationen Kirills über die Beweggründe seiner Vorfahren zu
folgen, die ihn dann wie von Zauberhand auf die richtige Spur lenken.
Die Methode des Erzählers, intuitiv historische Zusammenhänge zu
erkennen, wird hier nicht nur exzessiv und mit scheinbar
selbstverständlichen Erfolgen verfolgt, sie wird auch explizit benannt.
Mit fortschreitender Lektüre aber wird deutlich, dass dieses
Thematisieren und Ausreizen nicht einfach Kitsch ist, sondern vielmehr
neue Bereiche poetischer Opazität öffnet. Denn dieser Roman hat ein ganz
anderes Thema als die vorhergehenden, in denen es um die Vergangenheit
bzw. das Fortleben der Vergangenheit in der Gegenwart ging. Hier geht es
um Kirill, seine Recherche und darüber, wie eine Erzählung entsteht.
Die Rekonstruktion der Vergangenheit und das Verfassen des Buchs darüber
wird für Kirill zu einem einzigen Vorgang: Das Nachdenken über den
möglichen Fortgang der Erzählung fällt in eins mit dem Auffinden neuer
Verbindungsstücke in der Geschichte seiner Vorfahren. Kronos‘ Kinder ist damit ein unfertig wirkender Metaroman mit all der Sperrigkeit und Unabgeschlossenheit, die diesem Genre eignen kann.
Was diesen Metaroman trotz dieser Sperrigkeit zu einem
Genuss macht, sind die so wundervollen Beschreibungen, für die Lebedew
bekannt ist. Dazu gehören zum Beispiel Kirills feinsinnige Beobachtungen
bei der Lektüre des mehrsprachigen Tagebuchs seines Großvaters und die
atmosphärische Beschreibung eines Sommergewitters im Dorf der Großmutter
ganz zu Anfang des Romans. Diese Szenen, in denen der Lesende das
Gefühl absoluter Unmittelbarkeit bekommt, ergänzen die methodischen
Reflexionen des Protagonisten erstaunlich gut.
Vortrag von Gunther Nickel Moderation: Thedel von Wallmoden
Montag, 18. Februar 2019, 20 Uhr
Mit dem Namen Suhrkamp verbindet man heute vor allem ein Verlagsprogramm, das für kritisch-emanzipatorisches Denken in der alten Bundesrepublik steht. Carl Zuckmayer hingegen erschien dem Suhrkamp-Autor Theodor W. Adorno, einem der wichtigsten Exponenten dieses kritisch-emanzipatorischen Denkens, schon 1960 geradezu „widerwärtig“. Vor diesem Hintergrund wirkt die enge Freundschaft zwischen Peter Suhrkamp und Carl Zuckmayer, die der bislang unveröffentlichte Briefwechsel zwischen 1935 bis 1959 dokumentiert, zumindest überraschend.
Der Vortrag von Gunther Nickel zeichnet die Entwicklung dieser Freundschaft nach, die schon in den 1920er Jahren ihren Anfang nahm und die später ganz zentral auch die Literaturpolitik des Dritten Reichs und die Geschichte des S. Fischer Verlags berührt. Peter Suhrkamp leitete von 1936 an den nicht ins Exil gezwungenen Teil des S. Fischer Verlags. 1950 wurde die endgültige Spaltung zwischen Peter Suhrkamp und dem Fischer Verlag mit den Neugründungen des S. Fischer und des Suhrkamp Verlags vollzogen.
Dr. Gunther Nickel ist Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz und hat unter anderem zahlreiche Editionen aus dem Nachlass Zuckmayers veröffentlicht, darunter den Briefwechsel mit Annemarie Seidel, Peter Suhrkamps späterer Ehefrau, einen Geheimreport aus den Jahren 1943/44 für den ersten Auslandsgeheimdienst der USA und einen Deutschlandbericht für das amerikanische Kriegsministerium aus dem Jahr 1947.
Thedel von Wallmoden ist Germanist, Hochschullehrer, Gründer und Verleger des Wallstein Verlags.
Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V.
Auf den Spuren des Auswanderers, der vor 300 Jahren meine Geige baute
Philipp Blom ist seit seiner Jugend passionierter Geigenspieler. Ursprünglich hatte er selbst professioneller Musiker werden wollen, musste aber einsehen, dass seine Disziplin und Leidenschaft für diesen Weg nicht ausreichen würden, und diesen Plan aufgeben. Er wurde Historiker und Schriftsteller. Die Liebe zum Geigenspiel aber blieb.
Eine italienische Reise beginnt mit einem Besuch des Autors in der Werkstatt des renommierten Geigenbauers und -händlers MR, wo ihm ein Instrument durch seine besondere Gestaltung auffällt. Eine sorgfältig restaurierte Geige, die aber nach einem „Stimmriss“ trotz der Reparatur ihre Stimme verloren zu haben schien. Sie sei um 1800 gebaut worden, sagte der Händler, wahrscheinlich in Oberitalien, aber mit deutlichem Allgäuer Einfluss. Mehr hätte er aber auch nach längeren Recherchen nicht herausfinden können.
Blom, der (was der Leser erst später erfährt) eine harte Zeit voller Schicksalsschläge hinter sich hat, die im Verlust seiner alten Geige gipfelte und ihn völlig blockierte, nimmt die Geige mit nach Hause. Nach Tagen intensiven Spiels erlebt er, wie das Instrument langsam erwacht und seine Stimme wiederfindet – und er zurück zum Geigenspiel. Und noch etwas anderes geschieht: „Jedes mal, wenn ich meine Geige zur Hand nahm (…), fühlte ich, dass ich jemandem begegnete (…). Die Hände des Spielers und des Erbauers trafen sich auf diesem kleinen Instrument …“ Das Interesse des Geigenspielers und Historikers ist geweckt.
Dann folgt Philipp Bloms jahrelange Suche nach dem Ursprung des Instruments, die ihn zu unterschiedlichen Experten führt – in Süddeutschland und Holland, Oberitalien, Wien und London. Er forscht in Archiven, durchforstet Bücher und spezialisierte Datenbanken, umkreist sein Forschungsobjekt, ohne eine eindeutige Spur zu finden.
Als er auf dem Weg der reinen Fakten nicht mehr weiterkommt, konstruiert er den idealtypischen Weg eines Jungen aus dem Allgäu, der im Alter von zwölf Jahren von seiner armen Familie über die Alpen nach Venedig, geschickt wird, um dort in einer der vielen Werkstätten deutscher Instrumentenbauer das Handwerk zu lernen und zu arbeiten. In alten Akten hat er einen Hanns Kurz gefunden, aus dem in Italien Giovanni, im venezianischen Dialekt Zuanne Curci geworden ist. Von einem wie ihm könnte die Geige stammen.
Geschickt verknüpft der Autor unterschiedliche Themenfelder: Die Geschichte des Geigenbaus, des Musiklebens in Venedig um 1800, die Wertsteigerung eines alten Instruments durch die exakte Herkunftsbestimmung (was wenig über den Klang aussagen muss). Er erzählt von Komponisten und Virtuosen, von Meistern, Schwindlern und Scharlatanen im Geigenbaugewerbe. Eine italienische Reise ist ein Buch voller Wissen; lebendig, spannend und warmherzig erzählt, so reich, dass man ihm in einer kurzen Empfehlung nicht gerecht werden kann. In einem fiktiven Dialog gegen Ende des Buches schreibt Blom: „Ich habe Geschichte gesucht und Geschichten gefunden …“ und die zu erzählen ist ihm – zur Freude der Leser – auf hinreißende Weise gelungen.
Keine Eiszapfen, Schneemänner, verschneiten Wälder – die Wettergötter haben ein Problem mit der weißen Pracht. Aber was macht das schon! Bücher sind der beste Ersatz für äußere Missstände und der Rutsch ins neue Jahr ist ohne Eis auch viel sicherer.
Wir wünschen Ihnen in diesem Sinne besinnliche und schöne Weihnachtsfeiertage und einen phantastischen Start ins neue Jahr!
PS: „Zwischen den Jahren“ sind wir ganz regulär für Sie da und an Silvester von 9.00 bis 13.00 Uhr.
Als
Albertine Sarrazin mit 29 Jahren starb, hatte sie einen Großteil ihres
Lebens hinter Gittern verbracht. Ihre Romane hatten für ein Aufsehen
gesorgt, das sie in ganz Frankreich und über seine Grenzen hinaus
bekannt machte. Die Neuübersetzung von Der Ausbruch durch Claudia Steinitz ist dazu angetan dieses großartige Buch erneut ins Gespräch zu bringen.
Anick Damien, die Protagonistin des Romans, sitzt (nicht zum ersten Mal) wegen Juwelendiebstahls und Hehlerei hinter Gittern. Der Ausbruch
stellt ihre Aufzeichnungen während eines Teils dieser Haftzeit dar. Sie
erzählen von den Verhältnissen, Freund- und Feindschaften im Gefängnis
und vor Gericht. Die Arbeit an diesem Roman wie an all ihren anderen hat
Albertine Sarrazin selbst im Gefängnis begonnen. Ob man darin den Grund
für seine Tiefe und brutale Ehrlichkeit sehen will, bleibt den
LeserInnen selbst überlassen.
Anick schreibt nicht zum Zeitvertreib, nicht um die
Haftzeit zu verkürzen oder sie für sich nutzbar zu machen. Ihr Schreiben
ist an sich schon ein Ausbruch, ein Widerstand. Doch ist es kein
eskapistischer Akt: Ihre ausufernden Sprachbilder täuschen nicht über
die Trostlosigkeit und die Brutalität des Knastes hinweg, sondern
arbeiten sich an ihr ab, sind vielleicht der Versuch, die
Gefängnismauern aufzulösen. So wie ihre Ausbruchspläne sich
ausschließlich auf die Dicke der Gitterstäbe, die Höhe der Wände und die
Scherben auf der Außenmauer konzentrieren, so konzentriert sich auch
das Schreiben im Gefängnis auf nichts als das Eingeschlossensein, das
Limitierte, auf den Alltag im Knast. Woraus kann ich mir eine Pinzette
formen, und wo verwahre ich sie so, dass sie nicht entdeckt und
konfisziert wird? Wie kann ich mich gegen meine Mitgefangenen in dem
nervenzerreißenden Spiel zwischen Unterwürfigkeit und Selbstbehauptung
durchsetzen?
Anicks Schreiben und ihre immer wieder neuen Pläne, dem
Gefängnis zu entkommen, sind zwei der drei großen Freiräume im Dasein
der Gefangenen. Der dritte ist die Liebe, denn Der Ausbruch ist
auch ein Liebesroman. So unbeschränkt und radikal wie der Wille der
Protagonistin ist ihre Liebe zu ihrem Freund Zizi. Und immer wieder
scheint auch das Bedürfnis nach Nähe und engster Freundschaft zwischen
ihr und ihren Mitgefangenen auf.
Der alles bestimmende Ausbruch meint zugleich das
Entkommen aus den Mauern des Gefängnisses und den Ausbruch des Vulkans,
der zum Bruch mit den Verhältnissen führt, verweist auf die Einbrüche,
die Anick und Zizi in den Knast gebracht haben, und auf die schmerzenden
Knochenbrüche, die Anick jeden Tag an ihre Flucht vom Tatort erinnern.
Hier muss auf die hervorragende übersetezerische Leistung von Claudia
Steinitz hingewiesen werden, denn Sarrazins Sprache ist durchdrungen von
feingesponnen Bildern und Metaphern, die nicht selten und nicht
zufällig von der Mythologie ausgehen, aber auch, durch Sprachcodes und
Decknamen – Anleihe an die omnipräsente Zensur, die Kontrolle, an den
heimlichen Kassiber-Austausch –, sehr verdunkelt. Das Schreiben setzt
der Profanität des Gefängnisalltags eine Üppigkeit entgegen, die dennoch
keinen anderen Gegenstand haben kann als eben diese Profanität, diese
Kargheit, diesen Überfluss des Mangels, diese Grenzenlosigkeit des
Gefängnisses.
Motor der Geschichte ist der italienische Kolonialismus,
genauer, Mussolinis Eroberungsfeldzug in Äthiopien, der 1935 begann und
fünf Jahre währte. Sangue giusto, Richtiges Blut,
heißt der Roman im Italienischen und verweist damit schon im Titel auf
den faschistischen Rassenwahn und das System strikter Rassentrennung,
das das Regime in Äthiopien installierte. Bis zu zehn Prozent der
Bevölkerung fielen diesem Krieg zum Opfer, den Hungerlagern,
Massenhinrichtungen und Senfgaseinsätzen. Von einem „vergessenen
Völkermord“ spricht der Historiker Aram Mattioli – vergessen, weil ins
Abseits der Erinnerungskultur Italiens geschoben, wo nie eine
glaubwürdige Aufarbeitung der Vergangenheit stattgefunden hat. Die an
der Bevölkerung verübten Gewalttaten der deutschen Besatzer ab 1943
überschatteten die Tätervergangenheit des Landes, es konnte sich fortan
als Opfer sehen oder als antifaschistische Partisanen gegen die deutsche
Besatzung. So überdauerte bis heute in weiten Teilen der Bevölkerung
ein unvollständiges und allzu nachsichtiges Bild des Faschismus.
Francesca Melandri destruiert dieses Bild in ihrem Roman radikal.
„Italien war ein ausgenüchterter Alkoholiker, der wie jeder Verfechter
der Abstinenz nichts von seinem Verhalten während des letzten schlimmen
Rausches wissen will“, schreibt die römische Autorin, die als
Drehbuchautorin und Dokumentarfilmerin bekannt wurde und nun ihren
dritten Roman vorlegt, nach Eva schläft, einem Roman über die
Zwangsitalianisierung Südtirols, und Über Meereshöhe, dessen Thema der
italienische Terrorismus ist.
Die Handlung setzt ein im Jahr 2010, noch regiert
Berlusconi. Ilaria Profeti, Mitte vierzig, Lehrerin und kinderlos, eine
der Hauptfiguren des Romans, ist eine mehr oder weniger typische
Vertreterin des linksliberalen Milieus in Italien: Desillusioniert durch
die fortwährende Untergrabung der Demokratie durch die rechte
Regierung, ist sie gleichwohl als Lehrerin noch immer sehr engagiert.
Alle außer ihr sind korrupt, bigott und unmoralisch. Was sie nicht daran
hindert, eine – verheimlichte – sexuelle Beziehung zu Piero einzugehen,
einem Jugendfreund aus vermögender Familie, der in Berlusconis Partei
Karriere gemacht hat und damit politisch genau das Gegenteil ihrer
Überzeugungen vertritt. Ilaria glaubt, ihr Leben im Griff zu haben, ihre
Familie zu kennen. Bis etwas geschieht, das sie in ihrer Grundfesten
erschüttert: Eines Abends , Ilaria kommt vom römischen Alltag abgekämpft
nach Hause, sitzt auf der Treppe ihrer Wohnung im sechsten Stock eines
Miethauses ein abgerissener junger Mann, dem Aussehen nach ein
Äthiopier, eindeutig ein Geflüchteter; wie sich herausstellt, ein
regimekritischer junger Lehrer, der, um sich der Verfolgung durch das
postkoloniale Regime zu entziehen, „raus musste“ und nach jahrelanger
Flucht durch die Wüste und libysche Lager in Italien landete, wo sein
Asylantrag binnen weniger Minuten abgelehnt wurde. Und dieser junge
Mann, der nun illegal in Land lebt, erklärt Ilaria in perfektem
Italienisch: „Ich heiße Shimeta Ietmgeta Attilioprofeti“. Der Beweis:
sein Pass. Ietmgeta sei der Name seines verstorbenen Vaters, Attilio
Profetis Sohn. Attilio Profeti, das ist Ilarias Vater. Ein Vater, den
sie liebt. Der einst der heranwachsenden Ilaria beichtete, er habe noch
eine zweite Familie, eine Frau, Anita, die er nach der Scheidung von
Ilarias Mutter heiratet, und einen Sohn namens Attilio, nach dem Vater
benannt . Die Erzählung nimmt Fahrt auf. Den hochbetagten Vater kann
Ilaria nicht mehr befragen. Er ist dement. Die Suche nach der Wahrheit
hinter der Behauptung des Jungen, sie sei seine Tante, führt Ilaria
zurück in die italienische Provinz zur Zeit des Faschismus, zur Herkunft
ihres Vaters, und weiter über Rom nach Äthiopien. Denn der Vater hatte
mehr zu verbergen als eine zweite Familie: Er, der vorgegeben hatte,
Partisan gewesen zu sein, entpuppt sich als überzeugter Faschist, der
sich freiwillig für den Abessinien-Feldzug meldete, als Assistent eines
Rassenforschers arbeitete, an Feldzügen und Massakern teilnahm und in
Äthiopien einen Sohn zeugte, den er nie anerkannte. Attilio Profeti ist
eine der wichtigsten Figuren der Erzählung, charmant, liebenswert,
skrupellos, vielschichtig gezeichnet, glaubwürdig, so wie andere
Handlungsträger auch. Flankiert werden sie von zahlreichen Nebenfiguren,
die leider öfter zu Schablonen geraten sind. Die Stofffülle ist immens,
doch der Autorin ist es gelungen, die Zeitsprünge, den häufigen Wechsel
der Perspektiven und Schauplätzen in den einzelnen Erzählsträngen
stimmig ineinander zu binden.
Zehn Jahre hat Francesca Melandri an diesem Roman
gearbeitet, in Archiven geforscht und in Äthiopien Orte der Handlung
aufgesucht, dort nach noch lebenden Zeitzeugen gesucht. Einprägsam sind
viele Szenen, etwa der Angriff auf widerständige Äthiopier, die mit
Senfgas aus ihrem Felsenversteck getrieben und getötet werden. Fast
schon satirisch die Beschreibung von Gaddafis berühmten Besuch in Rom,
der die Stadt in einen Ausnahmezustand versetzte. Gleichwohl seien
manche stilistische Entgleisungen erwähnt, etwa wenn es heißt, “die
Hochebene des Wollo und des Shoa” seien “so ausgetrocknet wie die Knie
von Hundertjährigen”. Auch die Übersetzung hätte bisweilen ein
sorgfältigeres Lektorat verdient. Das ist schade, keine Frage. Aber es
ändert nichts daran, dass Francesca Melandri ein weiterer Roman gelungen
ist, dessen Stärke darin liegt, historisch fundiert zu entwickeln,
warum das heutige Italien ist, wie es ist.
ab 18 Uhr: Lesen und Zeichnen rund um Toni. Und alles nur wegen Renato Flash
Fast genau einen Monat vor Heiligabend zaubert Philip Waechter Weihnachtswünsche und Fußballträume auf unsere Fensterscheiben – und Ihr dürft schauen und staunen, bevor wir im Warmen mit dem berühmten Kinderbuchillustrator zum Zeichenstift greifen: Vielleicht erfindet er eine neue Figur oder eine neue Geschichte mit Euch? Ein Weihnachtsmärchen oder einen Heldinnenroman? Auf alle Fälle aber dürft Ihr Tonis Abenteuern in Waechters neuem Buch lauschen: Toni. Und alles nur wegen Renato Flash.
Eine Reise flussaufwärts. Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier
In den ersten Lebensjahren wurde Katherine Norbury liebevoll in einem Kloster von Nonnen aufgezogen. Ihre Mutter war zur Niederkunft dort aufgetaucht und direkt danach wieder verschwunden. Später wurde Katherine von einem Ehepaar, das sich ein weiteres Kind wünschte, adoptiert. Dass sie nicht das leibliche Kind ihrer Eltern ist, zu denen sie ein inniges Verhältnis hat und die für sie stets ihre wirklichen Eltern waren, wurde von diesen nur einmal erwähnt und dann nie wieder thematisiert. Norbury scheibt, sie habe die Frau, die sie zur Welt gebracht hat, nie vermisst. Aber als sie längst erwachsen und verheiratet ist und selbst eine Tochter hat, entsteht nach einer Reihe von Schicksalsschlägen in ihr der Wunsch zu erfahren, woher sie stammt und warum sie weggegeben wurde.
Sie beginnt, Nachforschungen anzustellen. Ihre Suche dauert eine Reihe von Jahren, unterbrochen vom „normalen“ Gang des Lebens. Als sie schließlich vermeintlich am Ziel anlangt, ist vieles ganz anders, als sie es sich früher gedacht hatte. Ihr Weg zum Ursprung ihres Lebens verschränkt sich mit einem anderen, von ihr schon lange gehegten, Wunsch: Da sie immer schon gerne durch die einsamen Landschaften Nordenglands gewandert ist, beschließt sie, einem Fluss vom Meer bis zur Quelle zu folgen.
„Nature Writing“, Bücher, die sich auf literarische Weise mit Tieren, Pflanzen, Landschaften und dem Verhältnis des Menschen zu und in der Natur beschäftigen, ist in den letzten Jahren auch hierzulande immer populärer geworden. Viele dieser Bücher üben eine ruhige, soghafte Faszination aus. Obwohl der Autor im Text stets präsent ist, ist er nur indirekt Gegenstand des Erzählten. Auch in Die Fischtreppe korrespondieren Innen und Außen wechselseitig, aber im Gegensatz zu vielen – zumeist von Männern verfassten – Büchern spart Katherine Norbury das Persönliche nicht aus.
Sie erzählt auf beeindruckende Weise von den Landschaften, die sie durchwandert. Nicht gierig nach dem einmaligen Kick des Außergewöhnlichen, der nach steter Steigerung verlangt, sondern langsam, mit offenen Sinnen. Berührbar für alles, was da kommt. Für Unsicherheit, Erschöpfung, Freude und Schönheit. Für Licht, Geräusche, Sonne. Kälte, Schwingungen und Stimmungen. Aber obwohl es sie in die „wilde“ Natur zieht und zu einsamen Wanderungen drängt und trotz ihres Muts, mit mangelhaftem Kartenmaterial durch neblige Wasserlandschaften zu gehen, hat sie auch Ängste. Vor verschmutztem Wasser, davor, im Nebel im Moor vom Weg abzukommen oder auch vor einem Mann, der ihr an einem einsamen Strand begegnet. Diese Berührbarkeit und Beharrlichkeit sind es auch, die sie, nach einer Reihe von Schicksalsschlägen dazu bringen, ihrer eigenen Herkunft nachzugehen. Die Fischtreppe erzählt von den beiden Wegen, auf denen sie durch Höhen und Tiefen zum Ursprung findet.
Ruth Roebke, Bochum
Zur Autorin / Zum Autor:
Katharine Norbury, in Liverpool geboren, arbeitete lange als Produktionsassistentin fürs Fernsehen, bevor sie sich im Zuge einer schweren Krankheit eigenen Schreibprojekten zuwandte. Dabei entstand ihr 2015 veröffentlichter Debütroman The Fish Ladder, für den sie gleich mehrere Auszeichnungen und Nominierungen in Großbritannien erhielt.
Als „Ethnologin ihrer selbst“ geht Annie Ernaux in ihrem
neuen Roman zurück in das Jahr 1958, in dem sie sich als knapp
18-jährige zum ersten Mal von ihrem moralisch beengenden Elternhaus
entfernt, um in einem Feriencamp als Betreuerin zu arbeiten. Die
erhoffte Romanze mit einem älteren Betreuer gerät zu einer fast brutalen
ersten sexuellen Erfahrung, die Ernaux im Rückblick als prägend für ihr
ganzes Leben entschlüsselt.
Behutsam, aber in vertraut distanziertem Ton, überführt
die Autorin einen inneren Zustand der Bilder und Gefühle in einen
Zustand der Wörter. Sie erinnert sich an die Demütigung durch ihre
Altersgenoss*innen, an die tief empfundene Scham und ringt mit der
Frage, die sich vermutlich fast alle Mädchen in dieser Zeit stellten,
nämlich der, wie man sich „richtig“ verhält. Erst einige Jahre später
wird sie in ihrem Philosophiestudium bei Simone de Beauvoir die Antwort
finden, dass sie sich auch als Frau als freies Subjekt bewegen darf.
Die Ehrlichkeit, mit der Annie Ernaux ihren Selbsthass,
ihre beginnende Essstörung und den Versuch der Vertuschung ihrer
kleinbürgerlichen Herkunft beschreibt, hat eine gleichermaßen
beklemmende wie befreiende Wirkung auf den Leser. Oder in diesem Fall
vielleicht nur auf die Leserin? Auch 20 oder 30 Jahre später haben
Frauen noch immer mit denselben Zweifeln angesichts der Frage gerungen,
was wohl ein angemessenes, weibliches Verhalten sei.
Ernaux beschreibt in ihrer Rückschau, wie sie als junge
Frau den Weg der Verwandlung einschlug. Sie wollte ungeschehen machen,
was ihr so viel Schmerz bereitet hatte, versuchte, ihren Körper in den
einer Anderen zu verwandeln, in den Körper einer Frau, die begehrt statt
abgewiesen wird. Anstatt sich von der männlichen Dominanz zu befreien,
hatte sie ihr ganzes Sein darauf ausgerichtet, „ihn“ irgendwann doch für
sich gewinnen zu können.
Auf den einschneidenden Sommer im Feriencamp folgt der
Beginn einer Ausbildung an einer Fachschule für Lehrerinnen. Diese Zeit
in einer autarken Gemeinschaft mit durchorganisiertem Alltag, der für
die junge Frau „weich wie ein Kissen“ war, würde die Autorin später in
ihrer Auseinandersetzung mit politischen Fragen das sowjetische System
verstehen lassen und noch später die Sehnsucht der Russen nach der guten
alten Zeit. Erst später wird sich Annie Ernaux das vollkommene Fehlen
eines pädagogischen Talents eingestehen und einen anderen Weg
einschlagen, der sie aus der zwar strengen, aber doch behüteten
Gemeinschaft herausführen wird.
„…im Prinzip gibt es nur zwei Arten von Literatur, die
nacherzählende und die suchende…“ schreibt Ernaux. In Erinnerungen eines
Mädchens vereint die Autorin beides miteinander. Indem sie nacherzählt
und sich, ähnlich wie in ihrem letzten Roman Die Jahre, an
Erinnerungsstücken, Briefen und Fotos entlang hangelt, versucht sie sich
der jungen Frau – die sie jetzt nicht mehr ist – zu nähern. Die Frage,
wie wir zu der Person wurden, die wir heute sind, fasziniert vermutlich
nicht nur Annie Ernaux. Mit dieser Frage bleibt man auch zurück, wenn
man die letzte der 164 Seiten ihres Buchs gelesen hat, und wird sich im
besten Fall auf die Suche nach der eigenen Vergangenheit begeben.
„Es gibt eine neue Zeitrechnung im Irak: vor und nach Daesh – der Terrormiliz IS. Dies zeigt sich besonders deutlich bei den Parlamentswahlen im Mai 2018. Die neue Zeitrechnung, die seit Ende der Dschihadistenherrschaft besteht, gilt jetzt auch politisch. Das Land ist im Umbruch, die Jugend auf dem Vormarsch“. So beginnt eine der letzten von zehn Reportagen in Birgit Svenssons Buch, die vom Einmarsch der amerikanischen und britischen Truppen über den missglückten Neuanfang nach dem Krieg, als sich die Bilder von Abu Ghraib ins Gedächtnis brannten, dem Versinken des Lands im Terror bis zur Entwicklung heute reichen. Reportagen über die gescheiterte Wiederherstellung der Justiz, über die Lage von Frauen im Irak, über Fluch und Segen des Erdöls zeichnen ein vielschichtiges Bild eines Lands im Umbruch.
Für Birgit Svensson ist der Irak ein Schlüsselland für die gesamte Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten. Ohne das Desaster des Irak-Kriegs und dessen Folgen, so Svensson, sähe die Region heute völlig anders aus.
Birgit Svensson
lebt und arbeitet seit 2003 als freie Journalistin in Bagdad u.a. für Die Zeit, Die Welt, den Deutschlandfunk und die Deutsche Welle. Sie ist eine der wenigen westlichen Journalist*innen, die trotz hohen Sicherheitsrisikos kontinuierlich aus dem Irak berichten. Sie war beim Sondertribunal für die Verbrechen Saddam Husseins zugelassen, berichtete von der hart umkämpften Öl-Stadt Kirkuk und bereiste immer wieder auch den Süden Iraks.
2015 gab sie die erste Anthologie irakischer Schriftstellerinnen nach dem Sturz Saddam Husseins heraus.
Bruno Schoch
Assoziierter Forscher an der Hessischen Stiftung Friedens –und Konfliktforschung (HSFK), Mitherausgeber des Friedensgutachtens, Beirat der Heinrich-Böll-Stiftung Hessen
Eine Veranstaltung in Kooperation mit der Heinrich Böll Stiftung Hessen e.V.