Yishai Sarid
Die Siegerin
Eine Psychologin macht Soldatinnen und Soldaten fit für das Töten. Sie sollen kompromisslos dazu bereit sein, aber zugleich menschlich bleiben. Das Dilemma führt mitten in die israelische Gegenwart.
Der neue Roman von Yishai Sarid leuchtet eine Seite des Lebens in Israel aus, die für diejenigen, die den deutschen Alltag als Normalität erfahren, vollkommen fremd ist. Er handelt von der ständigen Gegenwart des Krieges im privaten Leben der Menschen. Das ist kein Roman über den Nahost-Konflikt, vielmehr zeigt er eine weitere Seite der israelischen Gegenwart, nachdem Sarid in seinem Roman „Monster“ (Kain & Aber 2019) davon erzählte, wie die Schoa das subjektive Erleben des Politischen prägt. Bereits dort geht es nicht zuletzt um die ununterbrochene Notwendigkeit, sich auf kriegerische Auseinandersetzungen einzustellen. Aus der Ferne betrachtet, scheint es um die Funktionalisierung der Schoa für die mentale Vorbereitung auf den Kampf zu gehen. Aber es ist keine Funktionalisierung, sondern einer der Gründe, warum sich das Kollektiv der jüdischen Israelis, wie es in „Monster“ heißt, „keine Sekunde der Schwäche erlauben darf“.
Wer ist die „Siegerin“? Ich denke nicht, dass es die Protagonistin ist, die Psychologin, die für das Militär arbeitet. Die Siegerin ist vielmehr Noga, so etwas wie die ideale Patientin der Protagonistin. Sie strahlt – nachdem sie zunächst einem psychischen Stresstest unterzogen wurde, der sie auf den Kampf vorbereitet hat. Von ihr fühlt sich die Protagonistin zutiefst angezogen. Die Geschichte ihres Sohnes ist ein weiterer wesentlicher Strang der Erzählung, den es zu entdecken gilt. Denn die Notwendigkeit, sich als Kämpfer zu bewähren, zerbricht die Menschen, es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass die Siegerin die Hauptperson ist.
Ich-Erzählerin ist die Psychologin, ihr Name wird nicht
genannt. Die Soldaten sollen nicht einfach – wie es der Klappentext des
Buches formuliert – fit sein, um den Feind zu besiegen und selbst am
Leben zu bleiben. Sie sollen das Töten emotional als einen Teil ihrer
Persönlichkeit akzeptieren. Die Ich-Erzählerin bewegt sich bewusst auf
dem schmalen Grad zwischen der Begeisterung für das Morden und der
Reflektion der Gefahr, die eine Gewöhnung an das Töten als Beruf mit
sich bringt. Eine der zentralen Figuren des Romans, der Bildhauer Mendi,
steckt tief in den Traumata fest, die er aus seiner Zeit als Nahkämpfer
mitgenommen hat. Die Psychologin hat ihn therapiert und mit ihm
Freundschaft geschlossen. Mit ihm spricht sie über das Leben nach dem
Kampf.
Ihre eigentliche Arbeit ist aber das Training der künftigen Kämpferinnen
und Kämpfer. Ihre Lehrgänge für Bataillonsführer sind ein Angebot zur
Selbstreflektion über das, was die eigene Erfahrung mit dem Krieg und
speziell dem Töten für die Professionalisierung bedeutet. Der Antagonist
dieses psychologischen Trainingskonzepts ist ihr Vater, ein
Psychoanalytiker der alten Schule. Leise und geduldig versucht er in
seinem Raum, den die Protagonistin als Kind wie ein Heiligtum achtete,
die Patienten zu begleiten. Er tut das auch heute noch, bis zu seinem
Tod, den sie als großen Verlust erfährt. Diese beiden Konzepte der
Arbeit an der Seele der Menschen sind wie ein Spiegel der Differenz
zwischen dem, was ich als Bild von jüdischen Intellektuellen im Europa
vor der Schoa auf der einen und von zum physischen Kampf bereiten
Israelis der Gegenwart auf der anderen Seite imaginiere. Vielleicht
ziemlich plakativ, aber so ergeben sich neue Aspekte, um die von den
ununterbrochenen Bedrohungen und Kriegen geprägte israelische
Gesellschaft zu verstehen.
Gottfried Kößler, Frankfurt