Buchempfehlung

Maria Stepanova

Der Körper kehrt wieder

Suhrkamp Verlag, 22 €

(Gedichte)

In ihrem 2021 für den International Bookerprize nominierten romanhaften Memoire Nach dem Gedächtnis (2018) beschreibt die Autorin Maria Stepanova den Versuch, über ihre Familie zu schreiben, sinngemäß als Epigonentum ohne Material. Das Leben ihrer Ahnen scheint nichts herzugeben, was sich narrativ, poetisch oder gar ideologisch ausschöpfen ließe. In Der Körper kehrt wieder bringt sie jedoch eine andere Form der Nachgeborenenschaft mit ins Spiel. Der Gedichtzyklus, der in diesem Band im Zentrum steht, trägt den Titel Spolia (im Original 2015 erschienen) und setzt mit den Versen ein: „alles zusammengenommen lautete der befund: sie ist nicht in der Lage, für sich selbst zu sprechen“. Konsequent wird hier aus dem lyrischen Ich das lesende Ich, das konfrontativ die Position der Dichterin angreift, und zwar nicht zuletzt im Namen der Dichtung selbst. Dieser Vorwurf, nichts Eigenes hervorbringen zu können, wird zu einer Art Kehrvers, der, statt endlich das Dichten zu untergraben, ihm eine neue Struktur bereitet.

Die einzelnen Gedichtzyklen setzen sich aus vielen, meist sehr kurzen Gedichten zusammen. Ohne selbstständige Titel divergieren sie im Hinblick auf ihre Form stark. Immer wieder setzt überraschend ein Metrum ein, oder ein Reimschema, das an Kinderlieder erinnert, schimmert durch, um sich dann wieder in prosaisch anmutenden Strophen zu verlieren. Anspielungen und Imitationen zieht die Lyrik sowohl aus dem russischen Kanon als auch (wenn auch weniger) aus der gegenwärtigen Popkultur und der griechischen und lateinischen Antike.

„in der sowjetzeit hat man aus solchen wie ihr übersetzer gemacht“. Stepanovas Lyrik formuliert das Motiv der Substanzlosigkeit auch bei sich selbst. Sogar im Verfolgungswahn des stalinistischen Terrors, dessen Tote genauso wie Opfer und Wiedergänger des Faschismus im Geschichtsbild Stepanovas deutlich anwesend sind, wäre ihre dichterische Stimme auf Grund mangelnder Substanz, mangelnden Gewichts nicht verfolgt, sondern angepasst, nivelliert worden – so der autopoietische Vorwurf. In wessen Namen aber wird er formuliert? Dem der Opfer oder der Täter? Dem der Zeitgenossen oder der Nachgeborenen?

Im Übrigen straft die geniale Übertragung ins Deutsche durch Olga Radetzkaja das Bild des angepassten Übersetzertums Lügen. Wann immer Texte in einer zweisprachigen Ausgabe herausgegeben werden, deren Originalsprache ich nicht beherrsche, wirkt die unlesbare linke Seite des Buches bittersüß auf mich. Beim Lesen dieser Gedichte habe ich jedoch noch öfter als gewöhnlich auf die kyrillischen Buchstaben gestarrt, in der abwegigen Hoffnung, sie würden mir noch mehr über den Ursprung der Kofferwörter verraten, die Radetzkaja im Deutschen formt. Um nur ein Beispiel zu nennen, welches das Verhältnis zur Geschichte in Stepanovas Lyrik zusammenzufassen scheint: „das verdächtnis| ist keine rettung“ und im Russischen: „воспонимание|неспасауе“. Erinnerung und Gedächtnis schwanken hier in nur einem Wort zwischen Verdacht, Verständnis und Fehlleistung.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt