autoren

236 Beiträge

Buchempfehlung – Arlie Russell Hochschild „Fremd in ihrem Land: Eine Reise in das Herz der amerikanischen Rechten“

Campus 29,95€

Warum wählen Menschen in Louisiana, einem Staat, der in den Bereichen „Lebenserwartung, Schulbesuch, Bildungsabschluss und mittlerem Einkommen auf dem 49. Platz unter 50 US-Bundesstaaten liegt“, unter „erheblicher Umweltverschmutzung“ leidet und zudem „44 Prozent seines Etats aus Bundesmitteln“ bezieht, Kandidaten einer Partei, die öffentliche Gelder kürzen, Umweltauflagen und Krankenversicherung streichen und die Steuern für Superreiche und Großunternehmen senken will? Dieses Paradox war der Anlass für die Soziologin Arlie Russell Hochschild, sich fünf Jahre lang mit Tea-Party-Anhängern zu befassen. Sie verließ ihre linksliberale „politische Blase“ in Berkeley und überwand die „Empathie-Mauer“, die Demokraten und radikale Republikaner in den USA trennt und zunehmend höher wird. Welche Gefühle stecken hinter dem mit dem Verstand nicht zu begreifenden Widerspruch, der Menschen gerade die Partei wählen lässt, die ihre Situation ganz offenkundig nicht verbessern, sondern verschlimmern wird? Wieso bejubelt jemand, dessen Haus ganz plötzlich in einem gigantischen Loch verschwindet, das durch die Schlamperei der Methanindustrie entstanden ist, einen Kandidaten, der verhindert, dass sich die Unternehmen an Umweltauflagen halten müssen? Nach fünfjähriger Forschungsarbeit liegen Antworten auf diese Frage jetzt vor, und, um es gleich zu sagen, sie machen wenig Hoffnung.

Hochschild konstruiert für ihre faktenreiche, detaillierte und von großer Empathie mit ihren Gesprächspartnern getragene Studie eine „emotionale Tiefengeschichte“, die dem Ich quasi eine emotionale Landkarte zur Verfügung stellt und sich aus Erfahrungen der eigenen Familiengeschichte sowie historischen Fakten und Ideologemen zusammensetzt. Man mag zwar einerseits Opfer der Verhältnisse sein – Arbeitslosigkeit, umweltbedingte Krankheiten, mangelnde Bildungschancen –, aber andererseits ist man anständig, zäh, nimmt Schicksalsschläge hin und an, müht sich redlich, kümmert sich um die eigene Gemeinde und geht regelmäßig zur Kirche. Das alles bildet die Grundlage des amerikanischen Traums, der, entsprechenden Einsatz vorausgesetzt, jedem die Chance auf Glück und Reichtum bietet. Warum also sollte man denen böse sein, die diesen Traum verwirklicht haben? Böse ist man denjenigen, die auf dem Weg zu seiner Umsetzung an dank staatlicher Unterstützung, Mitleid und Aufmerksamkeit einem vorbeiziehen: Schwarze, Frauen, Schwule, Flüchtlinge, Migranten. Mit all diesen Gruppen soll man Mitleid haben, während niemand Mitleid mit der eigenen Gruppe hat, und das heißt auch, während niemand die eigene Gruppe wahrnimmt und respektiert, ja schlimmer noch, während man die eigene Gruppe diffamiert: als rassistisch, homophob, chauvinistisch und dumm.

Die Mischung aus Reportage, Fakten und Gesprächsprotokollen macht Fremd in ihrem Land zu einer sehr lesbaren und zudem ausgesprochen spannenden Lektüre, nach der man einige Entwicklungen nicht nur in den USA besser versteht. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Wissenschaftler mit einem ähnlichen emotionalen Kraftaufwand und Engagement nach Wegen suchen, um die „Empathiemauer“ und die „politischen Blasen“ auf beiden Seiten des politischen Spektrums soweit abzubauen, dass eine Verständigung wieder möglich wird. Dazu allerdings scheint es noch eines sehr großen Kraftakts zu bedürfen …

Irmgard Hölscher, Frankfurt

Buchempfehlung

Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete.
Rowohlt Rotfuchs 16,99 €

Stevenson, Robin

Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete

Roman. Aus dem Englischen von Bettina Münch.

 

Gleich mal vorweg: Bienen werden in diesem Buch zwar erstmal nicht gerettet, vielleicht aber der Zusammenhalt einer Familie und die Integrität eines Jungen, der versucht herauszufinden, wer er außer dem verlässlichen großen Bruder und braven Sohn eigentlich sein möchte.

Wolf ist 12 und seine Mutter Jade der Inbegriff einer engagierten Öko-Aktivistin, die sich – nachdem Wolf in der Schule ein Referat über dieses Thema gehalten hatte – so umfassend mit dem Bienensterben befasst, dass aus ihrer Sicht der Kollaps des Ökosystems kurz bevorsteht. Um dem Weltuntergang nicht untätig zuzusehen, bricht sie mit ihrem Mann Curtis alle Zelte ab, gibt das Haus der Familie auf, lagert alle Möbel ein und plant, einen Sommer lang durch Kanada zu ziehen, von Kleinstadt zu Kleinstadt, um die Öffentlichkeit über das bedrohliche Verschwinden der Bienen und seine Konsequenzen zu informieren. Dass sie ihre Kinder aus der Schule und ihrem Umfeld reißt, scheint kein zu hoher Preis zu sein – immerhin geht es doch um deren Zukunft. So sieht das zumindest Jade, die in ihrem Aktivismus völlig aus den Augen verliert, wie es ihren Kindern mit diesen Zukunftsaussichten eigentlich geht.

Jade hat eine Vision, Curtis kümmert sich um den schwarz-gelb gestrichenen und auf Speiseölbetrieb umgerüsteten Ford, Violet, Wolfs 15-jährige Stiefschwester, rebelliert und kämpft darum, sich nicht von ihrem Freund Ty trennen zu müssen, und die 5-jährigen Zwillingsschwestern Saffy und Whisper freuen sich zumindest anfangs an ihren niedlichen Bienenkostümen, in denen sie die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich ziehen sollen.

Wolf steckt mitten drin in den Anfängen der Pubertät und in dieser bunten Patchworkfamilie. Er übernimmt die Verantwortung für die Versorgung seiner kleinen Geschwister, sorgt sich um seine ohnehin stille Schwester Whisper, die seit Beginn der Bienenrettungsreise völlig verstummt ist, und schwankt zunehmend zwischen unbedingter Loyalität gegenüber seiner Mutter und den langsam aufwallenden, eigenen Bedürfnissen. Eigentlich ist es für ihn undenkbar, in einem (zu engen) Bienenkostüm wildfremde Leute auf das Bienensterben anzusprechen oder gar um einen Schlafplatz für sich und seine Familie zu bitten. Er windet sich innerlich, man leidet mit ihm und wünscht ihm so sehr, sich endlich gegen die unbedachten Forderungen seiner Mutter aufzulehnen. Allzu nachvollziehbar ist sein verzweifelter Wunsch nach einem gemütlichen Zuhause, anstatt in einem miefenden, altersschwachen Van zur abstrakten Rettung der Welt auf unbestimmte Zeit durch Kanada zu fahren.

Die quirlige, euphorische Mutter erscheint in ihrem Überschwang auch nicht wirklich unsympathisch, ist aber ein gutes Beispiel dafür, dass der Zweck eben nicht immer die Mittel heiligt. Mit ihren düsteren Beschreibungen einer Welt ohne Bienen versucht sie voller Idealismus, die dringenden gesellschaftlichen Veränderungen anzustoßen. Gleichzeitig bürdet sie aber ihren Kindern die Verantwortung für den Fortbestand der Menschheit auf. Eine Last, die weder Wolf noch seine Schwestern tragen können, oder – wie in Violets Fall – auch gar nicht tragen wollen.

Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete handelt von Loyalitätskonflikten, Patchworkfamilien-Problemen, Pubertätswallungen und Verantwortung. Mit pointiertem Witz, Spannung und Mitgefühl macht die kanadische Autorin Robin Stevenson darauf aufmerksam, dass Eltern nicht immer besser wissen, was gut für ihre Kinder ist, und ermutigt Kinder dazu, sich auf ihr eigenes Gefühl zu verlassen und auch dazu zu stehen.

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung – Colson Whitehead „Underground Railroad“

Hanser Verlag 24€

Eine Sklavin zu sein bedeutet nicht nur, nicht gehen zu können, wohin man will, nicht sagen zu können, was man will, zu dienen und zu arbeiten ohne Entlohnung oder Rechte. Sklaverei ist ein umfassender Lebenszustand. Die Menschen in Whiteheads Roman wurden meist bereits in die Sklaverei geboren, oft schon seit mehreren Generationen. Schon die Idee eines anderen Lebens, die Hoffnung auf Flucht liegt für die meisten von ihnen außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Allein an Flucht zu denken gilt als verrückt, geschweige denn, sie auch zu wagen. Und so ist es kein Zufall, dass die Geschichte der Flucht, die Whitehead hier erzählt, auch die Geschichte zweier Außenseiter ist: Caesar, der schon einmal eine Ahnung von einem anderen Leben erhielt, als seine vorherige Herrin ihn das Lesen lehrte und die Freiheit versprach, und Cora, deren Mutter zur Legende wurde, als es ihr gelang, von der Farm zu fliehen, ohne je wieder gesehen zu werden. Zusammen gelingt ihnen die Flucht von der Farm in ein noch unbekanntes anderes Leben. Doch noch unvorstellbarer als die Flucht selbst scheint die reale Möglichkeit dieses anderen Lebens, eines Lebens, das einem, ungeachtet der Hautfarbe, selbst gehört. Auf den unzähligen Etappen ihrer Reise wird deutlich, dass es das große andere, das gänzlich befreite, nicht rassistische Land auf einer imaginierten anderen Seite nicht gibt. Je weiter sich Cora und Caesar vom Süden entfernen, desto leichter fällt es ihnen, an eine befreite Wirklichkeit zu glauben, und desto bitterer ist die Ernüchterung, wenn sich ihre Pläne zerschlagen.

Colson Whitehead erschafft ein Panorama der nordamerikanischen Geschichte zur Zeit der Sklaverei und entfaltet sie entlang von Coras Stationen auf der Underground Railroad. Das historische Untergrundnetzwerk, mit dem weiße Abolitionisten SklavInnen bei der Flucht unterstützten, wird von Whitehead wörtlich genommen und somit zur geheimen Untergrundbahn. Wo sie abfährt, lässt sie für Cora verbrannte Erde zurück, und sie hat immer nur ein Ziel: weg von hier in Richtung eines neuen, unbekannten Ortes und der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch Whiteheads Roman ist nicht nur die spannende Geschichte einer nicht enden wollenden Flucht, er erzählt uns auch sehr viel über das Verhältnis von Sklaverei und Rassismus, darüber, wie sich die Vorstellung, Menschen würden, aus welchen Gründen auch immer, zum Besitz anderer Menschen, auch dort immer wieder einschleicht, wo sie überwunden geglaubt zu sein scheint. Whitehead stellt in sehr klaren Bildern und intensiven Szenen dar, wie Rassismus und Sklaverei als Grundpfeiler für ökonomische wie für soziale Ordnungen funktionieren. Das ist einerseits eine glaubhafte Darstellung struktureller Diskriminierung, bietet ihm aber andererseits auch die Chance, den Figuren in seinem Roman Tiefe zu verleihen.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung – Chris Kraus „I Love Dick“

I Love Dick.
Matthes & Seitz, 22€

Spricht man wohlwollend über Literatur von Autorinnen, fallen nicht selten Sätze wie „Sie schreibt gänzlich unaufgeregt und distanziert“, ganz so, als habe man jede Autorin zunächst gegen ein grundlos wütendes oder rettungslos emotionales Schreckensbild weiblichen Schreibens zu verteidigen. Autorinnen (Leserinnen ebenso) wurde seit jeher vorgeworfen, das Geschriebene zu persönlich zu nehmen, die notwendig distanzierte künstlerische Haltung nicht einnehmen zu können. Mit ihrem Roman schreibt Chris Kraus gegen jegliche aus diesen Vorwürfen resultierende Selbstzügelung an. Ihr Roman ist ebenso persönlich, wie er radikal emotional ist.
Inhaltlich erzählt er von Chris Kraus und ihrem Mann Sylvère Lothringer, für die ein einziges Essen mit Dick, einem Kollegen von Sylvère, zum Ausgangspunkt für eine ebenso spielerische wie aussichtslose und radikale Liebesbesessenheit wird. Dick wird zum Adressaten zahlloser Briefe, die zunächst von dem Paar gemeinsam verfasst werden. Das Briefprojekt füllt bald das gesamte gemeinsame Leben der beiden aus, wird zum Dreh- und Angelpunkt ihre Beziehung zueinander und zur Welt. Dick selbst wird damit als Angesprochener überall präsent, wenn er auch als Person kaum auftaucht. Immer geht es in den Briefen auch darum, einen behaupteten Abstand zwischen künstlerischem Schaffen und Privatheit nicht gelten zu lassen. Chris Kraus kämpft dabei konsequent dagegen an, die Liebe zu Dick, die sie als Kunstwerk betrachtet, deswegen als nicht aufrichtig, als imaginiert bezeichnen zu lassen. Es gibt keine Grenze zwischen der schreibenden, der liebenden und der Autorin Chris Kraus. Notwendigerweise wird so auch Schizophrenie zu einem der großen Themen des Romans. Man könnte ihn als Versuchsanordnung, als Experiment absoluter Distanzlosigkeit bezeichnen, stünde man damit nicht in der Gefahr, gerade die tatsächliche Faktizität der Emotion wieder zu negieren und den Selbstschutz des rein Fiktiven wieder zu errichten. Dieser Roman ist auf allen Ebenen, stilistisch wie inhaltlich, ein Wagnis und unbedingt lesenswert.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung – Manja Präkels „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“

Verbrecher Verlag 20€

Was geschieht, wenn man nach langer Abwesenheit an den Ort seiner Kindheit und Jugend zurückkehrt? Und wenn dieser Ort nicht Unbeschwertheit oder Geborgenheit vermittelt, sondern Angst? Wenn man nach Jahren des Exils zurückkommt und Hitler einem mit einem Mal wieder als der alte Schulfreund erscheint, der er einmal war?

Früher sind Oliver und Mimi oft zusammen angeln gegangen. Obwohl sie wenig miteinander gesprochen haben, bestand doch eine Freundschaft zwischen ihnen. Dann kam die Wende, und aus Oliver wurde Hitler, Anführer einer von zahlreichen Neonazigruppen, die zu dieser Zeit die Kontrolle über das soziale Leben übernahmen, wie Mimi ihre Erinnerungen beschreibt. In ihrer Rückschau auf die Ereignisse, wird der Protagonistin klar, dass diese frühe Freundschaft zu Hitler/Oliver ihr das Leben gerettet haben könnte. Denn mit dem Erstarken der Neonazis wurden sie und ihre Freunde, die „Zecken“, zu Gejagten. Denn der Einfluss der Rechten auf die Gesellschaft scheint übermächtig und allgegenwärtig und wird doch, auch damals schon, totgeschwiegen. Nazis stürmen Diskotheken und Kneipen, die “Zecken” werden verfolgt und verprügelt. Ein Freund überlebt einen dieser Überfälle nicht. Die Täter werden freigesprochen, die Angst wächst, die Übergriffe werden häufiger. Von ihrer Familie wird Mimi Verfolgungswahn vorgeworfen, alles Einbildung, Übertreibung. Es folgt die Flucht nach Berlin, doch der Neuanfang, den die Großstadt verspricht, bleibt aus.

Manja Präkels, die sich mit neonazistischen Gruppierungen und Strömungen auch in ihrer journalistischen Tätigkeit beschäftigt und hier auch ein Stück weit ihre eigene Biografie verarbeitet, schreibt mit einer ungeheuren Sachkenntnis. Dabei gelingt es ihr wie wenigen ihrer journalistischen KollegInnen, sich auf die literarische Form des Romans einzulassen. Durch ihren direkten Erzählstil überträgt sich die beklemmende Stimmung auf die Leserin und sorgt dafür, dass das Buch einen lange beschäftigt.

In Deutschland, in den neuen Bundesländern wie in den alten, wurde und wird rechte Gewalt systematisch geleugnet oder kleingeredet. Mit ihrem Roman wie mit ihrer journalistischen Arbeit leistet Manja Präkels einen wichtigen Beitrag zur Debatte.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co. Frankfurt

Buchempfehlung – Christophe Boltanski „Das Versteck“

Hanser Verlag 23€

Ein Haus in der Pariser Rue de Grenelle, beste Wohnlage in großbürgerlichem Ambiente, bewohnt von der Familie Boltanski, deren Bekanntheitsgrad in Frankreich ungefähr der Bekanntheit der Familie Mann in Deutschland entspricht: Großvater Etienne ist Arzt, Großmutter Marie-Élise schreibt unter dem Pseudonym Annie Lauran erfolgreiche Romane, die Söhne machen Karriere: Jean-Élie als Linguist, Luc als Soziologe und Christian als Installationskünstler und Filmemacher, (Adoptiv-) Tochter Anne als Fotografin. Enkel Christophe schließlich, der diese Familiengeschichte vorlegt, ist Journalist. Wer jetzt aber erwartet, dass hier mal wieder ein Nachgeborener die Familiengeschichte zelebriert, sei es als Lobgesang, sei es als Skandalchronik, der liegt völlig falsch. Denn Das Versteck erzählt weit mehr als die Geschichte einer vor Exzentrik und Widersprüchen nur so strotzenden Familie, nämlich eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, die nicht weniger exzentrisch und widersprüchlich ist.

Im Mittelpunkt steht das Haus in der Rue de Grenelle, dessen Mittelpunkt wiederum Großmutter Mairie-Élise bildet. Sie ist es, die ihre Familie zusammenhält, und das im Wortsinne: In dieser Familie, so der Eindruck, ist praktisch niemand auch nur eine Minute allein. Die schützende Hülle des Hauses wird nur in der kleineren, aber ebenso geschlossenen Hülle des Autos verlassen –einem Fiat 500, auch „Joghurtbecher“ genannt – , den die durch eine Polio-Erkrankung stark gehbehinderte Großmutter mit Hilfe von an den Pedalen angebrachten Stäben steuert und in den neben den Großeltern Sohn Jean-Élie, Tochter Anne und Enkel Christophe gepfercht werden. Geparkt wird stets so, dass der Zwischenraum zwischen der Wagentür und dem Eingang des jeweiligen Zielorts möglich klein ist. Das Haus und seine Verlängerung, das Auto, bilden in der Erinnerung des Erzählers ein Raumschiff, das man nur selten verlässt, um sich nicht allzu lange als Alien zu fühlen.

Das Zentrum des Hauses wiederum bildet das Schlafzimmer, in dem die gesamte Familie schläft, die Großeltern im Bett, Söhne und Enkel in Schlafsäcken auf dem Fußboden, während im Fernsehen alte Western ohne Ton ein flackerndes Licht verbreiten. Im Widerspruch zu dieser beklemmend wirkenden Enge, die mehr an ein Gefängnis als ein Heim erinnert, steht die geistige Freiheit in diesem Haus, die der Autor, der mit dreizehn Jahren auf eigenen Wunsch hin zu den Großeltern zieht, so beschreibt: „Ich bin nie so frei und glücklich gewesen wie hier. Dieser unglaubliche Lebenshunger, die Momente der Trunkenheit, ja der Euphorie. Die Möglichkeit, fast alles zu sagen. Das Licht trotz der Finsternis.“

Aber das ist nur einer der Widersprüche, die sich durch das Buch ziehen. So hält zum Beispiel der Großvater, immerhin Facharzt für Hygiene, Waschen für ungesund, die Großmutter, die von ihrer Adoptivmutter ein großes Anwesen in der Bretagne geerbt hat, samt Schloss und riesigen Ländereien, verteilt Sonntags im Viertel das Wochenblättchen der Kommunisten; man führt ein gastfreies Haus, in dem jeder willkommen ist, aber so gut wie nichts zu essen und zu trinken angeboten wird, weil eben niemand einkauft. Und trotz der „Möglichkeit, fast alles zu sagen“, stellt der Enkel nach dem Tod der Großeltern fest, dass er nur wenig über deren Herkunft und Schicksal weiß.

Die Spuren ihrer Geschichte findet er im Haus, dessen Grundriss der Roman auch formal folgt. Die Kapitel tragen Titel wie „Küche“, „Arbeitszimmer“, „Salon“. Man folgt ihm durch die Räume, die die Geschichte der jüdischen Emigration aus Osteuropa, der beiden Weltkriege, des Holocausts und des Algerienkrieges in sich bergen, und erreicht schließlich das titelgebende „Versteck“, in dem der – jüdische – Großvater die Verfolgung überlebt hat. Und man lacht, weint, erschrickt und freut sich an all den wunderbar komischen, tragischen, absurden Geschichten, die in jedem Zimmer stecken. Es wundert nicht, dass das Buch den Prix Femina erhalten hat und in Frankreich zum Bestseller geworden ist. Man kann diese großartige Entdeckungsreise durch das Haus in der Rue de Grenelle nur wärmstens empfehlen.

Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main

 

Adventslesung für Kinder

Samstag, 5.12. um 16 Uhr

Wir laden Sie herzlich ein zu unserer

Adventslesung für Kinder zwischen 4 & 8 Jahren

Weißt Du noch, wie es letztes Jahr war? „Wir lagen auf Deinem Bett und starrten an die Decke und warteten auf das Christkind … Es war still geworden draußen und in unserem Haus … und überall roch es, wie es sonst nie riecht: Tanne, Kerzen, Plätzchen …“

Noch ist es nicht soweit, aber es ist schon fast der zweite Advent. Dringend Zeit, sich gemütlich in unserer Buchhandlung zur diesjährigen Adventslesung für Kinder zu treffen. Es gibt so viele Geschichten zu erzählen: Vom Rentier Rudolf, der den Schlitten vom Weihnachtsmann zieht, vom Schnee, der sich so leise auf Bäume und Autos legt, und von Zwiebelchen. Wer ist Zwiebelchen? Das verraten wir am kommenden Samstag (5. Dezember) um 16 Uhr.

Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie mit Ihren Kindern, Enkelkindern oder auch anderen Kindern zu uns kommen. Vielleicht finden Sie parallel zur Lesung sogar schon die ersten Weihnachstgschenke bei uns.

Lesung mit Tönen

Léonce W. Lupette. Tablettenzoo. Gedichte

Mit Klängen von Fabian Eck

Dienstag, 22. Oktober 2013, 20:00 Uhr

Eintritt: frei

Luxbooks, 19.80 €

 

Tablettenzoo – Wie sprechen die Pillentiere, die Tierpillen, die in diesem Buch wohnen, wenn sie freigelassen werden? In welchem Zustand befinden sie sich, welche Wirkung haben sie auf Leser und Hörer? Manche sind gefährlich, aggressiv, kratzen an Häuten und Schichten; andere wiederum beruhigen, sind sanft und bedroht. Blicke aus Käfigen in andere Käfige hinein. Léonce W. Lupette stellt seinen Gedichtband vor – elektronisch unterstützt, provoziert, gezähmt und bedroht durch Fabian Eck. Ein Zoobesuch zwischen Vertierung und Medikation, bei dem Algorithmen und Daten irrational werden können, und Rausch und Delirium vernünftig.

Léonce W. Lupette lebt als Schriftsteller, Herausgeber, freier Übersetzer und Literaturwissenschaftler zwischen Buenos Aires und Frankfurt am Main. Studium der Komparatistik, Lateinamerikanistik und Philosophie. Mitherausgeber der Literaturzeitschriften karawa.net und Alba – Lateinamerika lesen.

Fabian Eck, geboren 1985, lebt in Frankfurt a.M. Arbeitet mit pure data, midi-controllern und intuitiver Tonsteuerung, unter anderem mit reutundE. sowie für das Perfomancekollektiv Arty Chock. Zeigte Arbeiten bei Artists‘ Television Acess in San Francisco, beim Festival Shiny Toys und an der Gessnerallee Zürich.