Buchempfehlung – Jane Gardam „Ein untadeliger Mann“

gardam
Hanser Berlin, 22.90 €

Der Jurist Edward Feathers ist ein untadeliger Mann, der sein Leben der Jurisprudenz und dem britischen Empire verschrieben hat. Der langjährige Richter in Hongkong, geboren in Malaysia, erzogen in England, jetzt, mit über achtzig Jahren, wieder in England lebend, ist der englische Gentleman par excellence: stets perfekt gekleidet, von vollendeten Manieren und ein Meister im Verbergen jeglicher Gefühlsregung. Erst nach dem unerwarteten Tod seiner Frau Betty bekommt das so perfekte Gebäude seines Lebens plötzlich erste Risse, durch die allmählich Erinnerungen einsickern, die er jahrzehntelang verdrängt hat.

Denn Edward Feathers zählte zu den „Raj-Kindern“, Kindern von englischen Beamten, die in den Kolonien geboren und schon in sehr jungen Jahren nach England gebracht wurden, da nach allgemeiner Meinung das Leben in den Kolonien für Kleinkinder zu gefährlich war. Man fürchtete Tropenkrankheiten genauso wie die Verwilderung der Sitten unter dem Einfluss der „Eingeborenen“. In vielen Fällen landeten diese Kinder dann bei Verwandten oder in Pflegefamilien, hatten jahre- oder jahrzehntelang keinerlei Kontakt zu ihren Eltern und wuchsen ungeliebt und oft genug vernachlässigt auf. Und so sind die Erinnerungen, denen sich Edward jetzt stellen muss, vor allem geprägt von Verlusten – dem Verlust seines geliebten malaysischen Kindermädchens, später seines besten Freundes im Krieg bis schließlich zum Verlust seiner Frau –, aber auch von einer Unfähigkeit zu lieben, die nicht nur ihn erschreckt. Stück für Stück wird so die Geschichte eines Menschen entfaltet, aber auch einer Gesellschaftsschicht, die mit den eigenen Kindern nicht weniger brutal umgeht als mit den Einwohnern der Kolonien, über die sie herrscht – und das weniger aus Bösartigkeit als aus emotionaler Unfähigkeit, sind doch die Eltern unter denselben Umständen aufgewachsen und haben dieselbe Lieblosigkeit erfahren, die jetzt ihre Kinder trifft.

Jane Gardam erzählt diese Geschichte lakonisch, ohne jede Sentimentalität, aber dafür mit oft scharfer Ironie. Die mittlerweile selbst 87jährige Autorin versteht es nicht nur meisterhaft, die Zwischenkriegszeit in England und das Leben der gehobenen Schichten lebendig zu machen, sie versetzt ihren fast gleichaltrigen Protagonisten, an dem in seinem behüteten, abgeschiedenen Leben auf dem Land alle Veränderungen vorbeigegangen sind, mit viel Witz auch in Situationen, in denen er schockartig mit diesen Veränderungen konfrontiert wird. Es ist gut, dass endlich ein Roman der in England sehr bekannten und mit vielen Preisen ausgezeichneten Autorin ins Deutsche übersetzt wurde, und man kann nur auf weitere Übersetzungen hoffen, denn es kommt nicht oft vor, dass ein Buch, das emotional so tief berührt und aus dem man so viel Neues lernt, gleichzeitig auch noch so viel Vergnügen macht.

Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main