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Veranstaltung

Schäfchen im Trockenen – Autorin Anke Stelling im Gespräch

Mittwoch, 5.Juni 2019, 20 Uhr

Verbrecher Verlag, 22 €

Freunde halten zusammen. Auf sie kann man sich verlassen. Bis Resi den Bogen überspannt. Freunde sagen einander immer die Wahrheit. Aber wie viel Wahrheit verträgt eine Freundschaft? Und beim Geld hört ja die Freundschaft bekanntlich ohnehin auf.

Als die Schriftstellerin Resi ein Buch über ihren Freundeskreis, gemäßigt links und gut situiert, veröffentlicht, wirft einer dieser Freunde sie und ihre fünfköpfige Familie kurzerhand aus ihrer Wohnung.  Daraufhin findet sich Resi zwischen materialistischen Sachzwängen und der Macht und Ohnmacht des Erzählens wieder.

Anke Stelling wurde für Schäfchen im Trockenen mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Zum Thema Schreibprozess sagt sie selbst: „Wenn ich versuche, von mir abzusehen, bleibt auch für andere nichts übrig“. Mit Blick auf ihren aktuellen Roman, möchten wir mit der Autorin über das Verhältnis von Subjektivität, Ökonomie und Schreiben sprechen.

Anke Stelling, 1971 in Ulm geboren, absolvierte ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie stand mit ihrem im Verbrecher Verlag erschienenen Roman Bodentiefe Fenster (2015) auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2015. 2017 erschien ihr Roman Fürsorge im Verbrecher Verlag. Ihr neuster Roman Schäfchen im Trockenen (2018) wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2019 ausgezeichnet. Im Juni 2019 erhält sie den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg.

Buchempfehlung

Zeichnen für ein Europa

Bilder von 45 Illustratorinnen und Illustratoren. Aus dem Englischen von Fabienne Pfeiffer

Beltz & Gelberg, 12,95 €
978-3-407-81247-6

Dieses Buch gehört zu jenen Büchern, bei denen wir Buchhändler*innen mal wieder nicht so genau wissen, wohin wir es eigentlich stellen sollen. Gehört es in unsere Kinder- und Jugendbuch-Ecke, weil es bunt ist und uns naturgemäß viele der Figuren bekannt vorkommen – immerhin illustrieren die Mitwirkenden sonst vorwiegend Kinderbücher? Oder sind die in ihm enthaltenen Zeichnungen von 45 Illustrator*innen nicht viel zu hintersinnig, ironisch, anspielungsreich, um für Kinder geeignet zu sein? Gehört es gar ins Politik-Regal, weil Europa und seine Zukunft vermeintlich auf dem politischen Parkett zwischen Parteien und Wahlprogrammen ausgehandelt wird?

Die ursprüngliche Idee zu diesen 2017 entstandenen, bebilderten Reflexionen über Europa stammt von Markus Weber, dem Leiter des Frankfurter Moritz Verlags. Er bat die Illustrator*innen der in seinem Haus erscheinenden Kinderbücher, ihre Gedanken zu Europa aufs Papier zu bringen. Die damals entstandenen Bilder aus fünf europäischen Ländern wurden auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert, dann im Berliner Bundesministerium für Arbeit und Soziales ausgestellt und später versteigert. Doch die Idee ging auf Wanderschaft, und viele weitere Illustrator*innen, insbesondere auch aus Großbritannien, nahmen Papier und Stift zur Hand, um ihrem Glauben an Europa oder ihrer Kritik am Brexit bildreich Ausdruck zu verleihen.

Ob in Form einer mit 12 gelben Sternen jonglierenden Kuh von Kristina Andres („Genau wie beim Jonglieren muss Europa viel üben, damit es klappt“) oder als zirkusreif balancierende, Fahnen schwenkende Tiere auf einem schwarzen Stier von Thé Tjong-Khing („Die Europäische Union als schwieriger Balanceakt“), fast überall ist unübersehbar, dass Europa mehr ist als eine heterogene Gruppe von Ländern. Auffällig oft stellen die Illustrator*innen die Länder Europas als spielende Kinder dar. Und vielleicht ist das die hoffnungsvollste Deutung der aktuellen Europäischen Union: Kinder, die spielerisch und kreativ lernen, miteinander auszukommen, Kompromisse zugunsten der Gruppe einzugehen und ihre Unterschiede als Stärken zu erkennen. Der deutsche Illustrator Andreas Német stellt den Leser*innen gar eine Europakarte zur Verfügung, die nur aus Länderkürzeln besteht und auf den ersten Blick an „Malen nach Zahlen“ erinnert. Német fordert auf, die persönlichen Verbindungen zu und zwischen den einzelnen Ländern selbst einzuzeichnen. Hier wird vielleicht besonders klar, dass jeder von uns mitbestimmt, was Europa heute und in Zukunft für uns ist oder werden kann.

In witziger, aussagekräftiger und oft subtil nachdenklicher Form regt dieses Büchlein – vielleicht gerade jetzt, kurz vor der Europa-Wahl am 26. Mai – zum Nachdenken und Sprechen über Europa an. 45 europäische Ideen sind hier, ganz wie Europa selbst, in Vielfalt vereint!

Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung

Fragen an Europa von Gesine Grotrian

Was lieben wir? Was fürchten wir? Illustriert von Susan Schädlich. Ab 12 Jahre

Beltz & Gelberg, 16,95 €
978-3-407-81245-2

Europa! Alle sprechen immer darüber, doch was ist das eigentlich? Was versuchen wir da eigentlich immer vor Populismus und Nationalismus zu schützen? Natürlich ist Europa der Kontinent, auf dem wir leben, keine Frage, doch ist Europa nicht noch viel mehr? Steht dieser Kontinent, dieser Zusammenschluss der Länder, nicht auch für Frieden, Gleichheit und Menschenrechte? Und was wissen wir eigentlich über die EU? Klar, irgendwie bestimmt die EU unseren Alltag, doch die meisten Menschen wissen nicht wie. All diese Fragen und noch einige mehr werden in dem Buch Fragen an Europa geklärt. Man wird mit einigen Grundinformationen, die auch schon sehr interessant sind, in das Buch eingeführt. Weißt du zum Beispiel, wie viele Menschen in Europa leben und wie viele Sprachen in Europa gesprochen werden? Und ist dir eigentlich klar, dass es nicht nur eine, sondern viele verschiedene Definitionen von Europa gibt?

Das Buch kommt mit 60 Fragen an und über Europa daher. Einige sind eher allgemein gehalten, zum Besipiel was eigentlich Populismus oder Pluralismus sind, andere sind sehr spezifisch auf Europa bezogen, wie zum Beispiel, welche besonderen Zugstrecken durch Europa verlaufen. Alles wird mit Hilfe sehr einfacher und doch aufschlussreicher Schaubilder illustriert, die sehr nett gestaltet sind, wie bei Frage 32: „Wer hatte die Idee für die EU? Meilensteine in Bildern“. Die Absicht des Buches ist es, junge Menschen zum Nachdenken über Europa anzuregen, und laut den Autoren hat man das Buch nur dann wirklich verstanden, wenn man mit mehr Fragen aus dem Leseerlebnis herausgeht als man vorher hatte. Ihr Wunsch ist es natürlich, dass Menschen durch dieses Buch Europa lieben lernen, wie sie es tun, da es offensichtlich viele Menschen gibt, die vergessen haben, was wir an Europa eigentlich haben.

Mir hat das Buch sehr gut gefallen, da es ein für mich sehr interessantes Thema vorstellt. Außerdem gehen die Autorinnen auf einen der wichtigsten Punkte ein, die für ein funktionierendes Europa eigentlich nötig und die Gegenbewegung zum Rechtsruck in Europa wäre: Pluralismus! Er ist wahrscheinlich eine der wenigen Chancen, die wir noch gegen den Gedanken des Nationalstaates haben. Also lasst uns diese ergreifen, um dem fortschreitendem Populismus die Stirn zu bieten. Anfangen sollten wir damit, uns gut über Europa und die EU zu informieren und Möglichkeiten zur positiven Veränderung zu entwerfen. Genau dafür ist dieses Buch perfekt.

Vicco Siebicke, 15 Jahre

Veranstaltung

Pro-europäischer Aktivismus Chancen und Grenzen

Diskussionsabend mit Sandra Seubert und Claus Leggewie

Montag 6. Mai 2019, 20.00 Uhr

In Bezug auf Europa wird nicht mehr nur von anti-europäischen Kräften mobilisiert. Im Gegenteil: pro-europäische Bewegungen erinnern inzwischen über nationale Grenzen hinweg an das Versprechen, das mit der Einführung eines Europäischen Bürgerschafts-Status im Maastrichter Vertrag von 1992 verbunden war: das Europäische Projekt ist nicht allein Sache der Staaten, sondern der BürgerInnen Europas selbst. Im Vorfeld der Europawahl wollen wir an diesem Diskussionsabend Chancen und Grenzen eines pro-europäischen Aktivismus und Forderungen nach einer demokratischen „Neugründung“ erörtern.

Sandra Seubert, Prof. Dr., ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie an der Goethe-Universität sowie Goethe-Fellow am Forschungskolleg Humanwissenschaften, wo sie zu Perspektiven Europäischer Bürgerschaft arbeitet.

Claus Leggewie, Prof. Dr., ist Politikwissenschaftler, war u.a. von 2007 bis 2017 Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, ist Inhaber der Ludwig-Börne-Professur an der Uni Gießen und Mitherausgeber der »Blätter für deutsche und internationale Politik«.



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Sergej Lebedew – Kronos Kinder

Aus dem Russischen von Franziska Zwerg

S. Fischer Verlag, 24 €
978-3-10-397373-0

Kronos‘ Kinder ist die Geschichte der Recherche des Historikers Kirill zu seinen deutschen Vorfahren, von denen der erste 1830 aus Leipzig ins Russische Kaiserreich gekommen ist. Leitmotiv ist die Erinnerung Kirills an einen Vorfall, den er in seiner Kindheit beobachtet hat. In dem russischen Dorf, in dem seine Großmutter lebt, beobachtet das Kind, wie ein invalider Veteran des Zweiten Weltkriegs, nachdem er sich am Jahrestag seiner Verwundung betrunken hat, eine Schar Gänse niederschießt und sie dabei als deutsche Feinde wahrnimmt. Für Kirill spricht diese Szene für das besondere Verhältnis zwischen Russen und Deutschen, das er dann auch in der Geschichte seiner deutschen Vorfahren immer wieder zu erkennen glaubt.

Erzählt wird die von Lebedews eigener Familiengeschichte inspirierte Geschichte aus Kirills Perspektive in der dritten Person. Er fährt zu den historischen Schauplätzen seiner Familiengeschichte, nach Leipzig, Halle, Münster und Zarizyn/Stalingrad/Wolgograd und denkt sich hinein in seine Vorfahren, deren Perspektive dann ab und zu durch die seine hindurchscheint. Es bleibt aber deutlich, dass es stets Kirills Imaginationen sind, die hier sprechen, sodass die Perspektivenvielfalt eine scheinbare bleibt.

Es ist Kirills Großmutter Lina, die den Ausschlag für seine Recherche gibt, als sie ihm sagt, dass sie als Karolina Schwerdt geboren wurde und ihre Vorfahren Deutsche gewesen seien. Sie nimmt Kirill früh mit auf den sogenannten „Deutschen Friedhof“ in Moskau und öffnet ihm dadurch einen in der Sowjetunion unerwarteten Blick auf die fremde Welt seiner Vorfahren. Im Zuge seiner Recherchen stößt Kirill auf die Geschichte von Balthasar, einem Homöopathen, der 1830 nach Russland ging. Kirill folgt der männlichen Linie der Schwerdts, Ärzte und Ingenieure, bis zu der Geschichte seiner Großmutter. Dabei interessiert ihn stets, welche Rolle das Deutschtum für seine Vorfahren und ihre Schicksale gespielt hat. Hätte seine Großtante die Blockade von Leningrad überlebt, wenn sie keine Deutsche gewesen wäre? Hätte seine Großmutter auch den zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit überlebt, wenn sie nicht die Möglichkeit gehabt hätte, durch ihre Heirat mit einem Russen den deutschen Namen abzulegen?

Kirill, dem der Leser bei der Rekonstruktion seiner Familiengeschichte folgt, stellt Spekulationen über die Ansichten und Beweggründe seiner Vorfahren an, ist ständig bemüht, aus den Ereignissen auf sein eigenes Leben zu schließen, und versucht, transhistorische Konstanten auszumachen, die er „Algorithmen“, „Lebensmuster“ oder „Reime des Schicksals“ nennt und die ihn nicht selten zu pauschalen Urteilen verleiten. Seine Schlussfolgerungen zu den Beweggründen historischer Figuren scheinen aber nicht nur die Darstellung zu beeinflussen, sondern auch die Ereignisse in der Vergangenheit selbst. Wie ein Gott greift er ein, zieht Vergleiche, setzt Verhältnisse und ordnet damit alles neu. Seine Rolle ist ihm dabei bewusst wenn es heißt, „er war derjenige, der alles sah“ (245).

Vor dem Hintergrund der großartigen, bereits ins Deutsche übersetzten Romane Lebedews, Der Himmel auf ihren Schultern (2013) und Menschen im August (2015), ist dieses Buch deshalb zunächst ärgerlich: Es ist ermüdend, den Spekulationen Kirills über die Beweggründe seiner Vorfahren zu folgen, die ihn dann wie von Zauberhand auf die richtige Spur lenken. Die Methode des Erzählers, intuitiv historische Zusammenhänge zu erkennen, wird hier nicht nur exzessiv und mit scheinbar selbstverständlichen Erfolgen verfolgt, sie wird auch explizit benannt. Mit fortschreitender Lektüre aber wird deutlich, dass dieses Thematisieren und Ausreizen nicht einfach Kitsch ist, sondern vielmehr neue Bereiche poetischer Opazität öffnet. Denn dieser Roman hat ein ganz anderes Thema als die vorhergehenden, in denen es um die Vergangenheit bzw. das Fortleben der Vergangenheit in der Gegenwart ging. Hier geht es um Kirill, seine Recherche und darüber, wie eine Erzählung entsteht. Die Rekonstruktion der Vergangenheit und das Verfassen des Buchs darüber wird für Kirill zu einem einzigen Vorgang: Das Nachdenken über den möglichen Fortgang der Erzählung fällt in eins mit dem Auffinden neuer Verbindungsstücke in der Geschichte seiner Vorfahren. Kronos‘ Kinder ist damit ein unfertig wirkender Metaroman mit all der Sperrigkeit und Unabgeschlossenheit, die diesem Genre eignen kann.

Was diesen Metaroman trotz dieser Sperrigkeit zu einem Genuss macht, sind die so wundervollen Beschreibungen, für die Lebedew bekannt ist. Dazu gehören zum Beispiel Kirills feinsinnige Beobachtungen bei der Lektüre des mehrsprachigen Tagebuchs seines Großvaters und die atmosphärische Beschreibung eines Sommergewitters im Dorf der Großmutter ganz zu Anfang des Romans. Diese Szenen, in denen der Lesende das Gefühl absoluter Unmittelbarkeit bekommt, ergänzen die methodischen Reflexionen des Protagonisten erstaunlich gut.

Alena Heinritz, Graz

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Philipp Blom – Eine italienische Reise

Auf den Spuren des Auswanderers, der vor 300 Jahren meine Geige baute

Hanser Verlag 26 €

Philipp Blom ist seit seiner Jugend passionierter Geigenspieler. Ursprünglich hatte er selbst professioneller Musiker werden wollen, musste aber einsehen, dass seine Disziplin und Leidenschaft für diesen Weg nicht ausreichen würden, und diesen Plan aufgeben. Er wurde Historiker und Schriftsteller. Die Liebe zum Geigenspiel aber blieb.

Eine italienische Reise beginnt mit einem Besuch des Autors in der Werkstatt des renommierten Geigenbauers und -händlers MR, wo ihm ein Instrument durch seine besondere Gestaltung auffällt. Eine sorgfältig restaurierte Geige, die aber nach einem „Stimmriss“ trotz der Reparatur ihre Stimme verloren zu haben schien. Sie sei um 1800 gebaut worden, sagte der Händler, wahrscheinlich in Oberitalien, aber mit deutlichem Allgäuer Einfluss. Mehr hätte er aber auch nach längeren Recherchen nicht herausfinden können.

Blom, der (was der Leser erst später erfährt) eine harte Zeit voller Schicksalsschläge hinter sich hat, die im Verlust seiner alten Geige gipfelte und ihn völlig blockierte, nimmt die Geige mit nach Hause. Nach Tagen intensiven Spiels erlebt er, wie das Instrument langsam erwacht und seine Stimme wiederfindet – und er zurück zum Geigenspiel. Und noch etwas anderes geschieht: „Jedes mal, wenn ich meine Geige zur Hand nahm (…), fühlte ich, dass ich jemandem begegnete (…). Die Hände des Spielers und des Erbauers trafen sich auf diesem kleinen Instrument …“ Das Interesse des Geigenspielers und Historikers ist geweckt.

Dann folgt Philipp Bloms jahrelange Suche nach dem Ursprung des Instruments, die ihn zu unterschiedlichen Experten führt – in Süddeutschland und Holland, Oberitalien, Wien und London. Er forscht in Archiven, durchforstet Bücher und spezialisierte Datenbanken, umkreist sein Forschungsobjekt, ohne eine eindeutige Spur zu finden.

Als er auf dem Weg der reinen Fakten nicht mehr weiterkommt, konstruiert er den idealtypischen Weg eines Jungen aus dem Allgäu, der im Alter von zwölf Jahren von seiner armen Familie über die Alpen nach Venedig, geschickt wird, um dort in einer der vielen Werkstätten deutscher Instrumentenbauer das Handwerk zu lernen und zu arbeiten. In alten Akten hat er einen Hanns Kurz gefunden, aus dem in Italien Giovanni, im venezianischen Dialekt Zuanne Curci geworden ist. Von einem wie ihm könnte die Geige stammen.

Geschickt verknüpft der Autor unterschiedliche Themenfelder: Die Geschichte des Geigenbaus, des Musiklebens in Venedig um 1800, die Wertsteigerung eines alten Instruments durch die exakte Herkunftsbestimmung (was wenig über den Klang aussagen muss). Er erzählt von Komponisten und Virtuosen, von Meistern, Schwindlern und Scharlatanen im Geigenbaugewerbe. Eine italienische Reise ist ein Buch voller Wissen; lebendig, spannend und warmherzig erzählt, so reich, dass man ihm in einer kurzen Empfehlung nicht gerecht werden kann. In einem fiktiven Dialog gegen Ende des Buches schreibt Blom: „Ich habe Geschichte gesucht und Geschichten gefunden …“ und die zu erzählen ist ihm – zur Freude der Leser – auf hinreißende Weise gelungen.

Ruth Roebke, Bochum

Frohe Feste wünschen wir!

Keine Eiszapfen, Schneemänner, verschneiten Wälder – die Wettergötter haben ein Problem mit der weißen Pracht. Aber was macht das schon! Bücher sind der beste Ersatz für äußere Missstände und der Rutsch ins neue Jahr ist ohne Eis auch viel sicherer.

 

 

Wir wünschen Ihnen in diesem Sinne besinnliche und schöne Weihnachtsfeiertage und einen phantastischen Start ins neue Jahr!

PS: „Zwischen den Jahren“ sind wir ganz regulär für Sie da und an Silvester von 9.00 bis 13.00 Uhr.

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Albertine Sarrazin – Der Ausbruch

Deutsch von Claudia Steinitz

INK Press, 26 €
978-3-906811-08-6

Als Albertine Sarrazin mit 29 Jahren starb, hatte sie einen Großteil ihres Lebens hinter Gittern verbracht. Ihre Romane hatten für ein Aufsehen gesorgt, das sie in ganz Frankreich und über seine Grenzen hinaus bekannt machte. Die Neuübersetzung von Der Ausbruch durch Claudia Steinitz ist dazu angetan dieses großartige Buch erneut ins Gespräch zu bringen.

Anick Damien, die Protagonistin des Romans, sitzt (nicht zum ersten Mal) wegen Juwelendiebstahls und Hehlerei hinter Gittern. Der Ausbruch stellt ihre Aufzeichnungen während eines Teils dieser Haftzeit dar. Sie erzählen von den Verhältnissen, Freund- und Feindschaften im Gefängnis und vor Gericht. Die Arbeit an diesem Roman wie an all ihren anderen hat Albertine Sarrazin selbst im Gefängnis begonnen. Ob man darin den Grund für seine Tiefe und brutale Ehrlichkeit sehen will, bleibt den LeserInnen selbst überlassen.

Anick schreibt nicht zum Zeitvertreib, nicht um die Haftzeit zu verkürzen oder sie für sich nutzbar zu machen. Ihr Schreiben ist an sich schon ein Ausbruch, ein Widerstand. Doch ist es kein eskapistischer Akt: Ihre ausufernden Sprachbilder täuschen nicht über die Trostlosigkeit und die Brutalität des Knastes hinweg, sondern arbeiten sich an ihr ab, sind vielleicht der Versuch, die Gefängnismauern aufzulösen. So wie ihre Ausbruchspläne sich ausschließlich auf die Dicke der Gitterstäbe, die Höhe der Wände und die Scherben auf der Außenmauer konzentrieren, so konzentriert sich auch das Schreiben im Gefängnis auf nichts als das Eingeschlossensein, das Limitierte, auf den Alltag im Knast. Woraus kann ich mir eine Pinzette formen, und wo verwahre ich sie so, dass sie nicht entdeckt und konfisziert wird? Wie kann ich mich gegen meine Mitgefangenen in dem nervenzerreißenden Spiel zwischen Unterwürfigkeit und Selbstbehauptung durchsetzen?

Anicks Schreiben und ihre immer wieder neuen Pläne, dem Gefängnis zu entkommen, sind zwei der drei großen Freiräume im Dasein der Gefangenen. Der dritte ist die Liebe, denn Der Ausbruch ist auch ein Liebesroman. So unbeschränkt und radikal wie der Wille der Protagonistin ist ihre Liebe zu ihrem Freund Zizi. Und immer wieder scheint auch das Bedürfnis nach Nähe und engster Freundschaft zwischen ihr und ihren Mitgefangenen auf.

Der alles bestimmende Ausbruch meint zugleich das Entkommen aus den Mauern des Gefängnisses und den Ausbruch des Vulkans, der zum Bruch mit den Verhältnissen führt, verweist auf die Einbrüche, die Anick und Zizi in den Knast gebracht haben, und auf die schmerzenden Knochenbrüche, die Anick jeden Tag an ihre Flucht vom Tatort erinnern. Hier muss auf die hervorragende übersetezerische Leistung von Claudia Steinitz hingewiesen werden, denn Sarrazins Sprache ist durchdrungen von feingesponnen Bildern und Metaphern, die nicht selten und nicht zufällig von der Mythologie ausgehen, aber auch, durch Sprachcodes und Decknamen – Anleihe an die omnipräsente Zensur, die Kontrolle, an den heimlichen Kassiber-Austausch –, sehr verdunkelt. Das Schreiben setzt der Profanität des Gefängnisalltags eine Üppigkeit entgegen, die dennoch keinen anderen Gegenstand haben kann als eben diese Profanität, diese Kargheit, diesen Überfluss des Mangels, diese Grenzenlosigkeit des Gefängnisses.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

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Francesca Melandri – Alle, außer mir

Roman. Aus dem Italienischen von Esther Hansen

Wagenbach Verlag, 26 €
978-3-8031-3296-3

Motor der Geschichte ist der italienische Kolonialismus, genauer, Mussolinis Eroberungsfeldzug in Äthiopien, der 1935 begann und fünf Jahre währte. Sangue giusto, Richtiges Blut, heißt der Roman im Italienischen und verweist damit schon im Titel auf den faschistischen Rassenwahn und das System strikter Rassentrennung, das das Regime in Äthiopien installierte. Bis zu zehn Prozent der Bevölkerung fielen diesem Krieg zum Opfer, den Hungerlagern, Massenhinrichtungen und Senfgaseinsätzen. Von einem „vergessenen Völkermord“ spricht der Historiker Aram Mattioli – vergessen, weil ins Abseits der Erinnerungskultur Italiens geschoben, wo nie eine glaubwürdige Aufarbeitung der Vergangenheit stattgefunden hat. Die an der Bevölkerung verübten Gewalttaten der deutschen Besatzer ab 1943 überschatteten die Tätervergangenheit des Landes, es konnte sich fortan als Opfer sehen oder als antifaschistische Partisanen gegen die deutsche Besatzung. So überdauerte bis heute in weiten Teilen der Bevölkerung ein unvollständiges und allzu nachsichtiges Bild des Faschismus. Francesca Melandri destruiert dieses Bild in ihrem Roman radikal. „Italien war ein ausgenüchterter Alkoholiker, der wie jeder Verfechter der Abstinenz nichts von seinem Verhalten während des letzten schlimmen Rausches wissen will“, schreibt die römische Autorin, die als Drehbuchautorin und Dokumentarfilmerin bekannt wurde und nun ihren dritten Roman vorlegt, nach Eva schläft, einem Roman über die Zwangsitalianisierung Südtirols, und Über Meereshöhe, dessen Thema der italienische Terrorismus ist.

Die Handlung setzt ein im Jahr 2010, noch regiert Berlusconi. Ilaria Profeti, Mitte vierzig, Lehrerin und kinderlos, eine der Hauptfiguren des Romans, ist eine mehr oder weniger typische Vertreterin des linksliberalen Milieus in Italien: Desillusioniert durch die fortwährende Untergrabung der Demokratie durch die rechte Regierung, ist sie gleichwohl als Lehrerin noch immer sehr engagiert. Alle außer ihr sind korrupt, bigott und unmoralisch. Was sie nicht daran hindert, eine – verheimlichte – sexuelle Beziehung zu Piero einzugehen, einem Jugendfreund aus vermögender Familie, der in Berlusconis Partei Karriere gemacht hat und damit politisch genau das Gegenteil ihrer Überzeugungen vertritt. Ilaria glaubt, ihr Leben im Griff zu haben, ihre Familie zu kennen. Bis etwas geschieht, das sie in ihrer Grundfesten erschüttert: Eines Abends , Ilaria kommt vom römischen Alltag abgekämpft nach Hause, sitzt auf der Treppe ihrer Wohnung im sechsten Stock eines Miethauses ein abgerissener junger Mann, dem Aussehen nach ein Äthiopier, eindeutig ein Geflüchteter; wie sich herausstellt, ein regimekritischer junger Lehrer, der, um sich der Verfolgung durch das postkoloniale Regime zu entziehen, „raus musste“ und nach jahrelanger Flucht durch die Wüste und libysche Lager in Italien landete, wo sein Asylantrag binnen weniger Minuten abgelehnt wurde. Und dieser junge Mann, der nun illegal in Land lebt, erklärt Ilaria in perfektem Italienisch: „Ich heiße Shimeta Ietmgeta Attilioprofeti“. Der Beweis: sein Pass. Ietmgeta sei der Name seines verstorbenen Vaters, Attilio Profetis Sohn. Attilio Profeti, das ist Ilarias Vater. Ein Vater, den sie liebt. Der einst der heranwachsenden Ilaria beichtete, er habe noch eine zweite Familie, eine Frau, Anita, die er nach der Scheidung von Ilarias Mutter heiratet, und einen Sohn namens Attilio, nach dem Vater benannt . Die Erzählung nimmt Fahrt auf. Den hochbetagten Vater kann Ilaria nicht mehr befragen. Er ist dement. Die Suche nach der Wahrheit hinter der Behauptung des Jungen, sie sei seine Tante, führt Ilaria zurück in die italienische Provinz zur Zeit des Faschismus, zur Herkunft ihres Vaters, und weiter über Rom nach Äthiopien. Denn der Vater hatte mehr zu verbergen als eine zweite Familie: Er, der vorgegeben hatte, Partisan gewesen zu sein, entpuppt sich als überzeugter Faschist, der sich freiwillig für den Abessinien-Feldzug meldete, als Assistent eines Rassenforschers arbeitete, an Feldzügen und Massakern teilnahm und in Äthiopien einen Sohn zeugte, den er nie anerkannte. Attilio Profeti ist eine der wichtigsten Figuren der Erzählung, charmant, liebenswert, skrupellos, vielschichtig gezeichnet, glaubwürdig, so wie andere Handlungsträger auch. Flankiert werden sie von zahlreichen Nebenfiguren, die leider öfter zu Schablonen geraten sind. Die Stofffülle ist immens, doch der Autorin ist es gelungen, die Zeitsprünge, den häufigen Wechsel der Perspektiven und Schauplätzen in den einzelnen Erzählsträngen stimmig ineinander zu binden.

Zehn Jahre hat Francesca Melandri an diesem Roman gearbeitet, in Archiven geforscht und in Äthiopien Orte der Handlung aufgesucht, dort nach noch lebenden Zeitzeugen gesucht. Einprägsam sind viele Szenen, etwa der Angriff auf widerständige Äthiopier, die mit Senfgas aus ihrem Felsenversteck getrieben und getötet werden. Fast schon satirisch die Beschreibung von Gaddafis berühmten Besuch in Rom, der die Stadt in einen Ausnahmezustand versetzte. Gleichwohl seien manche stilistische Entgleisungen erwähnt, etwa wenn es heißt, “die Hochebene des Wollo und des Shoa” seien “so ausgetrocknet wie die Knie von Hundertjährigen”. Auch die Übersetzung hätte bisweilen ein sorgfältigeres Lektorat verdient. Das ist schade, keine Frage. Aber es ändert nichts daran, dass Francesca Melandri ein weiterer Roman gelungen ist, dessen Stärke darin liegt, historisch fundiert zu entwickeln, warum das heutige Italien ist, wie es ist.

Michaela Wunderle, Frankfurt am Main

Adventslesung mit Philip Waechter

Freitag, 23. November 2018

ab 17.30 Uhr: Fensterbemalung
ab 18 Uhr: Lesen und Zeichnen rund um  Toni. Und alles nur wegen Renato Flash

Fast genau einen Monat vor Heiligabend zaubert Philip Waechter Weihnachtswünsche und Fußballträume auf unsere Fensterscheiben – und Ihr dürft schauen und staunen, bevor wir im Warmen mit dem berühmten Kinderbuchillustrator zum Zeichenstift greifen: Vielleicht erfindet er eine neue Figur oder eine neue Geschichte mit Euch? Ein Weihnachtsmärchen oder einen Heldinnenroman? Auf alle Fälle aber dürft Ihr Tonis Abenteuern in Waechters neuem Buch lauschen: Toni. Und alles nur wegen Renato Flash.

für Kinder zwischen 4 und 10

Bitte bringt Stifte und Blöcke mit!