Lesung und Gespräch mit Jan Wilm und Miriam Zeh Montag, 10. Februar 2020, 20 Uhr

Winterjahrbuch

Foto © Gabriel Gordon Blackshaw

Love is hard enough without the winter – so das Motto eines Kapitels in Jan Wilms Roman Winterjahrbuch. Der mit dem Autor namensgleiche Philologe macht sich in diesem Debüt auf die Suche nach Schnee, allerdings nicht in den Alpen, nicht in Kanada, nicht im Himalaya, sondern ausgerechnet im palmengesäumten Kalifornien, in Los Angeles. Hier hat nur ein einziges Mal der Schnee-Fotograf Gabriel Gordon Blackshaw den Schnee mit seiner Kamera fixiert. Auf den Spuren dieses Fotografen forscht Wilm dank eines Stipendiums im Getty Center. So zielgerichtet sein Antragsschreiben gewesen sein muss, das Protokoll seines Daseins in Kalifornien atmet einen anderen Geist: In einer äußerst poetischen Sprache, die sich ihrer Konstruktion in jedem Satz bewusst ist, kreist der Roman um eine einsame Figur und um die Dimensionen von Liebe: der Liebe zu Menschen, zur Literatur und zur Literaturwissenschaft – sowie dem Ende aller Liebe, dem Verlust.
Zahlreiche überraschende Verweise in das Winterarchiv der Literatur finden sich hier, denen wir an diesem Abend folgen: Der Schnee fällt nicht hinauf, meinte Robert Walser und Herta Müller notiert: Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel.

Jan Wilm ist Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer u.a. der Werke von Maggie Nelson. Als Literaturwissenschaftler arbeitete er an der Goethe-Universität Frankfurt und am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, promovierte mit einer Arbeit über J.M. Coetzee, bevor er 2019 mit seinem Roman Winterjahrbuch debütierte.

Miriam Zeh arbeitet nach einem Studium der Musik, Germanistik und Philosophie seit 2018 als freie Literaturkritikerin unter anderem für den Deutschlandfunk und ZEITONLINE und promoviert über Literatur als Arbeit.

Jan Wilm, Winterjahrbuch, Schöffling Verlag 2019, 24 €

Buchempfehlung

Dietmar Dath

Neptunation

Roman, Fischer Verlag
16,99 €
978-3-596-70223-7

oder Naturgesetze, Alter!

„That was some deep shit.“

Zuerst: Der Plot ist kompakt, lässt sich gut verarbeiten, passt in jeden Schädel. Der an Space-Odysseen gewöhnte Science-Fiction-Fan ist sofort daheim, die Struktur ist bekannt. Allein die Machart, mehr, das Füllsel, das Dietmar Dath zwischen den Handlungsfäden aufhäuft, ist dazu angetan, Horizonte und Hirne zu sprengen.

Der Reihe nach: Eine geheimnisvolle, stramm kommunistische Powerfrau ist drauf und dran, ein Team für eine Weltraummission zusammenzustellen. Ausgesucht werden freilich nur die geistig Exzellenten, ein bunter Haufen freakiger Naturwissenschaftler, ein brillanter Linguist mit einer mit der Mission besonders verknoteten Familiengeschichte und ein rüstiger Haudrauf von der Bundeswehr – ohne martialisches Schlappmaul mit Erfahrung im Kampf gegen außerirdische Scherenroboter läuft schließlich kein Raumschiff vom Stapel.

Die Mission nun, zu der diese extrem amüsante und vor allem zu geistigen und intellektuellen Höhenflügen neigende Schicksalsgemeinschaft zusammengewürfelt wurde, lässt sich wie folgt beschreiben: Kurz vor dem endgültigen Zerfall des Ostblocks hat man sämtliches Restgeld zusammengekratzt, um eine letzte, bombastische Raummission zu starten. Ziel des kommunistischen Himmelfahrtskommandos war der äußerste bekannte Planet unseres Sonnensystems, Neptun. Zwei Raumschiffe wurden entsandt, die sich im All zu einem vereinigen sollten, was tatsächlich nie passierte. Eines der Schiffe strandete nämlich in einem Asteroidengürtel, wo sich im Verlauf der Jahre eine technisch hochstehende Zivilisation – die Dysoniki – entwickelte, kommunistisch selbstredend, die bis heute mit ausgewählten Genossen auf der Erde Kontakt hält. Das andere Schiff setzte seine Reise zum Neptun fort und ward fürderhin nicht mehr gesehen. Hörensagen, ein bisschen Legende und ein kryptisches Schreiben ist alles, was von der Fähre geblieben ist. Und um ebendieses irgendwo im, am, um den Neptun verlorene Raumschiff geht es: die Truppe soll den Verbleib und das Schicksal der Verschwundenen klären.

Was für ein gigantisches Spektakel! Während Dietmar Dath sein illustres Personal vorstellt, einen extraterrestrischen Mordanschlag in heißer Actionfilmmanier abfährt, die Raummission und die Geschichte überhaupt voran peitscht, passiert etwas, das den Leser immer wieder aus dem so nett gespannten Bogen der Story kegelt: Sein kognitiv hochgerüstetes Personal unterhält sich nämlich – aber wie! Munter wird da über Musik geplaudert – die Science-Fiction-Oper „Aniara“ von 1959 erfährt da besondere Weihen –, die Linguistik wird fach- und sachkundig beackert und selbstverständlich immer wieder die Mathematik, die Physik und natürlich die Philosophie. Ausgebremst wird der eilige Leser damit, aber auch reich belohnt, denn diese feine Szene, die im Stile eines antiken Dialogs daherkommt, in dem zwei gleichberechtigte Sprecher von unterschiedlichen Standpunkten aus über eine Sache sprechen und beiden bewusst ist, dass es keine definitive Antwort geben wird, ist eines der vielen Filetstückchen des Buches, das so herrlich die Debatten unserer Zeit aufgreift und im Weltall – dem Ort mit dem Überblick, wie eine Figur so treffend feststellt – verhandelt.

Kapital kann man aus dieser Lektüre schlagen, und zwar reichlich. Zugegebenermaßen, die Synapsen glühen, die durchschnittliche naturwissenschaftlich-mathematische Bildung wird bis über die Belastungsgrenze hinaus strapaziert, weil immer wieder noch eine Erläuterung über Wahrscheinlichkeiten, über die Kolmogorow-Komplexität usw. durchexerziert wird. Aber das Ganze ist dann doch eine grandiose Hochleistung des Genres: Wissenschaftliche Fakten werden neu arrangiert, kombiniert, zusammengeschnitten und um eine Gourmetprise Fiction erweitert, sodass einerseits eine phantastische, fast schon „verlässliche“ Story dabei herausspringt, andererseits ein Funke der Begeisterung überspringt, mit der Dath da ans Werk geht. Man möchte weiterdenken, was da geschrieben steht, und hat die süße Gewissheit, dass man kaum jemals heiterer auf seine Wissenslücken hingewiesen wurde!

Johannes Fischer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung

Michael Köhlmeier

Wenn ich wir sage

Residenz Verlag, EUR 18,00

Freundschaft, Familie, Nation: Diese drei Bereiche unseres Lebens formen den Begriff des Wir, so die These, die Michael Köhlmeier seinem Essay voranstellt. Doch was genau meint ein Wir im Kontext von Freundschaft oder Familie? Wie instrumentalisieren Nationen das Wir? In mäandernden Annäherungen, klugen Fragen und blitzlichternden Gedanken zeichnet Köhlmeier ein Vexierbild des Wir, das auch eigenen Assoziationen Raum lässt.

Wortbetrug oder auch Begriffswäsche sind mit im Spiel, wenn Nationalisten die Wärme, die das Wir der Heimat ausstrahlt, auf die abstrakte Größe der Nation übertragen. „Das Wir der Heimat bestimmt, wer dazugehört; das Wir der Nation, wer nicht dazugehört. Die Heimat schließt ein, die Nation schließt aus.“

Doch gibt es überhaupt ein Wir aller Menschen? Können wir das Wir wollen oder ist es naturgegeben? Ein Produkt der Kultur vielleicht? Köhlmeier bezieht im Fragen wie im Antworten Gedanken von Michel de Montaigne und Ralph Waldo Emerson mit ein. Keiner der beiden Philosophen legt in seinen Schriften Begriffe unwiderruflich fest, und das mag einer der Gründe sein, warum sie und ihre Bücher Köhlmeier zu Freunden geworden sind. Das Wir in der Freundschaft wird in seinem Essay übrigens zu einem durchaus bedenkenswerten Moment. Denn wann meint dieses Wir zwei Menschen auf Augenhöhe? Ist in Freundschaften nicht immer wieder der eine oder der andere in der Position des Überlegenen?

Was lässt sich noch alles in der Fülle des Wir fassen? Wir bedeutet alles, was nicht fremd ist. Wenn ein Wir zum Zwang wird – in einer Familie kann dies schnell geschehen – wird die Abgrenzung vom Wir gleichermaßen qualvoll wie überlebensnotwendig. Von großer Leichtigkeit und Intensität ist das Wir, das aus einer gemeinsamen Tätigkeit wie etwa dem Musizieren erwächst. Und überaus schmerzhaft kann ein Wir sein, wenn es den gemeinsamen Verlust eines geliebten Menschen miteinschließt.

Michael Köhlmeier ist dies geschehen, er spricht es aus, gibt sich in diesem Essay immer wieder zu erkennen. Damit relativiert er seine Gedanken zum Wir, macht sie zu persönlichen Beobachtungen – die deswegen nichts von ihrer Klugheit und Relevanz einbüßen – und fordert zum Weiterdenken auf. Unruhe bewahren meint nichts anderes als das.

Susanne Rikl, München

Barbara Klemm

49,80 Euro

Im Gespräch mit Andreas Platthaus

Mittwoch 4. Dezember 2019 20 Uhr

Eintritt Frei

Vier Jahrzehnte war Barbara Klemm als Photographin für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ unterwegs, deren legendäre samstägliche Tiefdruckbeilage sie mit ihren Bildern prägte. Wie kaum eine andere deutsche Photographin hat Barbara Klemm das Zeitgeschehen der letzten Jahrzehnte mit der Kamera begleitet. Ihre Aufnahmen sind zu Schlüsselbildern der Weltgeschichte geworden. Ihre Technik: analog, schwarzweiß, ohne Stativ und Blitz, selbstentwickelte Abzüge ohne Beschnitt auf Barytpapier. Sie kann Geschichten mit einem einzigen Bild erzählen — in einer Intensität und Dichte wie kaum jemand sonst.

Zu ihrem 80sten Geburtstag hat Schirmer/Mosel einen opulenten Band mit 212 Photographien aus den Jahren 1969 bis 2019 veröffentlicht, den wir gemeinsam mit Barbara Klemm und Andreas Platthaus feiern möchten.

Barbara Klemm, 1939 in Münster/Westfalen geboren, trat nach einer Ausbildung in einem Portraitatelier in Karlsruhe ab 1959 eine Stelle als Photolaborantin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an. Sie belieferte die Redaktion bald mit eigenen Bildern, zunächst in freier Mitarbeit, ab 1970 bis Ende 2005 als festangestellte Redaktionsphotographin für Politik und Feuilleton.

Zahlreiche Ausstellungen wurden Barbara Klemms photographischer Arbeit gewidmet, etwa 1991 anlässlich der Eröffnung des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt a. M., 1999 im Deutschen Historischen Museum in Berlin und 2013 eine Retrospektive im Martin-Gropius-Bau in Berlin. Barbara Klemm wurde u. a. mit dem Dr.-Erich-Salomon-Preis für Photographie, dem Hessischen Kulturpreis und dem Max-Beckmann-Preis der Stadt Frankfurt am Main ausgezeichnet. Im Jahre 2010 wurde sie in den Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste aufgenommen.

Andreas Platthaus, 1966 geboren, studierte in Tübingen Rhetorik, Philosophie und Geschichte. Seit 1997 arbeitet er im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ist  seit 2016 Chef des Ressorts Literatur und literarisches Leben.

Die Berufsmoral der Banker

Vortrag und Diskussion mit Claudia Czingon

Campus Verlag, 2019, 34,95 €

Moderation: Sidonia Blättler

18. Novembert 2019, 20 Uhr

Prismen – IfS bei marx & co

Seit der Finanzkrise von 2008 sieht sich das Bankenwesen und mit ihm eine ganze Berufsgruppe vielfach der öffentlichen Kritik ausgesetzt. Einiges ist seither unternommen worden, um eine ähnliche Katastrophe in Zukunft zu verhindern – auch von den Finanzakteuren selbst. Neben neuen politischen Regulierungsinstrumenten sind in den Banken auch eine Reihe von Selbstregulierungsmaßnahmen in Form von Wertekatalogen und Verhaltensstandards entwickelt und eingesetzt worden. Doch welche Spielräume lassen die strukturellen Handlungszwänge im Finanzwesen zu? Claudia Czingon hat mit verschiedenen Akteuren und einigen wenigen Akteurinnen aus dem heterogenen Feld des Banken- und Finanzwesens qualitative Interviews durchgeführt. Sie analysiert ihr berufliches Selbstverständnis, ihre Sichtweisen und moralischen Handlungsorientierungen, sie fragt danach, inwiefern die Erfahrungen der Finanzkrise ihr berufliches Selbstverständnis verändert haben, und sie erkundet Potentiale und Grenzen der normativen Selbstregulierung im Finanzsystem.  Hintergrund des Vortrags bildet das jüngst in der Schriftenreihe des IfS erschienene Buch von Claudia Czingon: Die Berufsmoral der Banker. Potentiale und Grenzen finanzwirtschaftlicher Selbstregulierung. Frankfurt am Main und New York: Campus 2019.

Claudia Czingon, Dr. phil., ist Soziologin und seit 2018 verantwortliche Redakteurin des Leviathan – Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft am Wissenschaftszentrum Berlin. Zu Fragen von Moral und Verantwortung im Bankenwesen hat Claudia Czingon neben der genannten Monografie Die Berufsmoral der Banker eine Reihe von Aufsätzen veröffentlicht, u. a.: mehrere Beiträge (zusammen mit Sighard Neckel) in: Claudia Honegger, Sighard Neckel und Chantal Magnin (Hg.): Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt. Berlin: Suhrkamp 2010; Banking in gesellschaftlicher Verantwortung? Zur Berufsmoral im Finanzwesen (zusammen mit Sighard Neckel), in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 1/2015, 71–84.

Sidonia Blättler, Dr., ist Philosophin und  seit 2006 Wissenschaftliche Referentin am Institut für Sozialforschung, Mitherausgeberin und Redakteurin von WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung,  und Redakteurin der IfS-Schriftenreihe Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie.

Buchempfehlung

Alexander Osang

Die Leben der Elena Silber

Fischer Verlag
Preis 24,00 EUR

Jelena Krasnow ist noch keine drei Jahre alt, als man ihren Vater mitten im russischen Winter in der kleinsten Stadt Russlands pfählt. Wir schreiben das Jahr 1905, noch wartet Jelena an der Schwelle des Hauses auf die Heimkehr des Vaters, noch läuft sie mit dem leeren Korb in Händen, um Holz für den Ofen zu holen, als ein Freund auf den Hof gerannt kommt. Atemlos berichtet er von dem Blutbad, das der Mob angerichtet hat: Gepfählt ist nicht nur Viktor Krasnow, ermordet ist auch der Freund, erschossen auch der Arzt, der sie retten wollte – und Jelena Krasnow flieht zum ersten Mal in ihrem Leben. Wenn wir nach 600 Seiten das Buch von Alexander Osang wieder zuschlagen, wird Jelena noch etliche weitere Male geflohen sein und jedes Mal einen Teil ihres Namens verloren haben: Jelena, Elena, Lena – es sind Die Leben der Elena Silber, geborene Krasnow.

Was Alexander Osang hier erzählt, ist weder ein Einzelschicksal noch eine unerhörte Geschichte. Das gesamte 20. Jahrhundert ist eine Geschichte der großen Flüchtlingsströme. Aber wie Osang die Leben der Elena Silber erzählt, das ist tatsächlich großes Kino. Osang möchte nicht experimentell sein, er möchte nichts Außergewöhnliches präsentieren, die Realität selbst ist verworren und tragisch genug, die Frage nach Täter und Opfer nicht immer zu beantworten.

Als Jelena Mitte zwanzig ist, lernt sie den deutschen Ingenieur Robert Silber kennen, der vom stalinistischen Russland angeworben wurde, um die Netzfabrik auf Vordermann zu bringen. Sie verlieben sich, sie heiraten, sie gründen eine Familie. Vom kleinen Fluss Oka, an dem ihr Heimatdorf Gorbatow lag, zieht Jelena weiter an die Wolga, an die Moskwa und an die Newa, hier kommen drei ihrer fünf Mädchen auf die Welt, bevor Jelena – wir schreiben mittlerweile das Jahr 1936 – wieder fliehen muss, und der Fluss in der neuen Heimat heißt Spree. Statt im stalinistischen Russland lebt die Familie nun im faschistischen Deutschland, dem selbst wiederum Tausende entfliehen. Ein weiteres Mal und noch ein weiteres Mal und dann nochmals wird Jelena Silber umziehen und fliehen, von Sorau nach Pirna und schließlich nach Berlin.

Auf der letzten Flucht ist ihr Mann abhanden gekommen, getürmt oder ermordet oder in Kriegsgefangenschaft geraten, niemand weiß es. Von ihren fünf Töchtern hat Elena Silber zwei überlebt, die kleine Anna starb an Tuberkulose, die tapfere Vera brachte sich um. 1947 war sie es noch gewesen, die die Familie vor dem Tod bewahrte, als Jelena nicht mehr weiterwusste: Sie war mit ihren vier Töchtern im Flüchtlingsheim in Pirna untergekommen, das nur ein paar Jahre zuvor noch Tötungsanstalt für „unwertes Leben“ war. Im Keller lagerte noch das Gift, das nun die Odyssee ihrer Familie beenden sollte. Aber hatte Jelena nicht selbst ihr Kindermädchen in Sorau in den sicheren Tod geschickt, als sie sie nach dem Tod der kleinen Anna entließ? Im Wald lag das Frauenlager Christianstadt. Und war nicht der eigene Mann ein Nazi?

Alexander Osang erzählt in großen Abschnitten aus der Perspektive des Enkels Konstantin Stein aus dem Jahr 2017. Stein ist wie schon sein Vater Filmemacher und vergeblich auf der Suche nach Stoff für einen neuen Film. Schon sein Vater stand – noch zu DDR-Zeiten – hinter der Kamera, drehte Tierfilme, denen regelmäßig systemkritische Botschaften angedichtet wurden. Mittlerweile ist er im Pflegeheim, das Gedächtnis dement.

Es sind die großen Themen des 20. Jahrhunderts, die beinahe nebenbei aufgeworfen werden in diesem Roman, der eben deshalb so eindrucksvoll ist, weil er trotz allem großen Kino, das er liefert, eigentlich sehr bescheiden ist: Natürlich, weiß der Erzähler, bleiben die Leben der Elena Silber letztlich ungreifbar.

Ines Lauffer, autorenbuchhandlung marx & co

Norwegen – das glückliche Land und seine Literatur

Montag, 23. September 2019, 20 Uhr

Veranstaltung mit Frederike Felcht, Radka Stahr und Ruthard Stäblein

Norwegen - Ehrengast der
Frankfurter Buchmesse 2019

Das diesjährige Gastland der Buchmesse Norwegen hat trotz seiner nur fünf Millionen Einwohner schon drei Literaturnobelpreisträger hervorgebracht. Nun scheint ein neues goldenes Zeitalter norwegischer Literatur angebrochen zu sein, und so gibt es auch wieder einen ernsthaften Anwärter auf diese höchste Auszeichnung, den Autor Jan Fosse. Daneben feiern Maja Lunde oder Karl Ove Knausgård internationale Erfolge. Die Literatur unserer nördlichen Nachbarn lohnt es folglich, dass wir uns mit ihrer Geschichte und ihren Neuerscheinungen beschäftigen.

Ausgehend von der Blütezeit um 1900, von Knut Hamsun, Henrik Ibsen und Alexander Kielland, diskutieren die beiden Skandinavistinnen Frederike Felcht und Radka Stahr gemeinsam mit dem Moderator Ruthard Stäblein die wichtigsten Neuerscheinungen und beleuchten typische Aspekte dieser Literatur – wie etwa das autofiktionale Schreiben. Diskutiert werden u.a. die neuesten Romane von Tomas Espedal, Stig Sæterbakken und Mona Høvring  sowie die Graphic Novel von Marta Breen und Jenny Jordahl.

Prof. Dr. Frederike Felcht ist Juniorprofessorin am Institut für Skandinavistik in Frankfurt am Main. Ihr aktueller Forschungsschwerpunkt liegt in der Literatur von 1850 bis 1950.

Mgr. Radka Stahr, Ph.D. studierte Skandinavistik und Germanistik an der Karlsuniversität in Prag, 2018 beendete sie ihre Doktorarbeit über den Einfluss der bildenden Kunst auf das Werk von Karen Blixen und arbeitet aktuell als Juniorprofessorin in der Skandinavistik an der Universität Frankfurt. 

Ruthard Stäblein studierte in Deutschland und Frankreich Germanistik, Romanistik, Komparatistik und Philosophie und beendete sein Studium mit einer Arbeit über Benjamin und Baudelaire an der Sorbonne. Bekannt geworden ist er als Redakteur für den Hessischen Rundfunk und die ARD. Das Gastland Norwegen und seine Autoren hat er schon vor der Buchmesse besucht

Buchempfehlung

François Augiéras

Eine Reise auf den Berg Athos

Aus dem Französischen von Dirk Höfer

Matthes & Seitz Berlin
978-3-95757-719-1
Preis 28,00 EUR

„Was ist das für ein Dorf, wo ich nur Kinder, blutjunge Frauen und Mädchen zu Gesicht bekomme?“ Am Strand von Ierissos, ganz im Osten Griechenlands, spaziert, im Schatten der Eukalyptusbäume, ein junger Toter. Unsicher befragt er seine Begleiterin, wo er sei und wie sich die anderen Toten in seiner Situation verhielten. Wenige, ist die Antwort, wagten die Weiterreise auf den heiligen Berg. Die meisten machten nur kurz Station, um dann wieder ins Reich der Lebenden zurückzukehren.

Der tiefblaue Himmel wölbt sich über dem Dorf, dem weiß leuchtenden Strand aus feinem Sand. Mädchen lachen in den verwunschenen, üppigen Gärten. Gedämpftes Geplauder dringt aus den verschatteten Weinlauben, Kinder spielen ausgelassen. Wie leicht, sich hier zur Rückkehr ins Leben zu entscheiden. Süße Verheißung.

Der junge Tote allerdings will das Jenseits erkunden, das von einem marmornen Berg überragt wird, in dessen dunklen nach Zedernholz duftenden Urwäldern Schlangen und wilde Stiere hausen. In dem in verschwiegenster Gottesfurcht zweitausend Mönche in zwanzig Klöstern und einigen Einsiedeleien leben. Ein Jenseits, das die Identität wie die Zeit infrage stellt, auflöst und dessen Erkundung vielleicht zu höheren Wahrheiten führt.
Leicht wehmütig nimmt der Tote Abschied von seiner Begleiterin, versorgt sich mit dem Nötigsten und setzt mit dem nächsten Boot über, um eine rastlose Wanderschaft auf dem Athos zu beginnen – eine fiebrige Reise zwischen Ich-Auflösung und staunender Naturbetrachtung, zwischen Askese und sexueller Ausschweifung, spiritueller Einsicht und gleißendem Wahnsinn.

Der Heilige Berg Athos ist die einzige Mönchsrepublik der Welt. Eintausendachthundert orthodoxe Mönche leben weltabgewandt auf der schmalen Halbinsel, die im Osten an Chalkidiki anschließt. Frauen ist der Zutritt verboten, weibliche Tiere sind ebenfalls untersagt. Es heißt: Die Abwesenheit alles Weiblichen wird durch die Anwesenheit der Gottesmutter kompensiert und gereiche so dem Weiblichen zur höchsten Ehre.
Der Athos ist autonomes Gebiet und wird von den Äbten der Klöster verwaltet. Dass dieses Gebiet als besonders geheimnisvoll, als Sehnsuchtsort spiritueller Erfüllungen gilt, dass sich Jahr um Jahr Pilger entschließen, dieses unwahrscheinliche Stück Erde zu erkunden, ist naheliegend.

Und so machte sich auch der französische Schriftsteller François Augiéras in den 50er-Jahren auf den Weg, den Athos für sich zu entdecken. Wie lange er die Mönchsrepublik durchstreifte, ist nicht bekannt. Sicher ist nur, dass er seine Erlebnisse in seinem rätselhaften Buch Eine Reise auf den Berg Athos einfließen ließ, in dem er beschreibt, wie ein junger Toter in das Jenseits des Athos kommt, rastlos von Kloster zu Kloster wandert, dabei mehrere Identitäten durchlebt, weil er seiner eigenen durch seinen Tod verlustig gegangen ist und schließlich nach spiritueller Veredelung in radikaler Entsagung sucht. „War ich tot? Träumte ich? Meine Abenteuer auf dem Heiligen Berg waren nur die Folge meiner Neigungen und meiner früheren Leben.“

Im gleichen Maße wie sich die Identität des toten Protagonisten im Laufe seiner Wanderschaft auflöst, wie er zu der Überzeugung gelangt, dass seine Seele eine Vielzahl von Identitäten beheimatet, die er beinahe beliebig wechseln kann, erodiert der Text Genregrenzen und sperrt sich einer genauen Zuordnung: kristallklare Naturbeschreibungen von ausnahmsloser Schönheit und Präzision wechseln mit der Schilderung beinahe mythologischer Szenen ab, spirituelle Gedankengänge, die pantheistische, christliche und buddhistische Ideen in ein religiöses Mash-up verwandeln, münden in sexuelle Eskapaden mit deprivierten Athos-Mönchen. All das wird von der Ungewissheit verrätselt, ob der Protagonist tatsächlich durch das Jenseits wandert oder aber ob er nur von einem Jenseits der regulären Welt spricht, dem Athos als spirituelle Sphäre also, in der die ultimative Selbsterfahrung möglich ist, weil dieses Gebiet dem normalen Lauf der Welt nicht folgt.

„Hinter den Pforten des Todes reichte ein Nomadenlager zu meiner Erquickung aus, denn ich war ein uralter Geist. Meine Einsamkeit, keineswegs dazu angetan, mich zu quälen, gab mir mein wahres, aus Urzeiten stammendes Wesen zurück.“

Ganz gleich welchem Genre man dieses Werk zuordnen möchte, ganz gleich, welche Intention der frühverstorbene Augiéras, der gegen Ende seines Lebens in einer Höhle bei Domme im Périgueux hauste, mit der Niederschrift dieses Textes auch hatte: Die Reise auf den Berg Athos ist ein außergewöhnliches, skurriles Buch, das dank seiner vorzüglichen und feinen Sprache einen Kosmos aus glänzenden, manchmal irre schillernden Bildern entstehen lässt, der irgendwo zwischen psychotischem Wahn und höchster poetischer Kunst angesiedelt ist.

Johannes Fischer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Buchempfehlung

S. Fischer, 24 €
320 Seiten
978-3-10-397279-5

Anne Carson, Rot

Zwei Romane in Versen

Aus dem Amerikanischen von Anja Utler

Das Aufgreifen antiker Stoffe und Figuren ist in der Literatur der Gegenwart und jüngerer Vergangenheit kein unbekanntes Phänomen. Nichtsdestotrotz kann der Zugang, den Anne Carson wählt, nicht nur als neu, sondern auch als einzigartig beschrieben werden. Rot erzählt die Geschichte von Geryon und Herkules. Eine Liebesgeschichte, ein Coming-of-Age Roman, ein Reisebericht und Mythos, aber vor allem ein ungezügeltes Spiel der Sprachbegeisterung von einer Autorin, die in Kanada und den USA bereits zu den wichtigsten Autor*innen der Gegenwart gezählt wird.

Der Mythos, nach welchem Herkules Geryon tötet und dessen Rinderherde entführt und so die zehnte seiner Aufgaben erfüllte, findet sich nur im Vorwort in Carsons eigener Übersetzung des Stesichoros Fragments wieder. Wenn man, um einen ernsthaften Umgang mit dem, was uns von der Antike überliefert ist, auf das Wort (Original-)Treue zurückführen möchte, so gilt diese bei Carson nicht den äußeren Umständen des Mythos. Spielend überführt sie das Schicksal Geryons in das New York City der Gegenwart, wird aus dem Mörder, der unerreichbare Geliebte. Die Freiheiten, die Carson sich in Bezug auf die Neuerzählung nimmt, liegen indes weniger in einer Abwendung begründet als in der konsequenten Weigerung, die Antike und ihre Dichtungen als etwas Versteinertes und Lebloses wahrzunehmen. Dieser Umgang ist auch in Carsons altphilologischen und wissenschaftlichen Arbeiten und Übersetzungen immer wieder lobend hervorgehoben worden. Verbindlich erscheinen für Carson vielmehr die Stimmung und die Poetik des Mythos. Geht Carson über einige Aspekte des Mythos achtlos hinweg, so ist doch ihr Umgang mit ihren Figuren von extremer Einfühlsamkeit geprägt, die an Distanzlosigkeit grenzt.

So wenig zurückhaltend wie Carsons Umgang mit ihren antiken Figuren ist, so kompromisslos und ausladend ist auch ihre Sprache. Der bemerkenswerten Übersetzung der Lyrikerin Anja Utler gelingt es, auch im Deutschen die Leichtigkeit des an Metaphern reichen Stils zu erhalten. Die neue Ausgabe bei S. Fischer führt außerdem erstmals die zwei Romane über Geryon, die von der Autorin mit einem Abstand von 15 Jahren verfasst worden sind, in einem Buch zusammen. Die direkte Gegenüberstellung der beiden Romane ist sehr reizvoll. Sie führen Carsons ununterbrochene Begeisterung für die sich verwandelnde Form und das experimentierende Erzählen vor und machen deutlich, dass auch in Rot der Mythos etwas genuin Lebendiges und Unstetes bleibt. Besonders reizvoll ist die in unterschiedlicher Ausprägung sich durch beide Romane ziehende Versform. Dabei verzichtet Carson auf jede Form des Metrums oder des Reims. Lediglich die abbrechenden Zeilen unterscheiden den Text von Prosa. Der Effekt ist ein doppelter: der Text bleibt flüssig und leicht zu lesen, während seine Setzung die Tragweite des einzelnen Satzes betont.

Das Ineinandergreifen von Prosa und Poesie ist zentral für Carsons gesamtes Werk und das Verhältnis der beiden zueinander bleibt so dunkel und unverständlich, wie Carsons eigenes Zitat, das von ihren Verlegern aus gutem Grund auf Rücken und Einband des Buches gedruckt wurde: „was unterscheidet die Poesie von der Prosa Sie kennen die alten Analogien die Prosa ist ein Haus die Poesie ein Mann in Flammen der ziemlich schnell hindurchrennt“.

Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Endlich Bilderbuchferien!

In den Sommerferien lesen wir Bilderbücher vor.

Dienstags um 16 Uhr und Donnerstags um 10 Uhr.

Für Kindergarten- und Grundschulkinder

Di. 9. Juli 2019, 16 Uhr


Stephanie Schneider
Die Bademeisterbande
Tulipan Verlag
ab 7 Jahre

Do. 11. Juli 2019, 10 Uhr


Wade Bradford / Kevin Hawkes
Wer schnarcht im 13. Stock
Orell Füssli Verlag
Ab 3 Jahre

Di. 16. Juli 2019, 16 Uhr


Katja Gehrmann
Stadtbär
Moritz Verlag
ab 6 Jahre

Do. 18. Juli 2019, 10 Uhr


Lucy Rowland
Wo ist meine Kuscheldecke
Oetinger Verlag
ab 4 Jahre

Di. 23. Juli 2019, 16 Uhr

Jory John
Roberta & Henry
Carlsen Verlag
ab 4 Jahre

Do. 25. Juli 2019, 10 Uhr

Nini Alaska
Hollie & Fux
Tulipan Verlag
ab 4 Jahre

Di. 30. Juli 2019, 16 Uhr

Kerstin Hau
Das Dunkle und das Helle
NordSüd Verlag
ab 4 Jahre

Do. 1. August 2019, 10 Uhr

Jörg Isermeyer
Dieses Tier bleibt jetzt hier
Beltz Verlag
ab 3 Jahre

Wir freuen uns auf Euch.

Schöne Ferien wünschen die Buchhändler*innen aus der autorenbuchhandlung marx&co!

Helfen zwischen Solidarität und Wohltätigkeit

Thomas Gebauer und Christine Unrau im Gespräch mit Greta Wagner

Montag, 8. Juli 2019, 20 Uhr

Prismen – Institut für Sozialforschung bei marx & co

Helfen wird aus einer gesellschaftskritischen Perspektive häufig als unpolitisch oder partikular kritisiert. Es stabilisiere den Status quo, reproduziere symbolische Ungleichheiten und trage nicht zu grundlegenden sozialen Transformationen bei. Wenn Akteur_innen in sozialen Bewegungen »Solidarity, not Charity!« skandieren, meinen sie damit, dass die Unterstützung für marginalisierte Gruppen keine Frage der Barmherzigkeit, sondern des gemeinsamen Kampfes ist. Während wohltätiges Helfen nur die Akte des Gebens und Empfangens umfasst, setzt solidarisches Helfen Reziprozität und Vergemeinschaftung voraus. Wie aber kann Gegenseitigkeit zwischen Helfer_innen und Hilfsempfänger_innen mit ungleicher Ressourcenausstattung gelingen? Diese Fragen treiben Aktive in der kritischen Entwicklungszusammenarbeit, Engagierte in der Unterstützung für Geflüchtete ebenso um wie Sozialwissenschaftler_innen.

Hintergrund des Gesprächs bildet der Themenschwerpunkt »Helfen zwischen Solidarität und Wohltätigkeit« (hg. von Greta Wagner) in WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 1/2019.

Thomas Gebauer ist Menschenrechtsaktivist und Autor. Er studierte Psychologie und Soziologie in Frankfurt, war von 1996 bis 2018 Geschäftsführer der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international und ist seit 2018 Sprecher von deren Stiftung. Thomas Gebauer war einer der beiden Initiatoren der 1997 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten »Internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen«. Kürzlich ist von ihm (zusammen mit Ilija Trojanow) das Buch erschienen: Hilfe? Hilfe! Wege aus der globalen Krise. Frankfurt am Main: Fischer 2018.

Christine Unrau ist Forschungsbereichsleiterin am Käte Hamburger Kolleg/Centre for Global Cooperation Research an der Universität Duisburg-Essen. Sie studierte Regionalwissenschaften Lateinamerika an der Universität zu Köln, wo sie 2017 mit ihrer Dissertation Erfahrung und Engagement. Motive, Formen und Ziele der Globalisierungskritik (Bielefeld 2018: transcript) promoviert wurde. Sie forscht zu Humanitarismus und Mitleid sowie zu politischen Bewegungen im Kontext der Globalisierung.

Greta Wagner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. und Member am Institute for Advanced Study in Princeton. Sie studierte Soziologie an der Freien Universität Berlin und an der Goethe-Universität Frankfurt a. M., wo sie 2014 promoviert wurde. In ihrem laufenden Forschungsprojekt befasst sie sich mit Fragen der Normativität von Solidarität und Wohltätigkeit. Greta Wagner ist Autorin von: Selbstoptimierung. Praxis und Kritik von Neuroenhancement. Frankfurt a. M. und New York: Campus 2017.