2016 wurde Patti Smith 70 Jahre alt. In ihrem neuen Roman
verbindet sie die Ereignisse dieses Jahres zu einer Art literarischem
Spaziergang, der sich ziellos an der US-amerikanischen Westküste
ausdehnt. Die Bilder, die Smith dabei entwirft, besitzen eine gewisse
entschleunigte Strahlkraft. Zeit spielt dabei eine zentrale Rolle; nicht
nur im Hinblick auf ihren eigenen anstehenden runden Geburtstag,
sondern auch im Rückblick auf die Zeit, die sie mit anderen Menschen
geteilt hat. Die Erkrankung zweier ihrer engsten Freunde sind der
Protagonistin Anstoß für Überlegungen zu Nähe und Distanz durch die
Zeiten hindurch und über Räume hinweg. In einem winzigen und
heruntergekommenen Strandcafé trifft die Protagonistin auf einen
rätselhaften Mann namens Ernest. Immer wieder wird er auf ihren Reisen
plötzlich auftauchen und wieder verschwinden. Mit ihm führt sie lange
Gespräche über Bolaño, Pasolini und den Ayers Rock. Obwohl es sich
spürbar um ein autobiographisches Werk handelt, haftet dem Roman nicht
Voyeuristisches an, was auch an dem hohen Anteil phantastischer Elemente
liegen könnte, die oft mit den kunstvollen Fotografien verknüpft sind,
die den Text durchziehen. Sie zeigen nur selten Personen aus Smith’
Leben, häufig hingegen besondere Gegenstände, Wegmarken und Erinnerungen
. Auf biographische Anekdoten verzichtet die Autorin fast ganz.
Patti Smith‘ Stil ist extravagant und wortgewaltig. Und
Brigitte Jakobeits Übersetzung wird dem auf bemerkenswerte Weise
gerecht. Die Bilder, die die Autorin entwirft und die sich um Träume,
Reisen und Zeitlichkeit drehen, sind — auch wenn sie mitunter ins
esoterische zu kippen drohen — faszinierend und oft überraschend. Im Jahr des Affen
ist eine spielerische, nonkonformistische Meditation über Wege und
Wegmarken: „Eine Welt, die für sich gesehen nichts bedeutet, aber auf
jede unaussprechliche Frage im irrsinnigen Stück des frühen Winters eine
Antwort zu enthalten schien.“
„Alle fanden Teetee merkwürdig“, die Kinder und sogar die
Erwachsenen. Dass sie trotzdem irgendwie der gute Geist des Viertels
ist und immer gerade das aus ihrer vielleicht sogar magischen Tasche
hervorholen kann, was ihr Gegenüber gerade braucht – egal ob es ein
Reim-Lexikon oder eine Orangenpresse ist – fällt allen eigentlich erst
auf, als Teetee plötzlich verschwunden ist.
Sara und Saha, die eigentlich beste Freundinnen, gerade
allerdings fürchterlich zerstritten waren, Bene mit den strengen Eltern
und Cosmo, der ganz schön schnell ganz schön wütend werden kann, sowie
sein kleiner Freund Stulle, die schüchterne Lene und Juni, der erst seit
kurzem mit seinen Eltern in Deutschland lebt, schließen einen Pakt, um
die freundlich-schräge Dame wiederzufinden: Parole Teetee!
Im kleinen Lebensmittelladen von Herrn Mansur wird eine geheime
Kommandozentrale errichtet, nachdem klar ist, dass die Polizei sich
nicht um Teetees Verschwinden kümmern wird. Als dann auch noch die
vervielfältigten Such-Plakate wie von Geisterhand über Nacht
verschwinden, ist den Kindern klar, dass sie ihre Suche ab sofort
heimlich und unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen fortsetzen müssen.
Gar nicht so einfach, wenn die Entdeckungen so aufregend sind! Wer hat
Teetee zuletzt gesehen? Der Obdachlose mit den abstehenden weißen
Haaren, der meistens unter einer der Bänke im Park schläft und
eigentlich Herr Obermayer heißt? Oder ist vielleicht sogar Benes Vater
in das Verschwinden der alten Dame verwickelt oder der immer
unfreundliche Zahnarzt Doktor Bernius? Dass Vieles oft anders ist, als
es auf den ersten Blick scheint, klärt sich nach und nach auf.
Die bereits mehrfach für ihre Kinder- und Jugendbücher ausgezeichnete Autorin Antje Herden hat mit Parole Teetee
erneut eine ebenso spannende wie einfühlsame Geschichte für Kinder ab 9
geschrieben. Viel arbeitende, sehr strenge Eltern, Freundschaftskrisen
oder ein erstes heimliches Verliebtsein kennen wahrscheinlich viele
Kinder. Und dass ein Kind aus einem anderen Land plötzlich neu in die
Klasse kommt, weil es mit seiner Familie in seiner Heimat nicht mehr
leben konnte, werden auch schon einige erlebt haben. Warmherzig und
authentisch schildert Herden den manchmal schönen und manchmal
betrüblichen Alltag unterschiedlicher Kinder, nimmt sie in ihren
Eigenheiten und Sorgen augenzwinkernd ernst.
Und spätestens am Ende des Buches möchte man nichts
lieber, als zu dieser Kinderbande dazu zu gehören und gemeinsam einen
weiteren Fall zu lösen!
Gewöhnlich erkennt man historische Romane an ihren vielen eng gedruckten Seiten und ihren Beschreibungen. Vuillards Der Krieg der Armen
über die Bauernaufstände im 16. Jahrhundert ist ein historischer
Romanessay anderer Natur: Der Autor konzentriert sich auf Wendepunkte
der Geschichte und konfrontiert Leserin und Leser ganz ohne epische
Breite mit Stimmungen, Geräuschen, Gerüchen, Klängen, Texturen und
Landschaften.
Der Krieg der Armen stellt das Handeln
einflussreicher Figuren der Reformation in den Vordergrund: Thomas
Müntzer und seine Vorläufer John Wyclif und Jan Hus. Anders als Martin
Luther vertritt Thomas Müntzer, geboren 1489 in Stolberg im Harz, die
Position, auch mit Gewalt gegen die Unterdrückung der Armen durch Kirche
und Fürsten kämpfen zu müssen. Müntzers Entrüstung über die
Ungerechtigkeit der Römischen Kirche beginnt im Alter von elf Jahren,
als sein Vater gehängt wurde. Er wird Prediger in Zwickau, Prag,
Allstedt und Mühlhausen, wo er vor den Armen leidenschaftlich – und vor
allem nicht in Latein, sondern auf Deutsch – predigt und sie auf die
Ungerechtigkeit ihrer Situation stößt. Er wiegelt die Bauern auf und
fördert die gewaltsamen Aufstände in Hessen, Oberfranken, Thüringen und
Sachsen. Nach der Niederlage der Bauern in der Schlacht bei
Frankenhausen wird Müntzer enthauptet.
Der Roman erzählt die Geschichte der frühneuzeitlichen Bauernaufstände als Willensgeschichte eines entschlossenen Mannes, den seine Überzeugung das Leben kostet, der aber Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit in die Welt bringt. Sozialkitsch, möchte man meinen, wäre das Buch nicht von ungeheurer literarischer Qualität. Das Genre, das Vuillard hier bedient, ist wirklich ganz erstaunlich – man könnte es historisches Haiku nennen, wenn die Sprache des Romans nicht so saftig, direkt und radikal wäre. Die Kürze tritt an Stelle der ausführlichen Beschreibungsdichte des historischen Romans. Stattdessen scheint jedes Wort einen ganzen Roman zu entfalten. Beim Lesen scheint es, als könnte keine noch so ausführliche Beschreibung an die Lebendigkeit heranreichen, die Vuillards Lakonie erreicht. Dabei ist hier nichts objektiv: Die Erzählinstanz wird selbst zur handelnden Figur, die wütet, rast, euphorisch jubelt, schimpft und spottet. Es ist genau dieser Erzähler, der die im historischen Präsens erzählte Geschichte lebendig macht, ohne dass die erzählten Figuren tatsächlich plastisch werden. Es gibt dabei auch nicht die geringste Ambivalenz, nicht den Hauch eines Zweifels an der Parteinahme der Erzählstimme für die Aufständischen und gegen die Fürsten. Es istein merkwürdiger Kontrast zwischen Lebendigkeit und Holzschnitt, der den Reiz des Buchs ausmacht.
In dieser ungeheuren, komprimierten Dichte bleibt es
nicht aus, dass das Wort auf sich selbst verweist und somit das
Poetische ins Zentrum rückt. Nicht für die Geschichte also, sondern für
die Literatur lässt sich wünschen, dass Vuillard weiter so radikal in
die Geschichte blickt; und vielleicht wäre das der Beginn einer neuen,
zeitgemäßen Interpretation von „engagierter Literatur“.
Am 12.
Januar dieses Jahres war es genau zehn Jahre her, dass Haiti von einem
Erdbeben der Stärke 7,5 erschüttert wurde, das über 300 000
Menschenleben forderte. In der ohnehin schwachen Infrastruktur des
Landes brauchten Rettungskräfte oft Tage, um zu den Opfern vordringen
und erste Hilfe leisten zu können. Bis heute gibt es in Port-au-Prince
riesige Bereiche, die in Trümmern liegen. Trotz Hilfszusagen in
Milliardenhöhe haben sich die traumatisierte Bevölkerung und die ohnehin
fragile Wirtschaft des Inselstaats nie von dieser Naturkatastrophe
erholt.
James Noël, der zu den wichtigsten Autoren Haitis zählt, hat sich nach mehreren Lyrikbänden in seinem ersten Roman Was für ein Wunder
mit den Geschehnissen von 2010 auseinandergesetzt. In einem verstörend
intensiven Rückblick bringt er unterschiedliche Gesichter des Schreckens
zusammen. Stimmen von Überlebenden, die das Erdbeben beim Spaziergang,
auf der Toilette, oder bei irgendeiner anderen alltäglichen Verrichtung
überraschte, kommen zu Wort. Und immer wieder durchdringt heftige Kritik
an Hilfsorganisationen Noëls Zeilen, Kritik auch an UNO-Soldaten,
die „mit geschwollener Brust, Blauhelm-Reisepass, Blauhelm-Koffer,
ihrem Riesenkopf und den klotzigen Schuhen“ ins Land kamen und
zusätzlich zu den Hilfsgütern die Cholera einschleppten, die Monate nach
dem Beben weitere Tausende von Opfern forderte.
Neben die beklemmenden Bilder des Erdbebens stellt der
Autor die stark sexuell geprägte Beziehung des Protagonisten zu Amore,
einer Italienerin, die zum Zeitpunkt der Katastrophe gerade bei einem
Trinkwasser-Projekt in Haiti arbeitet. Amore ist die Fremde, die als
Freiwillige für unterschiedliche Organisationen arbeitet, nicht aus
diesem Land stammt und ihm vielleicht gerade deshalb helfen kann, sich
mit den Überresten seines Landes vertraut zu machen. Sie steht für das
Überleben. Noël verlässt mit ihr die Trümmer seiner Heimat, fliegt mit
ihr nach Rom und kehrt erst Jahre später zurück.
Manche Kapitel des kurzen Büchleins ähneln kunstvollen Wortspielen, andere eher Fieberträumen. „Die Erde hat linkerseits gebebt. Die Erde hat rechterseits gebebt. […] Ich fand keine Worte, als es bebte. Ich nahm den Tod als Musiker auf. Ich summte vor mich hin. Um mich herum hörte ich das Universum in sich zusammenstürzen, meine Stadt war vom Schlag direkt ins Herz getroffen […] Überall Staub, schutzloser, kurzatmiger Staub.“
Kulturell geprägte Voodo-Vorstellungen und Begriffe aus dem französischen Kreol werden von der Übersetzerin Rike Bolte an einigen Stellen mit Fußnoten versehen und so gekonnt übersetzt, dass sie sich elegant in den Sprachfluss einfügen. Im Vorwort der Übersetzerin erfahren wir aber auch, was wir manchmal bei übersetzter Literatur vergessen, nämlich, dass bestimmte Bereiche kultureller Vorstellungswelten zuweilen unübersetzbar bleiben.
Noëls poetische Verarbeitung des haitianischen Traumas fordert seine LeserInnen auf unterschiedlichen Ebenen heraus. Der Roman Was für ein Wunder, der mit seinem so positiv anmutenden Titel in die Irre führen kann, wurde nicht umsonst vor wenigen Tagen mit einem der Internationalen Literaturpreise ausgezeichnet, die seit 2009 vom Haus der Kulturen der Welt und der Stiftung Elementarteilchen in Berlin verliehen werden. Neben Noël und seiner Übersetzerin wurden in diesem Jahr fünf weitere Autor*innen und ihre jeweiligen Übersetzer*innen ausgezeichnet.
In ihrem
neuen Roman entwirft die französische Autorin Cecile Wajsbrot eine
Dystopie in einer nahen Zukunft. Eine einsame Erzählerinnen-Stimme
spricht Nacht für Nacht Texte über eine neue Gegenwart ein, in der jede
Vergangenheit und jedes Erinnern verboten ist. Ein Setting, das stark an
Samuel Becketts Roman Molloy erinnert. Es ist von einer
Machtübernahme die Rede, von einem Moment, der sowohl Befreiungsschlag
als auch Katastrophe gewesen sein könnte. Die Informationen, die wir
über die neue Gesellschaftsordnung und ihre Machthaber erhalten, sind
denkbar rar. Erzählungen sind aus der Mode gekommen; sind sie älter als
10 Jahre, steht ihr Besitz sogar unter Strafe. Alle Bücher wurden aus
sämtlichen Häusern entfernt. Widerstand gab es wenig, zu verständlich
für jeden scheinbar das von der Erzählerin beschriebene Gefühl, sich mit
der Entledigung des Vergangenen nun endlich dem Wesentlichen und
Zukünftigen zuwenden zu können. Der Eindruck, den wir von der Erzählerin
bekommen, changiert vor dem Hintergrund ihrer vagen Angaben. Ist dieses
neue Regime, von dem die Rede ist, progressiv oder reaktionär? Oder
doch eine im stillen Zimmer selbst ausgeformte Verschwörungstheorie?
Der Widerstand, in dem sie sich mit ihren Aufzeichnungen engagiert,
bleibt ebenso ungreifbar.
Das mag als inhaltliche Zusammenfassung eines Romans kaum
genügen. Doch das Entscheidende dieses Buches liegt nicht in seiner
Handlung, seinem Personal oder seinem sozialen Kontext. Es ist die
minutiöse Ausarbeitung eines Gefühls, dass die Leserin mit der
Erzählerin teilt: eine Art Hilflosigkeit im Angesicht des Unwissens. Die
eigene Haltung und Einschätzung zum Gelesenen verändert sich mit jeder
Seite. Darin liegt einer der größten Stärken des Textes. Immer wieder
glaubt man entschlüsselt zu haben, um wen es sich bei den Machthabern
oder den Widerständlern handeln könnte; bis diese Vermutungen sich
wieder zerschlagen.
Die einzigen Inseln innerhalb dieses Erzählstroms sind
kurze Rekapitulationen von Biographien oder Werken von Autor*innen,
deren Geschichten ebenfalls Zensur und Zerstörung unterworfen waren. Zum
Beispiel die Anstrengungen Nadeschda Mandelstams, die die Gedichte
ihres Mannes im Exil aus dem Gedächtnis niedergeschrieben hat. Sie
bilden kurze Erholungsmomente, für die man unwahrscheinlich dankbar ist.
Wajsbrots faszinierender Text ist eine Studie über
Konturlosigkeit, Unwissen und Hoffnung. Aber vor allem ist es die
Ausarbeitung der Vorstellung einer radikalen Gegenwart, in welcher es
kein Erzählen mehr geben kann. Die genaue Übersetzung durch Anne Weber
lässt die Einfühlung spüren, mit der Cécile Wajsbrot ihre Protagonisten
betrachtet, das Vertrauen, das diese in ihr unsichtbares Gegenüber
setzt, als ebenso notwendig wie fragwürdig erscheinen. Ein großartiges
Buch über Ratlosigkeit, Hoffnung, Skepsis und Erinnerung. Kurz: ein
Buch, dass uns die Gefahren und Möglichkeiten des (unzuverlässigen)
Erzählens vorführt.
73 oder 74 nach Christus. Auf einem Tafelberg am Toten Meer haben sich rund 970 aufständische Juden in eine Befestigungsanlage zurückgezogen, die vor einigen Jahren noch luxuriöser Rückzugsort für Herodes den Großen gewesen ist. Die Situation ist ohne Ausweg, den Belagerten ist klar, dass sie dem Sturm der römischen Truppen nicht werden standhalten können. Tag für Tag, so ist es von der Festung aus zu beobachten, kommt die 8000 Mann starke, eiskalt nach Plan operierende Maschinerie näher, gut geölt durch eiserne Disziplin und turmhohe technische Überlegenheit. Stunde um Stunde häufen Legionäre Erde und Schutt zu einer breiten Belagerungsrampe auf, die bis an die Mauern der Feste führt. Mit unerschöpflichen Kräften, wuchten die römischen Soldaten einen eisernen Belagerungsturm und einen Rammbock an die Mauern. Unter dem nie abreißenden Pfeilhagel ist es den Aufständischen kaum möglich, etwas gegen die gnadenlosen Belagerer auszurichten. Das Schicksal der Eingeschlossenen ist endgültig besiegelt, als die erste Mauer fällt und die zweite, die notdürftig aus Stein, Holz und Schutt aufgerichtet wurde, in Flammen aufgeht. Eleasar ben Ja´ir, Befehlshaber der Festung, richtet sich im Angesichts des Untergangs mit einer ergreifenden Rede an seine Leute, in der er darlegt, dass es besser sei, durch die eigene Hand einen edlen Tod zu sterben, als durch die Römer geschändet, verkauft und vernichtet zu werden. Als die Legionäre über die Trümmer der Mauer ins Innere der Feste steigen, haben sich die belagerten Juden dem Zugriff der Legion, des Imperiums entzogen, indem sie kollektiv Selbstmord begangen haben.
Starker Stoff, der alles bietet, was eine echte Tragödie
bieten muss, und eine der dramatischsten Episoden aus dem Jüdischen
Krieg. Folgt man Flavius Josephus, dem jüdisch-römischer Historiker und
Chronisten, der den Fall Masadas in seinem Buch Der Jüdische Krieg
minutiös schildert, hat sich die Belagerung genau so zugetragen.
Interessant ist allerdings, dass er der einzige antike Autor ist, der
diese Geschichte so ausführlich und mit diesem außergewöhnlichen Ende
erzählt. Es ist mittlerweile weithin bekannt, dass an die antike
Geschichtsschreibung nicht die Maßstäbe wissenschaftlich-objektiver
Berichterstattung angelegt werden dürfen, die heute glücklicherweise in
der Zunft gelten: Immer gab es Herrscher, denen man zu gefallen hatte,
eigene Überzeugungen, die keineswegs zurückgehalten werden mussten.
Aufgrund dieses Umstands unterstellt man diesen antiken Quellen heute sicherheitshalber eine gewisse Tendenz in Sachen Berichterstattung und versucht, Belege für oder gegen diese Berichte zu finden.
Die amerikanische Archäologin und Religionswissenschaftlerin Jodi Magness hat sich in ihrem Buch Masada – Der Kampf der Juden gegen Rom daran gemacht, das Geschehen auf der Bergfeste zu untersuchen. Aber nicht nur das: Mit großer archäologischer und religionswissenschaftlicher Expertise nimmt sie den Leser mit auf eine Reise durch die antike Landschaft in der direkten Umgebung Masadas, zieht, leicht verständlich und wohl geordnet, immer weitere Kreise. Die Feste „Masada“ bildet gewissermaßen den Start- und Endpunkt einer wissenschaftlichen Exkursion in die antike Geschichte der Region, die neben den zentralen Figuren und Orten sehr genau die religiösen und sozialen Spannungen beschreibt, die diesen Teil der alten Welt in besonderem Maße erschüttert haben.
Geschichte ist relevant und wirkt, wenn man sie vor dem Vergessen schützt, immer weiter fort. Das Buch von Jodi Magness ist, bei aller ganz offensichtlichen fachlichen Begeisterung für den Untersuchungsgegenstand, ein großes Plädoyer für den richtigen Umgang mit den spärlichen historischen Fakten. Nie lässt sie sich zu einer ungerechtfertigten Eindeutigkeit hinreißen, „vielleicht“ und „könnte“ sind häufige Wörter, Theorien und Gegentheorien stehen gleichberechtigt nebeneinander.
Und so lässt dieses großartig präzise und kompakte Buch,
das ein Lehrstück an objektiver Wissenschaft genannt werden könnte, den
Leser etwas kritischer auf die großartig-dramatische Erzählung von
Flavius Josephus blicken.
Johannes Fischer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt
Die 1923 in der Bretagne geborene Annette Bemanoir stammt
aus einfachen Verhältnissen. Sie wächst in einem liebevollen Elternhaus
auf. “Glück ist der Grundton ihres Alltags” heißt es, und diesem Glück
verdankt Annette ihren Gerechtigkeitssinn, den Glauben an Freiheit und
Gleichheit und ein unerschrockenes Herz.
Mit neunzehn Jahren – sie ist gerade zum Medizinstudium
nach Paris gegangen – tritt sie der kommunistischen Résistance bei. Als
sie zwei jüdischen Jugendlichen das Leben rettet und damit gegen die
Regeln der “clandestines” verstößt, geht sie nach Lyon, wo sie im
Widerstand der Gaullisten Kurierdienste leistet. Abgeschnitten von allen
persönlicheren Kontakten, von ihrer Familie und dem Mitstreiter Roland,
den sie liebt, erlebt sie das Kriegsende in Marseille. Dass Roland von
ein paar Bauern erschlagen worden ist, erfährt sie erst später.
Nun ist Frieden. Annette heiratet den Arzt und
Kommunisten Jo. Sie schließt das Medizinstudium ab, bekommt Kinder. Aber
der Frieden hält für sie nicht: In den fünfziger Jahren beginnt der
Algerienkrieg, und selbstverständlich ist Annette auf Seiten der
algerischen Unabhängigkeitskämpfer. Sie engagiert sich beim FLN,
wird verraten und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sie kann nach
Tunesien fliehen, allerdings um den Preis, ihre Familie zurück zu
lassen. Dort arbeitet sie als Ärztin. Nachdem Algerien die
Unabhängigkeit erlangt hat, geht sie dort hin, um für die neue Regierung
im Gesundheitsministerium zu arbeiten. Aber das, was sie bereits nach
dem Ende des Weltkriegs erlebt hat, erlebt sie auch hier: Den
rivalisierenden Widerstandsgruppen geht es mehr um die Erlangung der
Macht als um das Wohl der Menschen. Sie muss erneut fliehen – diesmal
vor dem putschenden Militär. Da es in Frankreich immer noch keine
Amnestie für “Terroristen” gibt, landet sie schließlich in der Schweiz.
So viel zur Handlung, die hier nur absolut verkürzt wiedergegeben wird.
Anne Weber hat die über neunzigjährige Annette Beaumanoir
2018 kennengelernt und ihre Geschichte – gestützt auf Gespräche mit ihr
und ihren in Deutschland unter dem Titel Wir wollten das Leben ändern
erschienen Erinnerungen – aufgeschrieben. Man meint, beim Lesen
Annettes Stimme zu hören, aber auch die der Autorin, die das Erzählte,
oft ironisch, kommentiert: Wie verhält es sich mit dem Idealismus, den
Prinzipien und dem Streben nach einer besseren Gesellschaft? Wie viel
Menschlichkeit opfert man den Ideen, über wie viel ist man bereit
hinwegzusehen um des hehren Ziels willen? Was bleibt für diesen Kampf
auf der Strecke?
Annette, ein Heldinnenepos hat Anne Weber das
Buch genannt, und „Epos“ ist hier wörtlich zu nehmen – äußerlich
erkennbar an den ungewöhnlichen Zeilenumbrüchen. Spricht man den Text
laut oder intoniert ihn stumm beim Lesen, erkennt man seinen inneren
Rhythmus und die poetische Struktur. Trotz dieses Kunstgriffs liest das
Buch sich packend, lebendig und wirkt an keiner Stelle gekünstelt. Das
ist eine doppelte Freude – man liest eine temporeiche, atemberaubende
Lebensgeschichte in der Form antiker Heldenerzählungen – ein
stilistisches Wagnis, das Anne Weber wunderbar gelungen ist!